Calvin - Zehn Gebote

 

Johannes Calvin gibt im Genfer Katechismus eine kurze Auslegung der Zehn Gebote:

 

 

2. Vom Gesetz, das heißt, von den zehn Geboten Gottes.

 

SCHÜLER:

Sein Gesetz.

LEHRER:

Was enthält dasselbe?

SCHÜLER:

Es besteht aus zwei Teilen, von denen der eine vier, der andere sechs Gebote enthält. So besteht das ganze Gesetz aus zehn Geboten.

LEHRER:

Von wem rührt diese Einteilung her?

SCHÜLER:

Von Gott selbst, der es dem Moses, auf zwei Tafeln geschrieben, gab, und zu-gleich bezeugte, dass es sich auf zehn Gebote beschränke.

LEHRER:

Welches ist der Inhalt der ersten Tafel?

SCHÜLER:

Die Pflichten der Gottesverehrung.

LEHRER:

Und der zweiten?

SCHÜLER:

Wie wir uns gegen Menschen betragen sollen und was wir ihnen schuldig sind.

LEHRER:

Sage das erste Gebot oder Hauptstück her?

SCHÜLER:

„Höre, Israel! Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland geführt habe, aus dem Diensthause; du sollst keine andern Götter haben vor mir.“

LEHRER:

Erkläre den Sinn dieser Worte.

SCHÜLER:

Der Anfang ist gleichsam eine Vorrede zum ganzen Gesetz. Denn da er sich den Herrn nennt, legt er sich auch das Recht und die Macht bei, zu befehlen. Sodann fügt er hinzu, er sei unser Gott, um sein Gesetz uns angenehm zu machen; denn die Worte sagen so viel, als wenn er sich unsern Heiland nennte. Da er uns aber dieser Gnade würdigt, so ist es billig, dass wir uns ihm dagegen als ein gehorsa-mes Volk beweisen.

LEHRER:

Aber was er gleich darauf von der Befreiung und dem Zerbrechen des Joches der ägyptischen Knechtschaft sagt, geht das nicht insbesondere und ganz allein auf das israelitische Volk?

SCHÜLER:

Ich gestehe es; von ihm ist die Rede. Allein es gibt eine andere Art der Befreiung, welche alle Menschen ohne Ausnahme angeht. Denn er hat uns Alle aus der gei-stigen Knechtschaft der Sünde und der Tyrannei des Teufels errettet.

LEHRER:

Warum erwähnt er dessen in der Vorrede zu seinem Gesetz?

SCHÜLER:

Um uns zu erinnern, dass wir uns der höchsten Undankbarkeit schuldig machen würden, wenn wir uns ihm nicht ganz zum Gehorsam ergäben.

LEHRER:

Was fordert er aber in diesem ersten Gebote?

SCHÜLER:

Dass wir ihm allein die ganze Ehre erweisen, die ihm zukommt, und keinen Teil derselben anders wohin übertragen.

LEHRER:

Welches ist die ihm eigentümliche Ehre, die wir nirgend sonst hinwenden dürfen?

SCHÜLER:

Ihn anzubeten, auf ihn unser Vertrauen zu setzen, ihn anzurufen, kurz, ihm Alles zu erweisen, was seiner Majestät gebührt.

LEHRER:

Warum ist der Ausdruck hinzugefügt: „vor meinem Angesicht“?

SCHÜLER:

Weil nichts so verborgen ist, dass es ihm unbekannt wäre, da er vielmehr die geheimen Gedanken kennt und richtet; es bedeutet, dass er nicht bloß die Ehre des äußern Bekenntnisses fordere, sondern auch die wahre Frömmigkeit des Herzens.

LEHRER:

Wir wollen zum zweiten Gebote übergehen.

SCHÜLER:

„Du sollst dir kein Bildnis, noch irgendein Gleichnis machen weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an, und diene ihnen nicht.“

LEHRER:

Wird überhaupt verboten, Bilder zu malen oder zu schnitzen?

SCHÜLER:

Nein; nur zweierlei wird hier untersagt, Bilder zu machen, um Gott darzustellen, oder um sie anzubeten.

LEHRER:

Warum ist es nicht erlaubt, Gott in einer sichtbaren Gestalt abzubilden?

SCHÜLER:

Weil er, der ewige und unbegreifliche Geist, keine Ähnlichkeit hat mit einem körperlichen, zerstörbaren und toten Dinge.

LEHRER:

Du hältst es also für eine Verletzung seiner Majestät, wenn er auf diese Weise dargestellt wird?

