August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868):
Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik.
II. Wissenschaft.
Die Theologie geht aus – oder soll ausgehen – von dem Ganzen, Vollen, Gewissen, von der vollen Persönlichkeit des lebendigen Gottes, und geht hin — oder soll hingehen – in das Ganze, in die volle Persönlichkeit des Menschen. Nicht von einzelnen Taten und Offenbarungen Gottes geht sie aus, sondern von der ewigen, vollen und ganzen Persönlichkeit Gottes; nicht von Worten und Wundern und einzelnen Erweisungen des ewigen Gottessohns geht sie aus, sondern von der lebendigen Person des Gottmenschen in ihrer Ganzheit und Ungebrochenheit; und eben so ist ihr Ziel nicht das Einzelne am Menschen, nicht sein Leib, nicht seine Seele, nicht sein Geist allein, geschweige denn sein Erkennen oder sein Denken, sein Fühlen oder sein Wissen, sondern der ganze Mensch in seiner lebendigen Einheit. Sie ist zu vergleichen dem unerschöpflichen Wasservorrat im Gebirge, aus dessen unergründlichen geheimen Brunnenkammern tausende von Quellen hervorbrechen aus tiefstem innerem Naturdrange, und hinabgehen in die Täler und Ebenen, dahinströmend als Bäche und Flüsse, zu Seen sich sammelnd und in mächtigen Sprudeln aufsteigend, bis der geheimnisvolle (S.12) Zug nach der Höhe, nach den Bergen aus denen sie gekommen, nach dem Ursprung ihres Lebens, sie auflöst in Nebel, Wolken und Regen, so dass sie dann wieder niederträufen auf die Bergeshäupter, aus denen sie einst als Quellen hervorgegangen sind. Dieselbe Kraft Gottes, welche aus dem Ganzen Seiner Schöpfung, der Kreatur des Wassers, diese Quellen und Ströme hervorbrechen lässt und auf Seinen Wegen die Kreatur wieder zu ihrem Ursprung zurückführt, dieselbe Kraft des lebendigen Gottes lässt auch aus dem verborgenen Quell Seines Wesens, Seiner ewigen Kraft und Gottheit, die Ströme seiner Offenbarung ausgehen unter die Geschlechter der Menschen, dass diese Geschlechter nicht allein sollen schöpfen aus diesen Quellen und sich baden in diesen Strömen, während sie sonst einem andern Element angehören, sondern dass sie sich eintauchen sollen ganz und gar, dass sie leben sollen mit ihrem ganzen Sein in diesen Quellen und Strömen des göttlichen Lebens, wie der Fisch in der Kreatur des Wassers sein ganzes Leben, sein einziges Dasein hat. Er, der Unergründliche, der da war, der da ist und der da kommt, nimmt diese Ströme Seines Lebens auch wieder zurück, in ihren Ursprung, in Sich selbst, aber auf Seinen Wegen, die er allein kennt, die Er allein bahnt, auf denen Er allein führt; zu der Zeit, wann Er die Toten auferwecken, einen neuen Himmel und eine neue Erde gründen, und das neue Jerusalem aufrichten wird, in welchem der Auferstandene Selbst Leuchte, Licht und Sonne ist. Uns ist dabei nichts Anderes zu tun übrig, auch nichts Anderes nützlich, als dieser Ströme des göttlichen Lebens mit unserm ganzen Dasein inne zu werden und dieselben zu genießen, ihre Tiefe und Breite so weit unsere Kräfte reichen, zu ermessen, und uns und Andere zu hüten und dagegen zu schützen, dass wir nicht diesen Lebensströmen, den Bedingungen unseres Daseins, entrissen und dem Verschmachtungstode am dürren Strande preis gegeben werden. Das „Wissen“, welches in der Theologie Statt findet, beruhet deshalb durchaus auf dem Leben in dem Ganzen dieser göttlichen Offenbarungen, durchaus auf dem Erleben, auf der Erfahrung dieses Ganzen: der Teil entwickelt sich als Glied aus dem Ganzen, und wird nicht erst als