Hutter - Gesetz und Evangelium

 

Leonhard Hutter (1563-1616): Inbegriff der Glaubens-Artikel aus der heiligen Schrift und den symbolischen Büchern zusammengestellt (Compendium locorum theologicorum ex scripturis sacris et libro concordiae), Leipzig 1837

 

Leonhard Hutter über Gesetz und Evangelium:

 

Zehnter Artikel. Vom Gesetz Gottes.

 

1. Wie vielfach ist das Gesetz Gottes?

 

Dreifach: das Zeremonial-Gesetz, das gerichtliche Gesetz, und das Sittengesetz.

 

2. Was ist das Zeremoniell-Gesetz?

 

Es ist die äußerliche Ordnung von den Opfern, und des ganzen levitischen Gottesdienstes, durch welchen nicht allein das jüdische Volk von andern Völkern unterschieden, sondern auch (S. 65) Christus mit seinen Wohltaten vorgebildet, und durch den Glauben den Auserwählten und Gläubigen wahrhaft angeeignet wurde.

 

+ 3. Ist, und warum ist das Zeremonial-Gesetz jetzt abgetan?

 

Es ist jetzt abgetan, 1) weil Gott selbst wollte, dass es nur für eine gewisse Zeit und allein für das israelitische Volk heilig sein sollte, indem er öfter im zweiten und dritten Buch Mosis diese Worte wiederholt: dies sollt ihr halten in euern Geschlechtern. 2) Weil das Zeremonial-Gesetz nur das Vorbild und der Schatten war auf Christum, welcher mit der Zeit geboren werden sollte. Nachdem nun dieser in das Fleisch gekommen, mussten jene Schatten und Vorbilder aufhören. Hebr. 10,1. „Das Gesetz hat den Schatten von den zukünftigen Gütern, nicht das Wesen der Güter (des Leibes und Blutes Christi) selbst.“ 3) Weil Gott selbst einen neuen Bund verheißen hat, Jerem. 31,31: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund machen.“ „Indem er sagt: Ein neues; macht er das erste alt.“ Hebr. 8,13. Melanchth. in den Artik. und im Exam.

 

4. Was ist das gerichtliche Gesetz?

 

Es ist die bürgerliche Verfassung, welche die Art und Weise vorschreibt, nach welcher die öffentlichen Gerichte und die äußerliche Zucht unter dem israeliti-schen Volke gehalten werden sollte.

 

+ 5. Ist denn auch dieses Gesetz abgetan?

 

Ja; und zwar 1) weil es ebenfalls nur für eine gewisse Zeit, und einen bestimmten Staat, den jüdischen nämlich, angeordnet war. 2) Weil der jüdische Staat nur bis auf Christum währen sollte: so konnte deshalb auch dieses Gesetz nicht be-ständig sein. 1 Mos. 49,10: „Es wird das Zepter nicht von Juda entwendet werden, noch ein Meister von seinen Füßen, bis dass der Held, d. i. Christus, komme.“ 3) Weil das Evangelium alle bürgerliche Ordnungen, wenn sie nur dem göttlichen Willen und der Billigkeit gemäß sind, nicht aufhebt. Matth. 22,21: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gotte, was Gottes ist.“ Röm. 13,1: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott.“ (S. 66)

 

6. Was ist das Sittengesetz, oder die zehn Gebote?

 

Das Sittengesetz ist die von Gott gegebene Lehre, welche vorschreibt, wie wir beschaffen sein, was wir tun und unterlassen sollen: und einen vollkommenen Gehorsam gegen Gott verlangt, und verkündigt, dass Gott denen, welche den vollkommenen Gehorsam nicht leisten, zürne, und, sie mit dem ewigen Tode bestrafe. Melanchth. in den Artt.

 

+ 7. Ist denn das Gesetz nicht von Natur bekannt?