SCHÜLER:

So denke ich.

LEHRER:

Welche Art der Anbetung wird hier verdammt?

SCHÜLER:

Wenn man sich an ein Standbild oder ein Gemälde wendet, um sein Gebet zu verrichten, und sich davor niederwirft, und durch Kniebeugen oder andere Zei-chen ihm Ehre erweiset, als ob Gott selbst zugegen wäre.

LEHRER:

Es ist also nicht so zu verstehen, als würde in diesen Worten jede Maler- und Bildhauerarbeit überhaupt verdammt; uns wird nur verboten, Bilder zu dem Zwecke zu machen, dass wir in ihnen Gott suchen oder verehren, oder was das-selbe ist, sie zur Ehre Gottes verehren, oder sie, auf welche Art es auch sei, zum Aberglauben und zum Götzendienst missbrauchen.

SCHÜLER:

Gewiss.

LEHRER:

Wie werden wir nun dies Gebot anwenden?

SCHÜLER:

Wie Gott in dem vorhergehenden erklärt hat, dass er allein es sei, den man ver-ehren und anbeten soll, so zeigt er jetzt, welches die rechte Art und Weise der Anbetung sei, um uns dadurch von jedem Aberglauben und andern sündhaften und fleischlichen Erfindungen abzulenken.

LEHRER:

Weiter.

SCHÜLER:

Er fügt die Drohung hinzu: „er sei der Herr, unser Gott, ein starker, eifersüchtiger Gott, der die Missetat der Väter heimsuchte an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied bei denen, die ihn hassen.“

LEHRER:

Warum erwähnt er seine „Stärke“?

SCHÜLER:

Er deutet damit an, dass er Macht genug habe, seine Ehre zu verteidigen.

LEHRER:

Was will er mit dem Worte „Eifersucht“ sagen?

SCHÜLER:

Dass er Keinen dulden könne, der ihm an die Seite gesetzt würde. Denn wie er sich uns nach seiner unendlichen Güte geschenkt hat, so will er auch, dass wir sein Eigentum sein sollen. Und das ist die Keuschheit unsrer Seelen, dass sie sich ihm hingeben und ihm gänzlich anhangen; so wie auf der andern Seite ge-sagt wird, dass sie sich mit Ehebruch beflecken, wenn sie sich von ihm zum Aberglauben hinneigen.

LEHRER:

In welchem Sinne ist das gesagt, „dass die Missetat der Väter an den Kindern gerächt werde?“

SCHÜLER:

Um uns desto mehr Furcht einzuflößen, droht er, nicht nur diejenigen zu strafen, die ihn beleidigt haben, sondern dass auch ihre Nachkommenschaft unter dem Fluch sein werde.

LEHRER:

Aber stimmt denn das mit der Gerechtigkeit Gottes überein, dass Jemand für die Schuld des Andern bestraft werde?

SCHÜLER:

Wenn wir den Zustand des Menschengeschlechtes erwägen, so ist diese Frage gelöst. Denn von Natur sind wir Alle dem Fluch unterworfen, und wir dürfen uns über Gott nicht beklagen, wenn er uns diesem Zustande überlässt. So wie er nun seine Liebe gegen die Frommen dadurch zeigt, dass er ihre Nachkommenschaft segnet, so übt er auch seine Rache an den Gottlosen dadurch, dass er ihre Kin-der dieses Segens beraubt.

LEHRER:

Weiter!

SCHÜLER:

Um uns auch durch seine liebenswürdige Leutseligkeit zu locken, verheißt er, „barmherzig zu sein gegen Alle, die ihn lieben und seine Gebote halten, bis ins tausendste Glied.“

LEHRER:

Will er damit sagen, dass die Unschuld eines Frommen allen seinen Nach-kommen, wenn sie auch gottlos sind, Heil bringen werde?

SCHÜLER:

Keineswegs; sondern nur, er wolle seine Güte gegen die Gläubigen so weit ausdehnen, dass er sich ihnen zu Liebe auch gegen ihre Kinder gütig beweise, nicht nur, indem er sie für das gegenwärtige Leben segne, sondern indem er auch ihre Seelen heilige, damit sie zu den Seinigen gezählt werden können.

LEHRER:

Aber es leuchtet ein, dass dies nicht immerfort währe.