Teil, als Glied aus der Beobachtung der (S.13) übrigen Glieder erraten und erschlossen, geschweige denn, dass das Ganze erst aus den einzelnen Teilen zusammengesetzt oder auch nur, dass dessen Ganzheit lediglich aus der vollständigen Beobachtung und Kenntnis der einzelnen Teile gefolgert und erkannt würde. Dies ist vielmehr die Operation der Wissenschaft, mit welcher die Theologie nichts zu tun hat, und deren Name ihr nur in sehr uneigentlichem, für die Theologie gefährlichem, ja verderblichem Sinne beigelegt wird. Die Naturkunde kennt den Quell des Naturlebens, den Quell der Organisation der Naturkörper nicht; darum ist es ihre Aufgabe, dass sie, anstatt sich, wie früher geschehen, himmelansteigenden und sich selbst überstürzenden Spekulationen über das Naturganze und dessen Wesen hinzugeben, die einzelnen Tatsachen mit messerscharfer Akkuratesse beobachte, Resultat an Resultat, wenn auch vorerst nur musivisch, aneinander reihe, und aus diesen Resultaten zu neuen Beobachtungen mit neuen Resultaten vorschreite. Dieses klare, unzweifelhafte Erkennen der Tatsachen im Einzelnen und diese Methode des Erforschens der Einzelheiten, um daraus zu Teilen, wenn es sein kann zu Gliedern, wo möglich zu einem Ganzen der Erkenntnis zu gelangen, nennt man im modernen Sinne Wissenschaft, und es trifft diese Bezeichnung genau nur auf die Naturkunde mit Einschluss der Mathematik und der Medizin, so wie seit der neuesten Zeit auf die Sprachkunde zu. Die Jurisprudenz ist dagegen an sich so wenig eine Wissenschaft im modernen Sinne, wie die Theologie: auch sie ist ursprünglich ausgegangen von einem Ganzen, von dem Rechtssinne des römischen Volkes als einer in sich einigen Volkspersönlichkeit, und verträgt und bedarf, so wenig wie die Theologie in ihrer Art, ein Zurückkonstruieren des Ganzen aus dem Einzelnen, ein Zusammenstellen einer Einheit aus einer unendlichen Vielheit von Einzelheiten nicht. Diesen Begriff der Wissenschaft in seiner vollen Geltung auf die Theologie anzuwenden, ist Sache der Atheologie, d.h. der Theologie der Dialektik und der Naturkunde, der Theologie des Abfalls, wie denn auch Strauß in seinem hinsichtlich der Form und Methode richtigen, hinsichtlich des Stoffes überaus albernen Buche (die christliche Glaubenslehre, in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt 1840), sodann Feuerbach und nach ihnen Andere mit geringerem (S.14) Talent diesen Begriff in der Theologie konsequent angewendet haben; das Resultat kann kein anderes sein, als dass bei vollständiger und folgerichtiger Anwendung dieses Begriffes die Theologie für denjenigen, welcher dieses Begriffes sich bedient, sich auflöst: die Teile und Glieder der Theologie haben nur Existenz im Zusammenhange mit dem Ganzen des göttlichen Lebens, dem sie angehören, außerhalb desselben, als bloße Teile die der Zusammensetzung bedürftig oder fähig sein sollen, sind dieselben nichtsbedeutend, nichtig, sich selbst widersprechend, eben weil ihnen jene Bedürftigkeit oder Fähigkeit der Rekonstruierung ihrem Wesen nach abgeht. Durch diese Vorgänge belehrt, hätte diejenige Theologie, welche noch an ihr Dasein glaubt oder doch an demselben festhält, oder wenigstens an demselben festhalten zu können meint, den Begriff der Wissenschaft entweder alles Ernstes auf den älteren, freilich ungenau begrenzten Umfang der episteme, scientia, doctrina, zurückführen, oder wenn dies nicht möglich war – und schwierig würde es jedenfalls in solchem Grade sein – aus ihrem Bereiche entfernen sollen. Aber