 

Warum also sagest du: es ist die von Gott geoffenbarte Lehre? Das göttliche Gesetz ist zwar in die Herzen der Menschen geschrieben, so dass die mensch-liche Vernunft auf natürliche Weise das Gesetz einiger Maaßen erkennt; allein es ist eine Decke über das menschliche Herz gelegt, wie Paulus spricht: Röm. 2,14. 2 Korinth. 3,13.14., das ist, es hat der falsche Wahn die Gemüter der Menschen eingenommen, als wenn äußerliche und bürgerlich-gesetzliche Werke dem Gesetze Gottes Genüge leisteten. Deshalb war eine neue Offenbarung nötig, welche durch die Bekanntmachung der zehn Gebote vermittelst des Dienstes Mosis in der Wüste geschehen ist. S. 2 Mos. 20,1 ff. S. Apolog. der Augsb. Conf. Art. 2. S. 126. Art. 3. S. 173. Conc. Form. Erkl. Art. 5. S. 981. Art. 6. S. 990.

 

+ 8. Was also verlangen die zehn Gebote?

 

„Nicht allein ein äußerlich ehrbar Leben oder gute Werke, welche die Vernunft einiger Maaßen zu tun vermag: sondern auch etwas Anderes, welches weit über alle Vernunft geht: nämlich, Gott wahrhaft zu fürchten, zu lieben, anzurufen.“ Apolog. Art. 2. S. 126. Conc. Form. Erkl. Art. 5. S. 981.

 

9. Welches ist der Nutzen des Sittengesetzes, und wie vielfach ist er?

 

Der Nutzen des göttlichen Gesetzes ist im Allgemeinen ein dreifacher. Erstens, sofern es angewendet wird auf die bürgerliche Ordnung, damit die äußerliche Zucht und Ehrbarkeit gegen wilde und ungezogene Menschen einiger Maaßen erhalten werde. Zweitens, sofern es zur Erziehung gebraucht wird, damit die Sünder zur Erkenntnis der Sünden gebracht werden. Drittens wird es zur Unterweisung gebraucht, damit die, welche durch den Geist Gottes wieder-geboren, und zu dem Herrn bekehrt sind, und denen schon die Decke Mosis genommen ist, daraus belehrt werden, wie (S. 67) sie in wahrer Gottesfurcht wandeln, und damit eine gewisse, sichere Regel haben, nach welcher sie ihr ganzes Leben einrichten können und sollen. S. Conc. Form. Erkl. Art. 6. S. 988.

 

* 10. Was bedürfen die Wiedergeborenen des Gesetzes, da sie frei sind, und so, wie die Sonne, ohne fremden Antrieb, freiwillig, durch den Trieb des heiligen Geistes tun, was Gott von ihnen fordert?

 

Obwohl die, welche gläubig und wahrhaft zu Gott bekehrt und gerechtfertigt, frei sind von dem Fluch des Gesetzes, und in dieser Rücksicht wahrhaft Freie sind, und genannt werden; so müssen sie sich dennoch täglich im Gesetze des Herrn üben, Ps. 1,2. Denn das Gesetz Gottes ist wie der klarste Spiegel, in welchem der Wille Gottes, und das, was ihm wohlgefällt, deutlich vor unsere Augen gelegt wird.

 

* 11. Aber „den Gerechten ist kein Gesetz gegeben.“ 1 Timoth. 1,9.

 

Zwar ist nicht für den Gerechten, sondern für den Ungerechten das Gesetz gegeben, wie der Apostel bezeugt; doch darf man dies nicht schlechthin so verstehen, als wenn den Gerechten ohne Gesetz zu leben erlaubt sei. Vielmehr ist dies der wahre und rechte Verstand der Worte Pauli: dass das Gesetz die, welche durch Christum mit Gott versöhnt sind, durch seinen Fluch nicht ver-derben; und dass es den Wiedergeborenen durch seinen Zwang nicht beschwer-lich sein kann, sofern sie nach dem inwendigen Menschen am Gesetz Gottes Wohlgefallen haben, und freiwillig tun, was es verlangt. S. Conc. Form. Art. 6. S. 990.

 

* 12. Aber warum haben die Wiedergeborenen den Dienst des Gesetzes nötig?

 

Weil die Erneuerung und Heiligung ihres Gemütes in diesem Leben nur ange-fangen, nicht vollendet wird: so dass der alte Adam ihrer Natur und allen ihren inneren und äußeren Kräften beständig anhängt. S. Conc. Form. Erkl. Art. 6. S. 991.