SCHÜLER:

Das räume ich ein. Denn so wie er sich die Freiheit vorbehält, sich gegen die Kinder der Gottlosen barmherzig zu zeigen, wenn es ihm gefällt, so hat er auch seine Gnade nicht so an die Kinder der Frommen gebunden, dass er nicht nach seiner Willkür die verwerfen könnte, die er will. Dies geschieht aber unter solcher Einschränkung, dass man einsieht, diese Verheißung sei weder leer, noch unzu-verlässig.

LEHRER:

Warum nennt er hier „das tausendste Glied“, bei der Strafandrohung aber nur „das dritte und vierte“?

SCHÜLER:

Um zu erkennen zu geben, dass er geneigter sei zur Leutseligkeit und Güte, als zur Strenge. Denn so bezeugt er es anderwärts, indem er erklärt, er sei bereit zur Verzeihung, und langsam zum Zorn.

LEHRER:

Wir kommen zum dritten.

SCHÜLER:

„Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.“

LEHRER: Was heißt das?

SCHÜLER:

Es wird verboten, den Namen Gottes zu missbrauchen, nicht nur durch einen falschen Eid, sondern auch durch das Schwören ohne Not.

LEHRER:

Gibt es auch einen rechtmäßigen Gebrauch des Namens Gottes beim Schwö-ren?

SCHÜLER:

Allerdings, wenn es aus triftigen Gründen geschieht, zuerst, zur Bekräftigung der Wahrheit, sodann, wenn die Sache eine solche Wichtigkeit hat, dass es ange-messen ist, zu schwören, um Liebe und Eintracht unter den Menschen zu erhal-ten.

LEHRER:

Aber ist damit nichts weiter gemeint, als die Einschränkung der Eide, durch wel-che der Name Gottes entweiht und seine Ehre gekränkt wird?

SCHÜLER:

Eine Art wird genannt; aber wir werden im Allgemeinen erinnert, den Namen Gottes nie anders zu gebrauchen, als mit Furcht und Demut, und zu dem Zwecke, dass er verherrlicht werde. Denn da er hochheilig ist, so müssen wir uns auf alle Weise hüten, dass es nicht den Schein habe, als schätzten wir ihn ge-ring, oder dass wir Andern Gelegenheit geben, ihn gering zu schätzen.

LEHRER:

Wie wird das geschehen?

SCHÜLER:

Wenn wir über Gott und seine Werke nicht anders denken oder reden, als wie es zu seiner Ehre gereicht.

LEHRER:

Was folgt darauf?

SCHÜLER:

Die Drohung, dass „der nicht ungestraft bleiben werde, der seinen Namen miss-braucht.“

LEHRER:

Da Gott sonst ankündigt, er werde an den Übertretern seines Gesetzes Rache nehmen, was wird hier noch mehr gesagt?

SCHÜLER:

Er hat wollen zu erkennen geben, wie hoch er die Ehre seines Namens hält, damit wir ihn umso höher halten, wenn wir sehen, die Rache bedrohe Jeden, der ihn entweiht.

LEHRER:

Lasst uns zum vierten Gebot kommen.

SCHÜLER:

„Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun; der siebente aber ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. An dem sollst du keine Arbeit tun, noch dein Knecht, noch deine Magd, noch dein Ochs, noch dein Esel, noch der Fremdling, der in deinem Tore wohnt. Denn in sechs Tagen hat Gott den Himmel und die Erde und das Meer, und Alles, was darin ist, vollendet; am siebenten hat er geruht. So hat er den Sabbat-tag gesegnet, und ihn sich geheiligt.“

LEHRER:

Befiehlt er, dass wir sechs Tage arbeiten, und am siebenten ruhen sollen?

SCHÜLER:

Nicht schlechtweg; sondern er gestattet den Menschen sechs Tage zur Arbeit, und nimmt den siebenten aus, auf dass er der Ruhe bestimmt werde.

LEHRER:

Untersagt er uns jede Arbeit?

SCHÜLER:

Dies Gebot hat etwas Besonderes und Eigentümliches. Denn die Ruhe ist ein Teil der alten Zeremonie, und ist daher durch die Ankunft Christi aufgehoben.

LEHRER:

Behauptest du also, dass dies Gebot insbesondere die Juden angehe, und daher nur eine Zeit lang gültig gewesen sei?

SCHÜLER:

Ja, wiefern es die Zeremonie betrifft.

LEHRER:

Wie denn? Ist hier denn noch mehr vorhanden, als die Zeremonie?

SCHÜLER:

Es ist aus drei Gründen gegeben.

LEHRER:

Nenne sie mir.