nichts weniger. Sie hat die Worte gar zu lieb, und eben seit der Strauß-Feuerbachischen Atheologie ist in der Theologie der Rhetorik der Begriff, oder eigentlich nur das Wort, «Wissenschaft« zu einer Art von Stichwort geworden. Den Begriff hat sie nicht, diese Theologie, denn wenn sie den Begriff hätte, so würde sie denselben auch mit logischer Unerbittlichkeit zur Anwendung bringen. Das Wesen der rhetorischen Theologie, und das, wodurch sie sich auf den ersten Blick von der Theologie schon der Dialektik, geschweige denn der Geometrie und Astronomie, unterscheidet, ist Inkonsequenz; sie braucht das Wort, so weit es ihr gut dünkt; sie wendet hier den Begriff an, dort, an nächster Stelle, lässt sie ihn fallen; heute verwendet sie Wort und Begriff gegen den einen Gegner, morgen, ja im nächsten Augenblicke verleugnet sie beides gegen die andern. Schultheologie ist sie, so gut wie die Theologie der Naturkunde und der Dialektik, aber sie gehört gleich letzterer zum Trivium, und bezeichnet sich eben durch diese Inkonsequenz als eine Schultheologie niedrigerer Klasse als die dialektische Theologie; denn richtige Definitionen und konsequente Schlüsse machen musste man im Trivium gelernt haben, wenn man in das Quadrivium vorrücken wollte. (S.15) „An der Hand der Wissenschaft“ fände die rhetorische Theologie gar zu gern etwas Neues, machte gern neue Entdeckungen, gewänne „neue Einblicke“, oder gelangte auf das Wenigste zu einer überschaulicheren Systematik. Der Kitzel dieses Neues-Findens, der Kitzel dieser Entdeckungen ist es, von dem die Theologie der Rhetorik unaufhörlich geplagt wird, und den sie doch nicht befriedigen kann. Sie hat in ihrem Kreise keinen Neptun herausrechnen können, wie Leverrier den seinigen herausgerechnet hat, und wird es nimmermehr können; nicht einmal einen winzigen Planetoiden hat sie gefunden, und sie wird keinen finden. Das Gebiet der biblischen Literatur hat sie sich herausgesucht, um auf demselben ihre „Entdeckungen“ zu machen; es ist aber bei Vokabulistenweisheit und Grammatistenkünsten geblieben: bei der Unterscheidung von paulinischem und petrinischem Sprachgebrauch, bei dem Widerstreit des Jehovisten gegen den Elohisten, bei der Umstellung des Ranges, des Zeitalters usw. der biblischen Bücher: heute Matthäus voran, und das Evangelium der Hebräer, morgen Lucas, am dritten Tage ein Urevangelium, am vierten Marcus; heute Deuteronomium ganz vorn, morgen ganz hinten, heute das Richterbuch vorn, morgen hinten hin zu stellen, die Psalmen spazieren zu fahren von David bis auf die Makkabäer, und von den Makkabäern wieder zurück zu David, zu Debora, zu Mose usw. usw., das sind die Resultate dieser „Wissenschaft“ der rhetorischen Theologie, die Resultate ihrer „Entdeckungen“. Dass dergleichen Operationen in gewissem, freilich sehr untergeordnetem, Sinne berechtigt sind, dass sie gewissen Feinden Gottes gegenüber für notwendig gehalten werden müssen, fällt mir nicht im Entferntesten ein, zu leugnen, aber diese Dinge für theologische Wissenschaft auszugeben, das ist lächerlich; von dem Standpunkte der Wissenschaft angesehen, nehmen sich jene Operationen mit den biblischen Büchern nicht anders aus, als das Gebaren unruhiger Weiber, welche von vier zu vier Wochen das ganze Ameublement ihrer Wohnung umquartieren, um allezeit etwas „Neues“ zu haben, und, wenn sie in dieser Wohnung die möglichen Kombinationen erschöpft haben, eine andere Wohnung suchen, nur um das Vergnügen des Umquartierens ihres Hausrats auf eine neue