 

* 13. Beweis' dies aus der heiligen Schrift?

 

Also spricht der göttliche Apostel von sich selbst, als Wiedergeborenen: „ich weiß, dass in mir, das ist, in meinem Fleisch, wohnet nichts Gutes. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstrei- (S. 68) tet dem Gesetz in meinem Gemüte, und nimmt mich gefangen in der Sünden Gesetz.“ Röm. 7,18.19 und 23. Und Galat. 5,17: „Das Fleisch gelüstet wider den Geist, und den Geist wider das Fleisch. Dieselbige sind wider einander, dass ihr nicht tut, was ihr wollt.“ S. Conc. Form. ebend. S. 991. Deshalb bedürfen die Wiedergeborenen nicht nur der beständigen Erinnerung, Lehre und Drohung des Gesetzes, sondern auch seiner Züchtigungen, damit jener Alte aus ihnen herausgetrieben werde, und sie dem heil. Geiste gehorchen, wie geschrieben stehet: „Es ist mir gut, Herr, dass du mich gedemütigt hast, dass ich deine Rechte lerne.“ Ps. 119,71. Und „ich betäube meinen Leib und zähme ihn, dass ich nicht den Anderen predige, und selbst verwerflich werde.“ 1 Kor. 9,27. Und „seid ihr ohne Züchtigung, welcher sie alle sind teilhaftig geworden, so seid ihr Bastarde und nicht Kinder.“ Hebr. 12,8.

 

* 14. Ist auch noch eine andere Ursache, um welcher willen das Gesetz in der Kirche und bei den Wiedergeborenen muss getrieben werden?

 

Ja freilich; denn es kann leicht geschehen, dass auch die Wiedergeborenen, wegen des alten Adams, welcher annoch in allen ihren Kräften drinnen ist, unter dem Vorgeben einer besonderen Demut, einige religiöse Werke erdichten und Gottesverehrung erwählen, die im Worte Gottes nicht geboten sind: oder dass sie sich einbilden und überreden, dass ihr Leben und ihre Werke ganz rein und vollkommen seien. Deshalb hält das Gesetz nicht nur durch Erinnerungen und Drohungen, sondern auch durch Strafen und Plagen den alten Adam in Schran-ken, dass er dem Geist gehorche und sich ihm gefangen gebe. Ja, gleich wie in einem Spiegel, zeigt es, dass bei den Wiedergeborenen in diesem Leben Alles noch unvollkommen und unrein sei; so dass sie mit dem Apostel bekennen müssen: „ob ich mir wohl nichts bewusst bin, so bin ich darinnen doch nicht gerechtfertigt.“ 1 Korinth. 4,4. S. Conc. Form. Erkl. Art. 6. S. 995. Summ. Begr. Art. 6. S. 834.

 

* 15. Aber leistet denn das Evangelium dieses nicht bei den Wiedergeborenen?

 

Zwar tut das Evangelium in diesem Stück sehr viel, aber in ganz anderer Weise, als das Gesetz. Denn das Gesetz schärft zwar ein, es sei Gottes Wille und Befehl, dass wir in einem neuen Leben wandeln; allein Kräfte und Vermögen gibt es nicht, mit welchen wir den neuen Gehorsam anfangen und leisten könnten. Aber der heilige Geist, welcher nicht durch die Predigt des Gesetzes, (S. 69) sondern durch die des Evangeliums gegeben und empfangen wird, der erneuert das Herz des Menschen. S. Conc. Form. Erkl. Art. 6. S. 992.

 

* 16. Tut dies der heilige Geist mittelbar oder unmittelbar?

 

Mittelbar; „denn er brauchet das Gesetz darzu, dass er aus demselben die Wiedergeborenen lehret, und in den zehn Geboten ihnen zeiget und weiset, welches da sei der wohlgefällige Wille Gottes (Röm. 12,2); in welchen guten Werken sie wandeln sollen, die Gott zuvor bereitet hat (Eph. 2,10).“ Ebend.