SCHÜLER:

Die geistliche Ruhe abzubilden, die Kirchenzucht zu erhalten, und den Zustand der Knechte zu erleichtern.

LEHRER:

Was verstehst du unter der geistlichen Ruhe?

SCHÜLER:

Wenn wir von unsern eigenen Werken ruhen, damit Gott sein Werk in uns wirke.

LEHRER:

Ferner, was ist unter der Ruhe gemeint?

SCHÜLER:

Wenn wir unser Fleisch kreuzigen, das heißt, wenn wir unsrer Neigung entsagen, um uns vom Geiste Gottes regieren zu lassen.

LEHRER:

Ist es genug, wenn das an jedem siebenten Tag geschieht?

SCHÜLER:

Nein, ununterbrochen. Denn wenn wir ein Mal angefangen haben, müssen wir unser ganzes Leben hindurch fortfahren.

LEHRER:

Warum ist ein gewisser Tag bestimmt, das anzudeuten?

SCHÜLER:

Es ist nicht nötig, dass die Sache selbst in allen Stücken mit dem Bilde überein-komme; es muss nur so viel Übereinstimmung vorhanden sein, als die Natur des Bildes fordert.

LEHRER:

Warum ist denn der siebente Tag festgesetzt und nicht irgendein anderer?

SCHÜLER:

Diese Zahl bezeichnet in der Schrift etwas Vollkommenes. Daher ist sie geeignet, die Dauer zu bezeichnen. Zugleich zeigt sie an, dass diese geistliche Ruhe in diesem Leben nur anfange, und nicht eher vollkommen sein werde, als bis wir diese Welt verlassen.

LEHRER:

Aber was will das sagen, dass der Herr uns durch sein Beispiel zur Ruhe er-mahnt?

SCHÜLER:

Als er die Schöpfung der Welt in sechs Tagen beendigt hatte, widmete er den siebenten zur Betrachtung seiner Werke. Um uns stärker dazu zu ermuntern, stellt er uns sein Beispiel vor. Denn nichts verdient mehr, dass wir danach stre-ben, als dass wir seinem Bilde ähnlich werden.

LEHRER:

Soll aber die Betrachtung der Werke Gottes immer fortdauern, oder reicht es hin, wenn man ihr aus je sieben Tagen einen widmet?

SCHÜLER:

Es geziemt sich zwar, dass wir uns täglich darin üben; aber um unsrer Schwach-heit willen ist Ein Tag besonders dazu festgesetzt. Und das ist die Zucht, deren ich erwähnte.

LEHRER:

Welche Ordnung ist an diesem Tage zu beobachten?

SCHÜLER:

Dass das Volk sich versammle, um die Lehre Christi zu hören, um an dem ge-meinschaftlichen Gebete Teil zu nehmen, um das Bekenntnis seines Glaubens abzulegen.

LEHRER:

Erkläre nun, was du gesagt hast, dass der Herr durch dies Gebot auch den Zu-stand der Knechte habe erleichtern wollen.

SCHÜLER:

Um denen, die unter der Herrschaft eines Anderen stehen, Erholung zu geben. Auch dies gehört zur allgemeinen Zucht. Denn wenn Ein Tag zur Ruhe bestimmt ist, so gewöhnt sich ein Jeder für die übrige Zeit zur Arbeit.

LEHRER:

Lasst uns sehen, wie weit dies Gebot uns angeht.

SCHÜLER:

Was die Zeremonie betrifft, so behaupte ich, dass sie abgeschafft sei, weil in Christo die Erfüllung da ist.

LEHRER:

Wie das?

SCHÜLER:

Weil durch die Kraft seines Todes unser alter Mensch gekreuzigt wird, und wir erweckt werden zu einem neuen Leben.

LEHRER:

Was bleibt also bei diesem Gebote für uns übrig?

SCHÜLER:

Dass wir die frommen Anstalten, die zur geistlichen Kirchenzucht gehören, nicht vernachlässigen, besonders aber, dass wir die heiligen Versammlungen zur An-hörung des göttlichen Wortes, zur Feier der Sakramente, zum öffentlichen Gebet, wie sie angeordnet sind, fleißig besuchen.

LEHRER:

Und das Bild hat weiter keinen Nutzen für uns?

SCHÜLER:

Doch. Man muss nämlich die dadurch bezeichnete Sache erwägen, dass wir nämlich, da wir Christo einverleibt und seine Glieder geworden sind, von eigenen Werken abstehen und uns ganz der Leitung Gottes überlassen.

LEHRER:

Wir wollen zur zweiten Tafel übergehen.