Weise zu genießen. Die Theologen der Rhetorik scheinen nicht zu wissen, wie unbeschreiblich lächerlich sie mit diesen (S.16) ihren Grammatistenkünsten, die sie in der Bibel spielen lassen, den Leuten der wirklichen Wissenschaft, den Naturforschern, vor allem den Botanikern und Astronomen, den Medizinern und sogar den Philologen, wenigstens denen die aus guter Schule sind, vorkommen. Gehen wir – ich wiederhole es – mit dem Maßstabe der Wissenschaft, oder, wie man sich rhetorisch gern ausdrückt „an der Hand der Wissenschaft“ an die heilige Schrift, d.h. mit der Voraussetzung, dass das göttliche Leben der Welt aus den Einzelheiten der Schrift erst gefunden werden müsse, und zwar gefunden lediglich nach den Regeln der Lexikologie, der Grammatik und Kritik, so können wir ehrlicher und konsequenter Weise nur dahin kommen, das göttliche Leben gänzlich wegzuleugnen aus der menschlichen Komposition dieser Bücher, zu welcher dann wieder Sprachgebrauch, Wortbedeutung, Syntax, Formenlehre gehören, konstruiere ich das göttliche Leben nimmermehr heraus, wenn ich nicht das volle, mächtige Wehen des Geistes Gottes zum Voraus in diesen heiligen Schriften, und zwar in ihrer Totalität, empfunden habe – eben so wenig, wie der Anatom auf seinem Theater das Kadaver zu einem lebendigen Menschen rekonstruieren kann, wiewohl er alle Teile desselben genauer sieht und zu demonstrieren im Stande ist, als dies im Leben möglich war. Der psychische Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes. – So lange die rhetorische Theologie rhetorisch bleibt, und in der angegebenen Weise mit dem Begriff Wissenschaft ein wenigstens weibisches wo nicht kindisches Wortspiel treibt, wird sie ihre nächste Verwandtschaft mit der Atheologie nicht verleugnen können; was will sie dem atheologischen Gamin entgegnen, wenn dieser frech genug ist, die Weissagungen des Propheten Jesaja von der ewigen Erlösung und Seligkeit mit den Prophezeiungen aus dem Kaffeesatz zu vergleichen, wenn aber zugleich sie selbst lehrt, dass die prophetische Bedeutung und Geltung des zweiten Teiles des Jesaja von der Frage über die Zeit des Ursprungs desselben abhängig, diese letztere aber in hohem Grade zweifelhaft sei? Höchstens wird sie entgegnen können, dass Jener unpassende Ausdrücke gebraucht habe, denn auf den „Ausdruck“ zu sehen, das ist ja die eigenste Aufgabe der Rhetorik; in der Sache ist sie, wenn auch nicht eingeständlich, eines Sinnes mit dem Lästerer. (S.17) Die Theologie soll wissen, dass sie nichts Neues zu finden, nichts Neues zu entdecken habe, dass vielmehr ihre Aufgabe nur die sei, das in der heiligen Schrift niedergelegte, von der Kirche aufgenommene Seligkeitsgut zu bewahren und so an die künftigen Diener der Kirche zu überliefern, dass dieselben in den vollständigen, unverkürzten, sichern, handhablichen und möglichst leichten Besitz jenes Gutes gelangen. Allerdings gilt es hier, immer dasselbe vorzutragen und zu lehren, und das ist für die Rhetoriker langweilig, zuweilen auch Gegenstand der Verachtung, wenn sie sehen, wie manche orthodoxe Plattköpfe (und dass es solche gegeben habe und noch gebe, bin ich weit entfernt in Abrede zu stellen) mit unerschütterlicher Albernheit Jahr aus Jahr ein ihre Trivialitäten auftischen. Diese „Langweiligkeit“ scheint gar oft zu mancherlei Ausschreitungen Anlass gegeben zu haben, indem es in der Theologie leider schon lange Zeit eine verderbliche Mode geworden ist, die Tüchtigkeit eines theologischen Dozenten, zumal eines angehenden, allein