Bullinger - Gesetz und Evangelium
Heinrich Bullinger
Das Zweite Helvetische Bekenntnis
(Confessio Helvetica Posterior 1566)
Bullinger über Gesetz und Evangelium:
XII. KAPITEL: DAS GESETZ GOTTES
Wir lehren, dass uns durch das Gesetz Gottes der Wille Gottes dargelegt werde, nämlich, was wir tun oder lassen sollen, was gut und gerecht, oder was böse und ungerecht sei. Deshalb bekennen wir, dass das Gesetz gut und heilig sei. Dieses Gesetz ist einerseits durch den Finger Gottes in die Herzen der Menschen geschrieben (Röm. 2,15) und wird Gesetz der Natur genannt, andererseits aber ist es durch den Finger Gottes in die beiden Gesetzestafeln des Moses einge-graben worden und in den Büchern Mose ausführlicher erklärt (2. Mose 20,1ff.; 5. Mose 5,6ff.). Dieses teilen wir um der Klarheit willen ein in das Sittengesetz, das enthalten ist in den zehn Geboten oder in den beiden Tafeln und in den Büchern Mose erklärt wird, das Zeremonialgesetz, das die Zeremonien und den Gottes-dienst festsetzt, und das Rechtsgesetz, das sich mit den staatlichen und wirtschaftlichen Ordnungen befasst. Wir glauben, dass uns durch dieses Gesetz Gottes der ganze Wille Gottes und alle notwendigen Gebote für jeden Bereich des Lebens vollkommen gegeben seien. Sonst hätte der Herr wohl nicht ver-boten: „Ihr sollt nichts hinzutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts davontun ...“. (5. Mose 4,2; 12,32). Er hätte dann nicht geboten, nach diesem Gesetz recht zu wandeln und nicht abzuweichen, weder zur Rechten noch zur Linken (Jes. 30,21). Wir lehren, dieses Gesetz sei den Menschen nicht gegeben, dass sie durch dessen Beobachtung gerecht gemacht würden, sondern dass wir durch seine Anklage vielmehr unsere Schwachheit, Sünde und Ver-dammnis erkennen, und verzweifelnd an der eigenen Kraft, uns im Glauben zu Christus wenden sollen. Deutlich sagt der Apostel: „Das Gesetz bewirkt Zorn“ (Röm. 3,20 und 4,15) und: „...durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“. Wenn uns ja das Gesetz gegeben wäre, damit es uns gerecht oder lebendig mache, käme die Gerechtigkeit wirklich aus dem Gesetz. Nun aber hat die Schrift – des Gesetzes nämlich – alles unter die Sünde beschlossen, damit die Verheißung den Gläubigen aus dem Glauben an Christus gegeben werde. Daher ist das Gesetz unser Erzieher auf Christus hin geworden, damit wir aus dem Glauben gerechtfertigt würden (Gal. 3,21ff.). Denn weder konnte noch kann irgendein Mensch dem Gesetz Gottes Genüge tun und es erfüllen, weil unserem Fleisch bis zum letzten Atemzug Schwachheit anhaftet und verbleibt. Wiederum sagt der Apostel: „Denn – um das zu erreichen – was dem Gesetz unmöglich war, weil seine Kraft gelähmt war durch das Fleisch, sandte Gott seinen Sohn in einer Gestalt, die dem sündlichen Fleisch ähnlich war“ (Röm. 8,3). Deshalb ist Christus die Erfüllung des Gesetzes und unsere Vollkommenheit (Röm. 10,4); so wie er den Fluch des Gesetzes aufhob, indem er an unserer Statt zur Schmähung oder zum Fluch wurde (Gal. 3,13), lässt er uns durch den Glauben teilhaben an seiner Erfüllung des Gesetzes, und es wird uns seine Gerechtigkeit und sein Gehorsam angerechnet. Insofern ist also das Gesetz Gottes abgetan, als es uns nicht mehr verdammt und nicht mehr den Zorn Gottes auf uns bringt; denn wir stehen unter der Gnade und nicht unter dem Gesetz. Außerdem hat Christus alle sinnbildlichen Ordnungen des Gesetzes erfüllt. Da nun die Sache selbst vorhanden ist und die Schatten gewichen sind, so haben wir in Christus die Wahrheit und alle Fülle des Lebens. Immerhin verwerfen wir deshalb nicht geringschätzig das Gesetz, indem wir der Worte des Herrn gedenken, da er spricht: „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu er-füllen“ (Mt. 5,17). Wir wissen, dass uns durch das Gesetz die Gestalt von Tugend und Laster dargestellt wird. Wir wissen ferner, dass das geschriebene Gesetz, sofern es durch das Evangelium ausgelegt wird, der Kirche nützlich ist und man deshalb das Lesen des Gesetzes nicht aus der Kirche ausschließen darf. Denn war auch das Angesicht des Moses mit einer Decke verhüllt, so betont doch der Apostel, dass die Decke durch Christus weggenommen und beseitigt werde. Wir verwerfen demnach alles, was alte und neue Irrlehrer gegen das Gesetz gelehrt haben.