SCHÜLER:

Sie fängt damit an: „Ehre Vater und Mutter.“

LEHRER:

Was bedeutet hier das Wort „Ehre“?

SCHÜLER:

Dass die Kinder mit Bescheidenheit und Demut ihren Eltern gehorsam und folgsam seien, ihnen Ehrfurcht und Achtung beweisen, ihnen in der Not bei-stehen, und ihnen Dienste leisten. In diesen drei Stücken besteht die Ehre, die man den Eltern schuldig ist.

LEHRER:

Fahre fort.

SCHÜLER:

Es ist mit dem Gebot eine Verheißung verbunden: „Damit deiner Tage viel werden in dem Lande, das der Herr, dein Gott, dir geben wird.“

LEHRER:

Was hat das für einen Sinn?

SCHÜLER:

Dass die, welche ihren Eltern die gebührende Ehre erweisen, lange leben durch Gottes Gnade.

LEHRER:

Da dies Leben so voll von Beschwerden ist, warum verheißt uns dann Gott eine lange Dauer desselben als eine Wohltat?

SCHÜLER:

Von wie vielen Leiden es auch belastet sei, es bleibt doch ein Segen Gottes für die Gläubigen, schon aus der einen Ursache, weil es ein Beweis seiner väter-lichen Liebe ist, dass er sie hier ernährt und erhält.

LEHRER:

Folgt aber daraus im Gegenteil, dass der, welcher schnell und vor dem gewöhn-lichen Alter aus dieser Welt abscheiden muss, den Fluch Gottes trage?

SCHÜLER:

Keineswegs. Vielmehr geschieht es zuweilen, dass Gott die, welche er liebt, umso früher aus diesem Leben abruft.

LEHRER:

Aber wenn er das tut, wie erfüllt er seine Verheißung?

SCHÜLER:

Was uns Gott von irdischen Gütern verheißt, können wir nur unter der Bedingung annehmen: wiefern es zur Wohlfahrt der Seele und zu unserm Heil gereicht. Denn es würde eine sehr verkehrte Ordnung sein, wenn die Rücksicht auf die Seele nicht immer den Vorzug hätte.

LEHRER:

Was aber die betrifft, die den Eltern ungehorsam sind?

SCHÜLER:

Sie werden nicht nur am jüngsten Gericht bestraft werden; sondern auch hier schon wird Gott es an ihrem Leibe ahnden, entweder indem er sie mitten in der Blüte ihres Lebens dahinrafft, oder indem er sie eines schmachvollen Todes sterben lässt, oder auf andere Weise.

LEHRER:

Aber redet die Verheißung nicht eigentlich von Lande Kanaan?

SCHÜLER:

Ja, wiefern sie sich auf die Israeliten bezieht; aber für uns muss dieser Ausdruck in einer weitern Bedeutung genommen werden. Denn welche Gegend wir auch bewohnen, der Herr, dem die ganze Welt gehört, gibt sie uns zum Besitz. LEHRER:

Ist nicht noch etwas von diesem Gebote übrig?

SCHÜLER:

Obgleich die Worte nur vom Vater und von der Mutter lauten, so sind doch alle unsre Vorgesetzten zu verstehen, da das Verhältnis dasselbe ist.

LEHRER:

Welches Verhältnis?

SCHÜLER:

Gott hat sie auf eine höhere Ehrenstufe erhoben. Denn Eltern oder Fürsten oder Vorgesetzte haben ihr Ansehen, ihre Herrschaft, ihre Ehre nur nach der Be-stimmung Gottes, weil es ihm gefallen hat, der Welt diese Einrichtung zu geben.

LEHRER:

Sage das sechste Gebot her.

SCHÜLER:

„Du sollst nicht töten.“

LEHRER:

Wird hier nichts verboten, als Mordtaten zu begehen?

SCHÜLER:

Allerdings; denn Gott, der hier redet, gibt nicht nur Gesetze für äußere Werke, sondern auch für die Regungen des Gemütes, und gerade vorzugsweise für diese.

LEHRER:

Du scheinst sagen zu wollen, es gebe eine Art geheimen Mordes, die Gott uns hier verbietet.

SCHÜLER:

So ist es. Zorn und Hass und jede Begierde zu schaden gilt vor Gott als Mord.

LEHRER:

Ist es genug, wenn wir Niemand hassen?