nach der Zahl und dem Gewicht der von ihm angestellten und veröffentlichten „Forschungen“ – woraus freilich mitunter Zahl und Gewicht von Büchern geworden ist – zu bemessen, während doch von einem theologischen Dozenten zunächst Treue und Erfahrung, oder doch Erfahrungsfähigkeit, im christlichen Leben, sodann aber nicht eine Summe von Forschungen, sondern von Kenntnissen, verbunden mit geistiger Akribie, gefordert werden muss. So strebte, und jagte oft förmlich, Alles nach neuen Entdeckungen, nicht etwa nur auf dem historischen Gebiet, wo doch mit einem gewissen Recht von Forschungen und Entdeckungen die Rede sein kann, sondern auch auf dem dogmatischen Gebiete, und wo es keine selbständigen neuen Entdeckungen gab und geben konnte, da gab es neue schöne Formen und neue schöne Worte in reichster Fülle. Es war gewiss kein Fortschritt in der „Wissenschaft“ der Dogmatik, dass Schleiermacher mit einem ganz neuen Prinzip des christlichen Glaubens und mit einer Reihe neuer „wissenschaftlicher“ dogmatischer Sätze hervortrat, und damit die ganze evangelische Dogmatik so zu sagen auf den Kopf stellte, gewiss wenigstens nicht in dem Sinne ein Fortschritt, in welchem man von Fortschritten in der Naturwissenschaft oder auch nur in den geschichtlichen Disziplinen reden darf und muss. Es war ein Fortschritt aus dem überlebten (S.18) Rationalismus heraus über die Person Christi hinweg oder durch dieselbe, als Pforte, hindurch nach dem Pantheismus; die Dogmatik wurde also nicht etwa gefördert, sondern in eine neue, noch gefährlichere Phase des Verfalls gebracht, als dies bei dem Rationalismus der Fall gewesen war, und es hat in der Dogmatik gegolten und gilt noch, die fremdartigen Stoffe, welche Schleiermacher mit großer Kunst in die christliche Lehre eingeschoben, wieder hinauszuschaffen. Welches Verfahren soll nun „Wissenschaft“ heißen? Neue, fremdartige, das Wesen einer Disziplin zerstörende Stoffe in dieselbe einführen, damit diese Stoffe sich früher oder später abnutzen und verzehren? oder fremdartige Stoffe aus der Disziplin entfernen? Oder soll dieser Kreislauf des Neuen, Veraltenden, Wegzuschaffenden und des abermals Neuen und abermals Untergehenden und die Arbeit an diesem Ixionsrade „Wissenschaft“ heißen? Möglich, denn dem bunten Spiel mit Worten ist alles möglich, zumal in unsern Tagen; dann aber ist diese „Wissenschaft“ etwas ganz Anderes, als was die Naturkunde Wissenschaft nennt, und drückt nicht etwa einen Vorzug, sondern einen Nachteil, nicht eine Ehrenbeschäftigung, sondern Knechtsarbeit aus. Wer erinnert sich nicht noch unter den älteren Theologen des sinnenverwirrenden Begriffsspiels und Wörterspiels, von welchem die Theologie erfüllt war, als gegen Ende des dritten Dezenniums dieses Jahrhunderts Schleiermachers Gedanken in die Mittagshöhe getreten und zugleich Hegels Gedanken anfingen in die Theologie einzudringen? Die Welt sprach damals von einer neuen Wissenschaft der Theologie; war denn aber dieses wilde Durcheinander Wissenschaft? war es Theologie? Alle Welt hatte die „Forschungen“ und die „Fortschritte“ auf dem Gebiete der Theologie im Munde; ist etwas Neues erforscht, ist ein höherer Standpunkt auf jenem Wege erreicht worden? Umgekehrt! Das Wegwerfen aller dieser Dinge und die Rückkehr zu dem Ursprünglichen, Alten, ist der Fortschritt gewesen, welcher damals in der Theologie allerdings eintrat, aber nicht durch Schleiermachers „Wissenschaft“, sondern durch sein Hinweisen auf die Person Christi, und dann noch auf