XIII. KAPITEL: DAS EVANGELIUM JESU CHRISTI; DIE VERHEISSUNGEN; GEIST UND BUCHSTABE
Dem Gesetz steht das Evangelium gegenüber. Denn während das Gesetz Zorn wirkt und den Fluch ankündigt, predigt das Evangelium Gnade und Segen. So sagt auch Johannes: „Das Gesetz ist durch Mose gegeben worden, die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus gekommen“ (Joh. 1,17). Indessen ist es nichtsdestoweniger sicher, dass auch diejenigen, die vor der Gesetzgebung und die unter dem Gesetz gelebt haben, nicht ganz ohne Evangelium waren. Sie besaßen nämlich schon herrliche evangelische Verheißungen, wie zum Beispiel: „Der Same des Weibes wird der Schlange den Kopf zertreten“ (1. Mose 3,15). „Mit dem Namen deines Stammes werden sich Segen wünschen alle Völker der Erde“ (1. Mose 22,18). „Nie weicht das Zepter von Juda ... bis dass der Herrscher kommt“ (1. Mose 49,10). „Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, erstehen lassen aus der Mitte deiner Brüder – auf den sollt ihr hören!“ (5. Mose 18,15; Apg. 3,23). Und zwar erkennen wir, dass den Vätern zwei Arten von Verheißungen zuteil wurden, wie sie auch uns geoffenbart sind. Die einen betrafen die gegenwärtigen oder irdischen Dinge, zum Beispiel das Land Kanaan und die Siege, oder heute etwa das tägliche Brot. Die andern bezogen sich einst und beziehen sich noch jetzt auf die himmlischen und ewigen Dinge, nämlich die göttliche Gnade, die Vergebung der Sünden und das ewige Leben durch den Glauben an Jesus Christus. Die Alten hatten also nicht bloß äußerliche und irdische, sondern auch geistliche und himmlische Verheißungen in Christus. Denn Petrus sagt: „In Hinsicht auf diese Seligkeit suchten und forschten die Propheten, die von der für euch bestimmten Gnade weissagten“ (1. Pet. 1,10). Daher hat auch der Apostel Paulus gesagt: „Das Evangelium hat Gott vorher verheißen durch seine Propheten in den heiligen Schriften“ (Röm. 1,2). Daraus geht deutlich genug hervor, dass die Alten keineswegs ohne jegliches Evange-lium gewesen sind. Wenn nun auch unsere Väter auf diese Weise in den Schriften der Propheten Evangelium besaßen, durch das sie im Glauben das Heil in Christus erlangt haben, so nennt man doch im eigentlichen Sinn „Evangelium“ jene frohe und selige Botschaft, durch die uns, der Welt, zuerst durch Johannes den Täufer, dann durch den Herrn Christus selbst, später durch die Apostel und ihre Nachfolger gepredigt worden ist, dass Gott das nun ausgeführt habe, was er seit Beginn der Welt verheißen hat, indem er uns seinen einzigen Sohn geschickt, ja sogar geschenkt habe, und in ihm auch die Versöhnung mit dem Vater, die Vergebung der Sünden, alle Fülle und das ewige Leben. Deshalb wird mit Recht Evangelium genannt: die von den vier Evangelisten niedergeschrie-bene Geschichte, die ausführt, wie dies alles durch Christus geschehen und erfüllt worden sei, ferner, was Christus gelehrt und getan habe, und dass die, die