 

+ 17. Also sind die Werke des Gesetzes und die Werke des Geistes ver-schieden?

 

Gar sehr! dieser Unterschied aber rührt her aus der Verschiedenheit der Men-schen, welche nach dem Gesetz und dem, Willen Gottes zu leben sich bemühen; von denen einige unwiedergeboren, andere wiedergeboren sind.

 

* 18. Wie verhalten sich zu dem Gesetze Gottes die Werke der Unwiederge-borenen?

 

Der unwiedergeborene Mensch, welcher einiger Maaßen nach dem Gesetz Gottes lebt, und des Gesetzes Werke deshalb tut, weil sie auf diese Weise befohlen sind, und welcher solchen Gehorsam entweder aus Furcht vor der Strafe, oder Hoffnung einiger Belohnung leistet; dieser ist noch unter dem Gesetz, als ein Sklave, und seine Werke sind es eigentlich, welche der heil. Paulus Gesetzes-Werke nennt.

 

* 19. Wie verhalten sich der Wiedergeborenen Werke zu dem Gesetz Gottes?

 

Wenn der Mensch durch den heiligen Geist wiedergeboren, und von dem Gesetz, das ist von dem Zwang des Gesetzes, befreit ist, und schon im Geiste Gottes handelt: dann lebt er nach dem unwandelbaren Willen Gottes, der im Gesetz geoffenbart ist, und tut, sofern er wiedergeboren ist, Alles mit freiem und willigem Geist. Und solche Werke dürfen eigentlich nicht Gesetzes-Werke genannt werden, sondern Werke und Früchte des Geistes. Denn diese Menschen sind ferner nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Röm. 6,14. S. Conc. Form. Erklär. Art. 6. S. 994. (S. 70)

 

+ 20. Kann denn das Sittengesetz von den Wiedergeborenen beobachtet oder erfüllet, und also der Mensch gerechtfertigt werden?

 

Er kann es nicht; was ja aus dem schon Gesagten aufs klarste hervorgeht. Denn auch die guten Werke der Wiedergeborenen sind in diesem Leben, wegen der im Fleische klebenden Sünde, unvollkommen und unrein. Und ob sie gleich nach dem inwendigen Menschen tun, was Gott wohlgefällt, so müssen sie doch beständig und unablässig mit dem alten Adam kämpfen, welcher, wie ein wilder und hartnäckiger Esel, immerzu gegen den Geist gelüstet: und deshalb nicht nur durch die Lehre, Ermahnungen und Drohungen des Gesetzes, sondern auch durch seine Plagen und Strafen muss gezähmt werden, so dass viel daran fehlet, dass er könne das Gesetz halten oder erfüllen. S. Conc. Form. a.a.O. S. 996. 21. Auf wie viel Weise hat Christus das Sittengesetz erfüllt? Auf viererlei Weise vorzüglich: 1) indem er den rechten Verstand des Gesetzes dargelegt, Matth. 5. 2) indem er ihm vollkommenen Gehorsam geleistet, Röm. 5,19: „Gleichwie durch Eines Menschen Ungehorsam viele Sünder geworden sind; also auch durch Eines Gehorsam werden viele Gerechte.“ 3) Indem er den Fluch des Gesetzes auf sich genommen; Gal. 3,13: „Christus hat uns erlöset von dem Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns.“ 4) Indem er uns seine Gerechtigkeit und seinen dem Gesetze geleisteten Gehorsam schenkt. 2 Kor. 5,21: „Gott hat Christum, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in ihm die Gerechtigkeit.“

 

Elfter Artikel. Von dem Evangelium.