ganz andern der Spekulation geradezu entgegengesetzten Wegen eintrat (man denke nur an den mächtigen Eindruck, welchen Tholucks unvergessliches Buch „die Lehre von der Sünde“ machte). Diese Art von Fortschritt aber wird niemand „Wissenschaft“ (S.19) nennen. Oder war etwa die Herausgabe des Hutterus redivivus eine „wissenschaftliche“ Tat? Vielen wird es noch wohl erinnerlich sein, dass als Hase dieses Buch herausgab, dasselbe nicht allein von den Atheologen, wie Röhr, mit dem lautesten Geschrei des Abscheus bewillkommnet, sondern auch von vielen bessern Theologen, und zwar auch solchen, welche Dozenten weder waren noch werden wollten, mit großem Widerwillen „als eine Zwangsjacke für selbständige Untersuchungen“ aufgenommen wurde, und in der Tat erkenne ich, abgesehen von manchen andern Vorzügen des genannten Buches, so wie von Nachteilen die es gebracht haben mag, das als ein unleugbares großes Verdienst an, dass es in ziemlich weiten Kreisen jenen schönen neuen Formen und neuen schönen Worten Zaum und Gebiss angelegt hat. Oder sollte man in ganzem Ernste die Auseinandersetzung der Theologie mit jedem philosophischen System, das Affiziertwerden der Theologie von demselben, überhaupt also die Rezeption, Digerierung und endliche Egerierung fremder Stoffe „theologische Wissenschaft“ nennen? Das hieße doch den Begriff „Wissenschaft“ wohl überhaupt, gewiss aber denjenigen, welcher jetzt, nicht ohne innere Berechtigung, herrscht, geradezu in sein Gegenteil verkehren. Es ist ohnehin nicht die Aufgabe der Theologie, sich mit jedem wahren oder angeblichen Philosophenjüngling, mit jedem neuen System der Philosophie oder Kosmosophie auseinanderzusetzen, zumal wenn es für die Theologie von vorn herein ausgemacht ist – und es kann in den meisten Fällen sofort ausgemacht sein, da die Theologie, ist sie rechter Art, das schärfste Auge für alle Welterscheinungen hat, wenigstens haben soll – dass die neue Philosophie oder Kosmosophie nichts ist als Kosmomorie. So ist es z.B. nicht so gar nötig, dass sich die Theologie umständlich mit dem allermodernsten System, dem neuaufgegrabenen Materialismus, auseinandersetze. Nehme man nur nicht immerfort Neues auf, versuche sich nicht immer an Neuem und Fremdem; dadurch wird der innere Zusammenhang des eigensten Lebens und Wissens gestört, und gerade das ist das direkte Widerspiel alles dessen, was man jetzt mit Recht Wissenschaft nennt. Aber die Theologie ist vor allem Leben, sie ist für das wirkliche Leben bestimmt und soll das Leben bestimmen; sie muss in sich einig und fest sein, und sich nicht (S.20) von dem Leben, welches zu beherrschen sie bestimmt ist, schieben und drängen, gestalten und umgestalten lassen. Alles, was auf das wirkliche Leben Einfluss zu äußern, das wirkliche Leben zu regeln bestimmt ist, verträgt nur sehr schwer oder gar nicht stete sachliche, sogar nicht ganz leicht bloß formelle Neuerungen. So ist es mit der Theologie und der Jurisprudenz. Der Nachteil, in welchem diese Disziplinen stehen, dass sie nicht, wie die Naturwissenschaften und deren verwandte Disziplinen mit stets neuen Untersuchungen und den Ergebnissen derselben ihre Diener erfreuen, und dass mithin die Lehrer der Theologie und der Jurisprudenz „nicht in der Lage sind“ in jeder Woche ihre Zuhörer wenn auch nicht mit neuen Entdeckungen, doch mit neuen Versuchen oder Experimenten zu überraschen, wird durch den Vorzug aufgewogen, dass von diesen beiden Disziplinen die Regelung und Feststellung des wirklichen Lebens, des