an ihn glauben, alle Fülle des Lebens haben. Ebenso wird die Predigt und das Schrifttum der Apostel, worin sie uns erklären, wie uns der Sohn vom Vater gegeben worden sei und in ihm alles Heil und Leben, mit Recht evangelische Lehre genannt, so dass sie auch heute diesen herrlichen Namen nicht verliert, sofern sie rein verkündigt wird. Jene Predigt des Evangeliums selbst wird vom Apostel Paulus Geist und Dienst des Geistes genannt, darum, weil sie in den Ohren, mehr noch, in den Herzen der Gläubigen kraft des Glaubens, der sie durch den Heiligen Geist erleuchtet, wirksam und lebendig wird. Denn Buchstabe heißt im Gegensatz zum Geist jede äußere Sache, und zwar besonders die Lehre des Gesetzes, die ohne den Geist und den Glauben in den Herzen derer, die nicht im lebendigen Glauben stehen, Zorn wirkt und zur Sünde reizt. Darum wird sie auch vom Apostel Paulus „der Dienst des Todes“ genannt. Hierher nämlich gehört jenes Apostelwort: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2. Kor. 3,6). Falsche Apostel nun predigten das Evangelium, indem sie es mit dem Gesetz vermengten und so verfälschten, als ob Christus nicht ohne das Gesetz selig machen könnte. Solche sollen die Ebioniten gewesen sein, die Anhänger des Irrlehrers Ebion waren, und die Nazaräer, im Altertum auch genannt Minäer. Deren aller Ansichten verwerfen wir und lehren, indem wir das Evangelium rein predigen, d. h. lehren und glauben, dass wir durch den Geist allein und nicht durch das Gesetz gerechtfertigt werden. Darüber wird unter dem Titel „Die Rechtfertigung“ noch eine ausführlichere Erklärung folgen. Obwohl nun die Lehre des Evangeliums, wie sie von Christus zuerst verkündigt wurde, im Vergleich mit der Gesetzeslehre der Pharisäer eine neue Lehre zu sein schien, und obwohl auch Jeremia von einem neuen Bunde geweissagt hat, war sie nicht nur damals schon alt und ist bis heute eine alte Lehre, sondern sie ist überhaupt die älteste Lehre in der Welt – neu wird sie nämlich heute von den Papisten nur genannt, weil sie sie vergleichen mit der Lehre, die sie sich selber zurecht gemacht haben. Gott hat indessen von Ewigkeit her beschlossen, dass die Welt durch Christus selig werden solle, und diesen seinen Vorsatz und ewigen Ratschluss hat er der Welt durch das Evangelium offenbart (2. Tim. 1,9f.). Daraus geht klar hervor, dass die evangelische Religion und Lehre unter allen Lehren, die je gewesen sind, je sind und sein werden, die allerälteste ist. Daher sagen wir, dass alle diejenigen einem übeln Irrtum huldigen und unwürdig von Gottes ewigem Ratschluss reden, die die evangelische Lehre eine neumodische Religion nennen und einen Glauben, der kaum dreißig Jahre alt sei. Auf solche trifft das Wort des Propheten Jesaja zu: „Wehe denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die Finsternis zu Licht und Licht zu Finsternis machen, die bitter zu süß und süß zu bitter machen!“ (Jes. 5,20).