 

1. Was ist das Evangelium?

 

Das Evangelium ist die von Gott geoffenbarte Lehre, welche voll ist von Trost wegen der Barmherzigkeit Gottes, und der Vergebung der Sünden aus Gnaden durch und wegen des Verdienstes Christi, sobald es der Glaube ergreift. (S. 71) Concord. Form. Summ. Begr. Art. 5. S. 830. „Das Evangelium aber sei eigentlich eine solche Lehre, die da lehret, was der Mensch glauben soll, der das Gesetz nicht gehalten, und durch dasselbige verdammt, nämlich, dass Christus alle Sünde gebüßt und bezahlet, und ihm ohne allen seinen Verdienst erlanget, und erworben habe Vergebung der Sünden, Gerechtigkeit, die für Gott gilt, und das ewige Leben.“ S. 831: „Wenn aber das Gesetz und Evangelium, wie auch Moses selbst ein Gesetz-Lehrer, Christus als ein Prediger des Evangeliums, gegen einander gehalten: glauben, lehren und bekennen wir, dass das Evangelium nicht eine Buß- oder Straf-Predigt, sondern eigentlich anders nichts, denn eine Trost-Predigt und fröhliche Botschaft sei, die nicht strafet noch schrecket, sondern wider das Schrecken des Gesetzes die Gewissen tröstet, allein auf den Verdienst Christi weiset, und mit der lieblichen Predigt, von der Gnade und Huld Gottes, durch Christus Verdienst erlanget, wieder aufrichtet.“ Erklär. Art. 5. S. 984. „Das Evangelium aber ist eine Lehre (nachdem der Mensch das Gesetz Gottes nicht gehalten, sondern dasselbe übertreten, darwider seine verderbte Natur, Gedanken, Worte und Werke streiten, und der Ursachen dem Zorn Gottes, dem Tod, allen zeitlichen Plagen, und der Strafe des höllischen Feuers unterworfen), die da lehret, was der Mensch glauben solle, dass er bei Gott die Vergebung der Sünden erlange, nämlich, dass der Sohn Gottes, unser Herr Christus, den Fluch des Gesetzes auf sich genommen, und getragen, alle unsere Sünde gebüßt und bezahlet, durch welchen allein wir bei Gott wieder zu Gnaden kommen, Verge-bung der Sünden durch den Glauben erlangen, aus dem Tod und allen Strafen der Sünden erlediget, und ewig selig werden. Denn Alles, was tröstet, die Huld und Gnade Gottes den Übertretern des Gesetzes anbietet, ist und heißet eigent-lich das Evangelium, eine gute und fröhliche Botschaft, dass Gott die Sünde nicht strafen, sondern um Christus willen vergeben wolle.“

 

+ 2. Da mehrere Unterscheidungspunkte zwischen dem Gesetz und dem Evan-gelium sind, bitte ich, dass du sie der Reihe nach nennst?

 

Erstens unterscheiden sie sich durch die Erkenntnis (die Art und Weise, wie sie bekannt werden). Denn das Gesetz ist von Natur bekannt, sofern nämlich einige Erkenntnis desselben von Gott dem menschlichen Verstande eingepflanzt und eingegraben ist, Röm. 2,14 und 15: „Denn so die Heiden, die das (S. 72) Gesetz nicht haben, und doch von Natur tun des Gesetzes Werk, dieselbigen, weil sie das Gesetz nicht haben, sind sie ihnen selbst ein Gesetz; damit, dass sie be-weisen, des Gesetzes Werk sei beschrieben in ihren Herzen, sintemal ihr Ge-wissen sie bezeuget, dazu auch die Gedanken, die sich unter einander verklagen oder entschuldigen.“ Das Evangelium aber ist ein Geheimnis, das von der Welt her verborgen gewesen ist. Röm. 16,25.

 

+ 3. Welches ist der andere Unterschied zwischen dem Gesetz und dem Evange-lium?

 

Zweitens unterscheiden sie sich durch den Inhalt: denn das Gesetz hat es mit Geboten zu tun, und lehret, wie wir sein, was wir tun, und was wir unterlassen sollen, 5 Mos. 6,5. Das Evangelium aber geht mit lauter Verheißungen der Gnade um. Joh. 3,16.

 

+ 4. Gib doch den dritten Unterschied zwischen dem Gesetz und dem Evange-lium an?

 

Drittens unterscheiden sie sich durch die Form der Verheißungen. Denn die Ver-heißungen des Gesetzes vergelten nach Verdienst, wo zwischen Arbeit und Lohn ein gerechtes Verhältnis ist. Aber die Verheißungen des Evangeliums sind eitel Gnade, so dass auf unsere Werke nicht im geringsten Rücksicht genommen wird. Röm. 4,4.5. Melanchth. in den Artt.