inneren wie des äußeren, des privaten wie des öffentlichen ausgeht. Aber eben dies ist für die rhetorische Theologie am schwersten zu fassen. Sie will nicht einwirken, sie will reden, reden zu ihrem selbsteignen Vergnügen, und in Andern ein gleiches Vergnügen am Reden wecken; indes auch ihre Abneigung gegen die Tatsachen und gegen das Handeln verpflanzt sie nicht ungern auf Andere. Das Pfarramt soll reden, wie sie, und nur reden, das ist der eigenste, oft nur im Geheimen gehegte, nicht selten aber ungescheut proklamierte Gedanke der theologischen Rhetoren. Die Theologie der Rhetorik hat jedoch aus dem Kreise der Wissenschaft noch eine Formel, gleichfalls, wie das Wort Wissenschaft selbst, als Phrase sich angeeignet, welche, gleichviel ob im Ernste oder als Phrase gebraucht, ganz besondere Schädlichkeit entwickelt hat und somit auch besondere Erwähnung verdient. Die wirkliche Wissenschaft, welche das Ganze ihres Objektes zum Voraus nicht kennt, mithin auch über die Zugehörigkeit der einzelnen Beobachtungsgegenstände zu dem Ganzen, wenigstens über die Stellung derselben zum Ganzen ein vorausbestimmtes Urteil nicht haben kann, ohne sich selbst zu widersprechen und sich selbst zu zerstören, geht mit Unbefangenheit und Voraussetzungslosigkeit an ihre Beobachtungen und Forschungen. Diese Unbefangenheit und Voraussetzungslosigkeit ist denn auch mit großem (S.21) Applaus von den Atheologen in ihr System herübergenommen worden, und mit Recht, denn durch diese Herübernahme wird ihr Zweck, die Zerstörung der Theologie, die Vernichtung des Glaubens, die Aufrichtung der Feindschaft gegen Christus und die Lossagung von Gott so wie von der eigenen erlösungsbedürftigen und erlösungsfähigen Seele, mit unzweifelhafter Sicherheit erreicht: dann wird das Gottesleben nach dem Weltleben, die Gotteserkenntnis nach der Welterkenntnis gemessen, und damit die Eigentümlichkeit der Theologie vernichtet. Diese Vernichtung will nun die Theologie der Rhetorik allerdings nicht, aber das Spiel mit Worten ist zu lockend, und ohne Ahnung der lächerlichen Inkonsequenz, welche sie begeht, nimmt sie gleichfalls jene Voraussetzungslosigkeit und Unbefangenheit unter die Fundamente ihres „Systems“ mit auf. Und wenn die Theologie der Rhetorik mit der ganzen Welt bräche, auch mit den Begriffen der Welt, mit Einem kann sie nicht brechen: mit den Worten der Welt. Die Worte aber sind die Brücke der Gedanken, sind die Brücke des Wesens der Dinge, und wer fremde Worte nimmt, bahnt, wenn gleich unbewusst, den Gedanken und dem Wesen der Fremde Eingang in die eigene Seele; der Teufel ist mächtig auch durch das Wort: diese Wortmacht und Wortkunst hat er dem allmächtigen Gott abgestohlen. So kommt denn die rhetorische Theologie den Tatsachen der Offenbarung mit „Unbefangenheit“ entgegen, d.h. in ihrem Sinne: ohne von vorn herein Eingenommenheit oder gar Widerwillen gegen dieselben zu haben, aber sie merkt nicht, dass sie mit dem Worte nur spielt, indem dasselbe, ernstlich gebraucht, nichts anderes bedeutet, als: auch dem Gegenteil der Tatsachen der Offenbarung von vorn herein nicht mit Eingenommenheit oder gar Widerwillen entgegen treten, und wenn auch die Theologie der Rhetorik dies den Worten nach nicht gelten lässt, so lässt sie es doch der Sache nach gelten, indem sie sich bei jeder Kontroverse über die Tatsachen der Offenbarung nach Kräften „über den Parteien“ zu halten sucht (bekanntlich eine der hauptsächlichsten Formeln der rhetorischen Theologie) und damit ihr Wesen als