Bullinger - unfreier Wille

 

Heinrich Bullinger

Das Zweite Helvetische Bekenntnis

(Confessio Helvetica Posterior 1566)

 

Bullinger über den unfreien Willen:

 

IX. KAPITEL: DER FREIE WILLE UND DIE ANDERN FÄHIGKEITEN DES MENSCHEN

 

In dieser Sache, die in der Kirche immer vielen Streitigkeiten gerufen hat, lehren wir, dass die Lage oder der Stand des Menschen als ein dreifacher anzusehen sei. Da ist der Stand, in dem der Mensch am Anfang vor dem Sündenfall ge-wesen ist: nämlich unbedingt fehlerlos und frei, so dass er im Guten verharren, sich aber auch für das Böse entscheiden konnte; er hat sich jedoch für das Böse entschieden und hat sich und das ganze Menschengeschlecht mit Sünde und Tod verkettet, wie es bereits ausgeführt worden ist. Darauf ist zu betrachten, wie der Mensch nach dem Sündenfall gewesen ist. Zwar wurde dem Menschen nicht der Verstand genommen oder der Wille geraubt, als ob er nun gar zu Stock und Stein geworden wäre; aber jene Fähigkeiten sind im Menschen so verändert und vermindert, dass sie nicht mehr dasselbe vermögen wie vor dem Sündenfall. Denn der Verstand ist verdunkelt; aus dem freien Willen aber ist ein dienstbarer Wille geworden. Denn er dient der Sünde nicht unfreiwillig, sondern freiwillig. Darum redet man auch von Freiwilligkeit und nicht von Unfreiwilligkeit. Was also das Böse oder die Sünde angeht, so wird der Mensch weder von Gott noch vom Teufel dazu gezwungen, sondern er begeht das Böse aus eigenem Antrieb und hat allerdings in dieser Hinsicht allerfreiesten Willen! Wenn wir allerdings nicht selten beobachten, dass die ärgsten Taten und Pläne der Menschen von Gott verhindert werden, so dass sie ihren Zweck nicht erreichen, so nimmt er doch dem Menschen die Freiheit im Bösen nicht, sondern Gott kommt mit seiner Macht dem zuvor, was der Mensch mit seinem „freien Willen“ anders geplant hat, so wie sich die Brüder Josephs vornehmen, den Joseph zu töten, es aber nicht können, weil durch Gottes Ratschluss etwas anderes beschlossen war. Was aber das Gute und die Tugenden betrifft, so beurteilt der Verstand des Menschen die göttlichen Dinge aus sich selbst nicht recht. Die Evangelien und die apostoli-schen Schriften fordern von einem jeglichen unter uns die Wiedergeburt, wenn wir selig werden wollen. Daher trägt die erste Geburt von Adam her nichts zu unserer Seligkeit bei. Paulus sagt: „Ein natürlicher Mensch aber nimmt die Dinge, die des Geistes Gottes sind, nicht an“ usw. (1. Kor. 2,14). Ebenso sagt er, dass wir nicht geschickt seien, aus uns selbst etwas Gutes zu denken (2. Kor. 3,5). Gewiss ist der Geist oder Verstand der Führer des Willens; aber wenn der Führer blind ist, kann man sich ja denken, wohin auch der Wille gelangt. Darum gibt es für den noch nicht wiedergeborenen Menschen keinen freien Willen zum Guten und auch keine Kraft, das Gute zu vollbringen. Der Herr sagt im Evangelium: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Jeder, der Sünde tut, ist der Sünde Knecht“ (Joh. 8,34). Und der Apostel Paulus spricht: „Das Trachten des Fleisches ist Feindschaft wider Gott; denn es unterwirft sich dem Gesetz Gottes nicht; es vermag das ja auch nicht“ (Röm. 8,7). In den irdischen Dingen ist der Mensch wohl trotz seinem Fall nicht ohne Verstand. Denn Gott hat ihm aus Barm-herzigkeit natürliche geistige Fähigkeiten gelassen, die allerdings weit geringer sind, als was er vor dem Falle besaß. Gott befiehlt auch, dass man diese übe und pflege und gibt dazu die Gaben und das Gedeihen. Und es ist offenbar, dass wir in allen Künsten nichts erreichen ohne den Segen Gottes. Die Heilige Schrift führt bestimmt alle Künste auf Gott zurück. Übrigens schreiben sogar die Heiden den Ursprung der Künste der Erfindung der Götter zu. Endlich ist zu untersuchen, ob und inwiefern die Wiedergeborenen einen freien Willen haben. Bei der Wiedergeburt wird der Verstand erleuchtet durch den Heiligen Geist, so dass er die Geheimnisse und den Willen