 

+ 5. Nenne den vierten Unterschied?

 

Viertens unterscheiden sie sich durch den Gegenstand. Denn das Gesetz bezieht sich auf sichere, freche, epikurische, heuchlerische Menschen, wie auch auf den alten Adam, sofern er noch in den Wiedergeborenen die Herrschaft erstrebt, 1 Timoth. 1,9. Gal. 5,17. Das Evangelium aber bezieht sich auf solche, die zer-knirscht und durch das Gefühl und die Furcht des göttlichen Zorns niederge-drückt sind, oder auf die Armen am Geist. Jes. 61,1. Luc. 4,18.

 

+ 6. Nenne den fünften Unterschied?

 

Fünftens unterscheiden sie sich durch die Wirkungen: denn das Gesetz klagt an, schrecket, wirket Zorn und Verdammnis, Röm. 4,15. „Das Evangelium aber ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben.“ Röm. 1,16.

 

+ 7. Über welchen Unterschied vorzüglich wird heut' zu Tage gestritten?

 

Über diesen letzten Unterschied, oder, was dasselbe ist, über die Erklärung des eigentlich so genannten Evangeliums, erhoben in (S. 73) früheren Jahren die Antinomer Streit, indem sie behaupteten, dass das Evangelium eigentlich sei nicht nur die Lehre von der Gnade Gottes, sondern, dass es auch zugleich sei die Predigt von der Buße, welche die Sünde des Unglaubens strafe. S. Conc. Form. Summ. Begr. Art. 5. S. 829.830. Erkl. Art. 5. S. 978.

 

+ 8. Auf diese Weise scheinest du die Apologie der Augsb. Confession eines Irrtums zu beschuldigen, welche im 12. Art. deutlich behauptet, dass die Summe der Predigt des Evangeliums sei, Sünde zu strafen und Vergebung der Sünde anzubieten?

 

Nicht allein die Apologie der Augsb. Confess., sondern auch selbst der sel. Luther und andere rechtgläubige Theologen haben also geschrieben und gelehrt, aber in einem ganz andern und verschiedenen Sinn, als nachher die Antinomer diese Redensarten gebrauchten. Denn die Apologie und andere brauchen das Wort „Evangelium“ im Allgemeinen für die ganze christliche Lehre; nicht aber im besonderen Sinne, wie es die Antinomer fassten. Conc. Form. Erkl. S. 977.

 

* 9. Ich sehe, dass die Entscheidung dieses Streites aus der Doppelsinnigkeit der Worte zu nehmen ist: bitte, du wollest sie deshalb erklären?

 

Es begegnet uns eine zwiefache Doppelsinnigkeit: die eine ist die des Wortes „Evangelium;“ die andere die des Wortes „Buße.“ Das Wort Evangelium nämlich wird sowohl in der heil. Schrift, als auch in den Schriften der Alten und Neuern auf zweierlei Weise gebraucht und gefasst: denn erstens bezeichnet es die ganze Lehre Christi, welche er während seines Amtes auf dieser Erde vorgelegt, und im Neuen Bunde vorzutragen befohlen hat, und welche des Gesetzes Erklärung und die Verkündigung der Gnade Gottes umfasst. S. Conc. Form. Summ. Begr. Art. 5. S. 830. Erkl. Art. 5. S. 978. So wird es Marc. 1,1 genommen: „Dies ist der Anfang des Evangelii von Jesu Christo, dem Sohne Gottes.“ V.4 „Johannes war in der Wüste, taufte und predigte von der Taufe der Buße, zur Vergebung der Sünden.“ Marc. 16,15: „Prediget das Evangelium aller Kreatur.“ Zweitens aber wird das Wort Evangelium in einer andern, und zwar seiner eigentlichsten Bedeutung gebraucht, sofern es dem Gesetze gerade entgegen-gesetzt wird: und bezeichnet die frohe Botschaft von der gnädigen Vergebung der Sünden um Christi willen. Und in dieser Rücksicht unterscheidet Christus selbst diese (S. 74) zwei Lehrgattungen von einander, wenn er Marci 1,15 spricht: „Tut Buße und glaubet an das Evangelium.“

 

* 10. Gib nun die Beziehung dieses Unterschiedes auf den vorliegenden Streit an?