SCHÜLER:

Keineswegs. Denn indem der Herr den Hass verdammt, und uns verbietet, unsern Nebenmenschen irgendeinen Schaden zuzufügen, zeigt er, dass er von uns auch herzliche Liebe gegen alle Sterbliche und das ernstliche Bestreben fordere, ihnen zu helfen und beizustehen.

LEHRER:

Wir kommen zum siebenten Gebot.

SCHÜLER:

„Du sollst nicht ehebrechen.“

LEHRER:

Was ist der Hauptgedanke?

SCHÜLER:

Dass alle Hurerei verflucht sei vor Gott. Daher müssen wir sie sorgfältig vermei-den, wenn wir uns nicht den Zorn Gottes zuziehen wollen.

LEHRER:

Wird nichts weiter gefordert?

SCHÜLER:

Man muss immer das Wesen des Gesetzgebers erwägen, von dem wir gesagt haben, dass er nicht bei der äußerlichen Handlung stehen bleibe, sondern auf die Gemütsbewegungen sein Augenmerk richte.

LEHRER:

Was begreift das Gebot also noch mehr in sich?

SCHÜLER:

Da unsre Leiber und unsre Seelen Tempel des heiligen Geistes sind, sollen wir beide keusch und rein erhalten, und folglich nicht nur schamhaft sein, indem wir äußere Schändlichkeiten vermeiden, sondern auch im Herzen, in Worten, in der Haltung und den Gebärden des Leibes. Kurz, unser Leib sei rein von aller Un-zucht, die Seele von aller Wollust, so, dass weder der eine, noch der andere Teil unsers Wesens mit dem Schmutze der Unkeuschheit befleckt sei.

LEHRER:

Wir kommen zum achten Gebot.

SCHÜLER:

„Du sollst nicht stehlen.“

LEHRER:

Verbietet es nur die Diebstähle, welche nach menschlichen Gesetzen bestraft werden, oder dehnt es sich weiter aus?

SCHÜLER:

Es begreift alle Arten des Betruges und die schlauen Kunstgriffe, fremdes Gut an sich zu bringen, unter dem Worte Diebstahl. Hier wird uns also verboten, sowohl gewaltsame Angriffe zu tun auf das Vermögen unsrer Nebenmenschen, als auch auf listige und betrügerische Weise die Hand danach auszustrecken, oder auf andere verbotene Art nach ihrem Besitze zu trachten.

LEHRER:

Ist es genug, die Hände von der bösen Tat fern zu halten? Oder wird hier auch die Begierde verdammt?

SCHÜLER:

Man muss immer wieder darauf zurückkommen, dass, da der Gesetzgeber ein Geist ist, er nicht bloß von äußerlichen Diebstählen abhalten wolle, sondern von allen Gedanken und Plänen, die Andern Schaden bringen, und daher vor Allem auch von der Begierde, dass wir nicht wünschen, uns auf Kosten unsrer Brüder zu bereichern.

LEHRER:

Was müssen wir also tun, um diesem Gebote zu gehorchen?

SCHÜLER:

Wir müssen uns bemühen, einem Jeden das Seine zu erhalten.

LEHRER:

Welches ist das neunte Gebot?

SCHÜLER:

„Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“

LEHRER:

Verbietet es nur den falschen Eid vor Gericht, oder überhaupt alles Lügen wider den Nächsten?

SCHÜLER:

Indem eine Gattung genannt wird, stellt es die allgemeine Regel auf, dass wir unserm Nächsten nicht fälschlich Böses nachreden, noch durch Schmähungen und Lästerungen seinem Ruf schaden, oder ihm an seinen Gütern einen Nachteil zufügen sollen.

LEHRER:

Warum geschieht namentlich der öffentlichen falschen Eide Erwähnung?

SCHÜLER:

Um uns einen desto größern Abscheu gegen diese Sünde einzuflößen. Es gibt nämlich zu verstehen, dass, wenn Jemand sich gewöhnt hat, Andere zu schmä-hen und zu verleumden, er leicht dahin kommen kann, einen falschen Eid zu schwören, wenn sich Gelegenheit zeigt, dem Nächsten Schaden zu tun.

LEHRER:

Soll dies Gebot uns nur abhalten, Böses von Andern zu reden, oder auch, Böses von ihnen zu denken und falsche und ungerechte Urteile zu fällen?

SCHÜLER:

Beides wird hier verdammt nach dem vorher angegebenen Grunde; denn was böse zu tun ist vor Menschen, das ist vor Gott auch zu wollen böse.

LEHRER:

Sage also, was überhaupt verlangt wird.