Gottes erkennt. Und der Wille selbst wird durch den Geist nicht bloß verändert, sondern er wird auch mit den Fähigkeiten ausgerüstet, dass er aus innerem Antrieb das Gute will und es ausführen kann (Röm. 8,1ff.). Würden wir das nicht zugeben, so müssten wir die christliche Freiheit leugnen und die Knechtschaft des Gesetzes einführen. Aber Gott spricht auch durch den Propheten: „Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und es ihnen ins Herz schreiben“ (Jer. 31,33; Hes. 36,26f.). Und der Herr sagt im Evangelium: „Wenn nun der Sohn euch frei macht, werdet ihr wirklich frei sein“ (Joh. 8,36). Auch Paulus schreibt an die Philipper: „Denn euch wurde verliehen, nicht nur an Christus zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden“ (Phil. 1,29), und wiederum: „Ich vertraue ... darauf, dass der, welcher in euch ein so gutes Werk angefangen hat, es vollenden wird bis zum Tage Christi Jesu“ (Phil. 1,6). Ferner: „Denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als das Voll-bringen wirkt“ (Phil. 2,13). Dabei lehren wir, sei zweierlei zu beachten. Erstens: Die Wiedergeborenen handeln bei der Entscheidung für das Gute und beim Tun des Guten nicht nur als Geschobene, sondern selbsttätig. Sie werden nämlich von Gott getrieben, dass sie selber tun, was sie tun. Augustin führt daher mit Recht jene Wahrheit an, dass Gott unser Helfer sei. Man kann aber nur einem helfen, der selber etwas tut. Die Manichäer beraubten den Menschen jeder Selbsttätigkeit und machten ihn sozusagen zu Stock und Stein. Zweitens: In den Wiedergeborenen bleibt Schwachheit zurück. Denn da die Sünde in uns wohnt und das Fleisch in den Wiedergeborenen bis ans Ende unseres Lebens dem Geiste widerstreitet, vermögen sie nicht völlig zu erreichen, was sie sich vorge-nommen haben. Das wird vom Apostel Paulus in Röm. 7 und Gal. 5 bestätigt. Deshalb ist dieser unser freier Wille wegen der Überreste des uns bis ans Ende anhaftenden alten Adams und der angeborenen menschlichen Verderbnis immer schwach. Da nun die Triebe des Fleisches und die Überreste des alten Menschen immerhin nicht so wirksam sind, dass sie das Wirken des Geistes ganz auslöschen, so können deshalb die Gläubigen frei genannt werden, jedoch so, dass sie ihre Schwachheit wohl kennen und sich keineswegs des freien Willens rühmen. Die Gläubigen sollen nämlich stets das Apostelwort beherzigen, das der selige Augustin so oft anführt: „Was hast du aber, das du nicht empfangen hast? Hast du es aber doch empfangen, was rühmst du dich, als ob du es nicht empfangen hättest?“ (1. Kor. 4,7). Dazu kommt, dass nicht immer das geschieht, was wir uns vorgenommen haben. Der Ausgang der Dinge liegt eben in Gottes Hand. Daher bittet Paulus den Herrn, dass er Gelingen zu seiner Reise gebe (Röm. 1,10). Daraus ist auch ersichtlich, wie schwach der freie Wille sei. Übrigens leugnet niemand, dass in äußeren Dingen Wiedergeborene und Nichtwiedergeborene freien Willen haben. Diese Anlage hat der Mensch mit den andern Lebewesen gemein – ist er doch nicht niedriger als sie! –, so dass er das eine will, das andere nicht will. So kann er reden oder schweigen, von zu Hause weggehen oder daheim bleiben usw. Doch ist auch hier Gottes Macht zu beachten, die bewirkt, dass Bileam nicht dahin gelangen konnte, wohin er wollte (4. Mose 24), und Zacharias beim Verlassen des Tempels nicht zu reden vermochte, wie er wollte (Luk. 1). In dieser Hinsicht lehnen wir die Lehre der Manichäer ab, die leugnen, dass der Ursprung des Bösen aus dem freien Willen des gut geschaffenen Menschen gekommen sei. Wir verwerfen auch die Meinung der Pelagianer, die sagen, der gefallene Mensch habe genügend freien Willen, das gebotene Gute zu tun. Beide werden von der Heiligen Schrift widerlegt; denn den Manichäern wird gesagt: „Gott hat den Menschen gut geschaffen“ (1. Mose 1,27; Pred. 7,29-30), und den Pelagianern: „Wenn der Sohn euch frei macht, werdet ihr wirklich frei sein“ (Joh. 8,36).