 

Wenn das Wort „Evangelium“ im weiteren Sinne, und ohne den Unterschied des Gesetzes und Evangeliums, von der ganzen Lehre Christi genommen und gebraucht wird, so ist die Erklärung des Evangeliums, dass es sei die Predigt von der Buße und Vergebung der Sünden, wahr; wenn aber Gesetz und Evangelium, so wie Moses selbst, als Lehrer des Gesetzes, und Christus, als Lehrer des Evangeliums, unter sich verglichen werden, und so das Evangelium in seiner besonderen Bedeutung gebraucht wird: dann ist das Evangelium nicht die Predigt von der Buße, welche die Sünden straft, sondern ist eigentlich nichts Anderes, als die fröhlichste Botschaft und Predigt voll Trostes, welche nicht strafet oder schrecket, sondern die Gewissen gegen die Schrecken des Gesetzes tröstet, sie zu dem alleinigen Verdienst Christi aufblicken lässt, und mit der süßesten Verkündigung der Gnade und Huld Gottes, welche durch das Verdienst Christi erlangt ist, sie wiederum aufrichtet. Melanchth. in den Artt.

 

* 11. Auf wie vielerlei Weise wird das Wort „Buße“ in der heiligen Schrift ge-braucht?

 

Das Wort „Buße“ hat in der heil. Schrift nicht immer eine und dieselbe Bedeu-tung. Denn an einigen Stellen der Schrift wird es für die ganze Bekehrung des Menschen zu Gott genommen, als, wenn Christus sagt Luc. 13,3: „So ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch also umkommen.“ Luc. 15,7. „Es wird Freude im Himmel sein über Einen Sünder, der Buße tut.“ Matth. 3,2. „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe.“ Luc. 3,8. „Tut rechtschaffene Früchte der Buße.“ 2 Petr. 3,9. „Gott will nicht, dass Jemand verloren werde, sondern dass sich jedermann zur Buße kehre.“ Dann aber wird es in andern Stellen der Schrift nur teilweise genommen, und bezeichnet nur einen Teil der Bekehrung, nämlich wahre Reue und Leid, oder die ernstliche Erkenntnis der Sünden. Conc. Form. Erkl. Art. 5. S. 980.

 

*12. Wie kann ich wissen, wo das Wort „Buße“ allgemein, oder teilweise ge-nommen wird?

 

Teilweise wird es dann genommen, wenn Buße und Glaube, oder Buße und Vergebung der Sünden verbunden stehen, wo (S. 75) „Buße tun“ nichts Anderes bezeichnet, als die Sünden wahrhaft erkennen, ernstlich Leid tragen, und künftighin von den Sünden abstehen, Marc. 1,15: „Tut Buße und glaubet an das Evangelium.“ Luc. 24,47: „Er muss predigen lassen – Buße und Vergebung der Sünden.“ Apost. Gesch. 20,21: „Ich habe bezeuget die Buße zu Gott und den Glauben an unsern Herrn Jesum Christum.“

 

* 13. Gib die Beziehung auch dieser Unterscheidung auf den gegenwärtigen Streit an?

 

Wenn das Wort „Buße“ im ersteren Sinne genommen wird, so bezieht es sich auf die Lehre des Gesetzes und Evangeliums zugleich: aber in verschiedener Rück-sicht. Im letzteren Sinne aber bezieht es sich allein auf das Gesetz: durch welches allein Erkenntnis der Sünden kommt. Röm. 3,20. Conc. Form. a. a. O.

 

* 14. Kann denn auch das Gesetz den Unglauben strafen, von welchem es doch nichts weiß?

 

Ja freilich; denn das Gesetz straft den Unglauben, sofern es jeden Zweifel oder Misstrauen an irgend einem Worte Gottes, also auch am Wort des Evangeliums straft, anklagt und verdammt. Conc. Form. Erkl. Art. 5. S. 984.