SCHÜLER:

Es wird verboten, dass wir nicht geneigt sein sollen, von unsern Nebenmenschen übel zu denken, noch sie zu verleumden; dagegen wird geboten, dass wir die Gerechtigkeit und Leutseligkeit besitzen sollen, so weit es die Wahrheit erlaubt, Gutes von ihnen zu denken, und ihren Ruf zu verteidigen.

LEHRER:

Sage das letzte Gebot her.

SCHÜLER:

„Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus; du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib oder Knecht oder Magd oder Ochsen oder Esel oder irgend-etwas, das sein ist.“

LEHRER:

Da das ganze Gesetz geistlich zu verstehen ist, wie du schon oft gesagt hast, und die andern Gebote nicht bloß gegeben sind, von äußern Handlungen abzu-halten, sondern auch die Neigungen des Herzens zu bessern, was ist denn hier noch mehr gesagt?

SCHÜLER:

Durch die übrigen Gebote wollte der Herr den Willen und die Neigungen lenken und ordnen; hier aber gibt er auch ein Gesetz für die Gedanken, welche zwar Begierden erwecken, aber nicht zu einem festen Entschluss kommen.

LEHRER:

Behauptest du, dass auch die geringsten Begierden, von denen die Gläubigen beschlichen werden, und die sich in ihrer Seele regen, Sünden sind, auch wenn sie denselben nicht folgen, sondern widerstehen?

SCHÜLER:

Das ist wenigstens gewiss, dass alle bösen Gedanken, wenn auch nicht die Billigung hinzukommt, aus der Sündhaftigkeit unsrer Natur hervorgehen; aber ich sage nur, dass in diesem Gebote die bösen Begierden verboten werden, die das menschliche Herz zwar reizen und locken, es aber nicht zu einem festen und überlegten Entschluss bringen.

LEHRER:

Du meinst also, dass bis dahin zwar die bösen Neigungen, denen die Menschen sich hingeben, so dass sie von ihnen beherrscht werden, verboten sind, hier aber von uns eine solche Reinheit gefordert wird, dass unser Herz keine sträflichen Begierden duldet, die zur Sünde verführen kann.

SCHÜLER:

So ist es.

LEHRER:

Kann man nicht das ganze Gesetz in Kürze fassen?

SCHÜLER:

Ja wohl, wenn man es in zwei Hauptstücke bringt. Das erste ist, „dass wir Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, aus allen Kräften;“ das andere, „dass wir unsern Nächsten lieben, wie uns selbst.“

LEHRER:

Was fasst „die Liebe zu Gott“ in sich?

SCHÜLER:

Dass wir ihn lieben, wie sichs gebührt, Gott zu lieben, dass wir ihn nämlich zu-gleich für unsern Herrn und Vater und Seligmacher erkennen. Daher ist mit der Liebe zu Gott die Ehrfurcht vor ihm verbunden, der Wille, ihm zu gehorchen, und das Vertrauen, das wir auf ihn setzen sollen.

LEHRER:

Was verstehst du unter dem ganzen Herzen, der ganzen Seele und allen Kräf-ten?

SCHÜLER:

Die Stärke des Eifers, dass in uns kein Raum ist für Gedanken, Wünsche und Bestrebungen, welche mit dieser Liebe streiten.

LEHRER:

Was ist der Sinn des zweiten Teils?

SCHÜLER:

Wie wir von Natur geneigt sind, uns selbst zu lieben, so, dass diese Neigung stärker ist, als alle andern, auf gleiche Weise soll die Liebe zu unserm Nächsten so in uns herrschen, dass sie uns ganz und gar regiert und die Richtschnur für alle unsre Entschlüsse und Handlungen ist.

LEHRER:

Was verstehst du unter dem Worte „Nächster?“

SCHÜLER:

Nicht bloß Verwandte und Freunde, oder die sonst mit uns in irgendeiner Verbin-dung stehen, sondern auch Unbekannte, ja, sogar Feinde.

LEHRER:

In welcher Verbindung stehen diese aber mit uns?

SCHÜLER:

Sie sind mit uns durch das Band verknüpft, durch welches Gott das ganze Menschengeschlecht verbunden hat. Dieses Band ist heilig und unverletzlich, und kann durch keines Menschen Verderbtheit zerrissen werden.

LEHRER:

Du behauptest also, wenn Jemand uns hasse, so sei das nur seine Sache, er bleibe nichts desto weniger unser Nächster und müsse von uns so betrachtet werden, weil Gottes Ordnung unverletzlich ist, auf der diese Verbindung beruht?

SCHÜLER:

So ist es.

LEHRER:

Da das Gesetz die Art und Weise zeigt, wie Gott recht verehrt werden soll, müssen wir dann nicht ganz nach der Vorschrift desselben leben?

SCHÜLER:

Das ist gewiss; aber Alle sind so schwach, dass Niemand das, was er soll, voll-ständig erfüllt.

LEHRER:

Warum fordert denn Gott von uns eine Vollkommenheit, die unsre Kräfte über-steigt?

SCHÜLER:

Er fordert nichts, was wir nicht schuldig wären zu leisten. Wenn wir übrigens nur uns bemühen, unser Leben so einzurichten, wie es hier vorgeschrieben wird, so hat der Herr Nachsicht mit dem, was uns fehlt, auch wenn wir noch fern sind vom Ziel, das heißt, von der Vollkommenheit.

LEHRER:

Sprichst du von allen Menschen überhaupt oder nur von den Gläubigen? SCHÜLER:

Wer noch nicht vom Geiste Gottes wiedergeboren ist, der ist nicht im Stande, auch nur mit dem kleinsten Pünktchen im Gesetze den Anfang zu machen. Aber wenn wir auch zugäben, dass Jemand gefunden würde, der dem Gesetze zum Teil gehorcht, so könnten wir doch nicht der Meinung sein, dass er es vor Gott befolgt habe. Denn für verflucht erklärt er Alle, die nicht Alles erfüllen, was darin enthalten ist.

LEHRER:

Daraus lässt sich schließen, dass, so wie es zweierlei Menschen gibt, auch das Gesetz eine zweifache Bestimmung hat.

SCHÜLER:

Allerdings. Denn bei den Ungläubigen bewirkt es nichts, als dass es ihnen alle Entschuldigung vor Gott raubt. Das deutet Paulus an, wenn er es „ein Amt des Todes und der Verdammnis“ nennt. Bei den Gläubigen dient es zu einem ganz andern Zweck.

LEHRER:

Zu welchem?

SCHÜLER:

Zuerst, dass sie daraus sich überzeugen, die Gerechtigkeit könne durch Werke nicht erlangt werden, wodurch sie Demut lernen; und das fordert sie auf, in Christo ihr Heil zu suchen. Sodann verlangt es von ihnen mehr, als sie leisten können, wodurch sie angetrieben werden, Gott um Kraft zu bitten, zugleich aber auch gemahnt an ihre immerwährende Schuld, damit sie sich nicht dem Stolz überlassen. Endlich ist es ihnen gleichsam ein Zügel, der sie in der Furcht Gottes erhält.

LEHRER:

Obgleich wir nun in dieser irdischen Wallfahrt dem Gesetze niemals Genüge tun, so dürfen wir es doch nicht für überflüssig halten, dass es eine so unbedingte Vollkommenheit von uns fordert. Denn es zeigt uns das Ziel, nach dem wir stre-ben sollen, damit jeder von uns sich bestrebe, nach dem Maße der ihm erteilten Gnade sein Leben zur höchsten Vollkommenheit zu bilden und allmählich immer größere Fortschritte zu machen.

SCHÜLER:

So denke ich.

LEHRER:

Haben wir an dem Gesetz eine vollkommene Richtschnur der Gerechtigkeit? SCHÜLER:

Allerdings, indem Gott nichts von uns verlangt, als dass wir demselben folgen, dagegen aber verwirft und verschmäht, was wir ohne sein Gebot unternehmen; denn ihm ist kein anderes Opfer angenehm, als Gehorsam.

LEHRER:

Was sollen also die vielen Ermahnungen, Vorschriften, Erinnerungen der Pro-pheten und Apostel?

SCHÜLER:

Sie sind weiter nichts, als Erklärungen des Gesetzes, die uns nicht sowohl von der Befolgung des Gesetzes abziehen, als vielmehr dazu hinführen.

LEHRER:

Schreibt es aber nichts in Ansehung des besondern Berufes eines Jeden vor?

SCHÜLER:

Da es befiehlt, einem Jeden zu geben, was ihm gebührt, so ist leicht daraus ab-zunehmen, was Jeder für sich in seinem Stande und in seiner Lebensweise zu tun habe. Man findet auch, wie gesagt, in der Schrift hin und wieder zerstreut die Erklärungen einzelner Gebote. Denn was hier der Herr der Hauptsache auch in wenig Worten zusammengefasst hat, das erklärt er an andern Stellen ausführ-licher und vollständiger.