Theologie eben so wohl aufgibt, wie die Theologie der Dialektik oder die höheren Formen der Schultheologie. Indes muss doch behauptet werden, dass die Unbefangenheit und Voraussetzungslosigkeit von vorn herein der rhetorischen Theologie nicht (S.22) nur als bloße Phrase, sondern auch um ihres Wesens selbst willen zusage. Die Rhetorik hat naturgemäß als Grenzgebiet der Dialektik das Sic et Non, das Streiten Pro und Contra, indes allezeit das unentschiedene Streiten, nicht das auf dem Wege der Dialektik aufgehobene oder vermittelte Streiten, das Ja und Nein zu gleicher Zeit, je nach Wohlgefallen, Neigung, Bedürfnis – sei es auch das Bedürfnis des Kitzels –, Laune oder Vorteil, Parteirücksicht oder Personansehen angewendet, zu ihrem ganz besonderen Eigentum. Sie ist ihrer Natur nach ein rhetor, ein causidicus, zuweilen auch ein declamator in foro, der, unbeteiligt bei der Sache, heute zu dieser Partei, morgen zu jener steht, heute diese Sache, morgen die gerade entgegengesetzte mit allen möglichen Gründen verficht, welcher lediglich an der Verhandlung ein Interesse hat, während das Resultat ihm gleichgültig ist. Der Richter hat das Interesse, das Recht, der Rhetor seine Verhandlung, zugleich seine im Augenblick verfochtene Sache geltend zu machen. In die Tiefe dringt der Rhetor nicht ein, das erlaubt ihm seine Natur nicht – sein Gebiet ist die Oberfläche der Dinge; der Ernst ist nicht seine Sache – ihm ist es um ein, wenn es sein kann geistreiches, Spiel zu tun; seine Person setzt er niemals ein, allezeit aber alle seine Worte, sein Herz kommt niemals, seine Zunge ist allezeit in Bewegung; er dient keiner Partei ausschließlich, denn sein Beruf ist es, allen Parteien zu dienen. Nur in einem Falle wird auch er Partei: wenn ihm angemutet wird, statt Sic et Non entweder Sic oder Non zu sprechen, oder gar, wenn von ihm gefordert wird, in Sachen des Christentums Sic zu sagen und das Non zu verwerfen, wenn Zeiten kommen oder Personen auftreten, welche eine Entschiedenheit fordern oder nur geltend machen. Wie dem Advokaten der Richter innerlich zuwider ist, weil der Richter den Verhandlungen ein Ende macht, und die Advokatenpersönlichkeit an der Richterpersönlichkeit sich zu brechen genötigt ist, so sind dem Rhetor solche Personen und Zustände innerlich zuwider, und wenn er auf das Äußerste gedrängt wird, als rhetorischer Theolog ein endgültiges Wort in Beziehung auf das Christentum auszusprechen, so lautet dasselbe ein für allemal Non. Wer an die ewige Seligkeit denkt, geht nicht von der Unbefangenheit und Voraussetzungslosigkeit aus, sondern ist in der (S.23) ewigen Seligkeit bei dem Herrn und Heiland Jesus Christus befangen und setzt die ewige Seligkeit, ihm erworben durch diesen Heiland am Kreuze, voraus. Die dialektische Theologie erklärt dies für einen Zirkel, die rhetorische für eine Redensart (eine „Ansicht“), welche ad separatum zu verweisen, in die großen von ihr, der rhetorischen Theologie, zwischen Gott und dem Teufel geführten Friedensunterhandlungen aber nicht mit aufzunehmen sei. Denn diese Friedensunterhandlungen beziehen sich nicht auf den Besitz der Seligkeit, sondern auf die Formeln des Redens über die Seligkeit, wobei das Haben der Seligkeit, die Tatsache, vorerst füglich außer Frage bleiben kann. Es handelt sich nur darum, die beiden kriegführenden Mächte dahin zu vermögen, dass sie, Gott auf der einen und der Fürst dieser Welt auf der andern Seite, sich derselben Formeln über Wahrheit, Glauben und Seligkeit bedienen, und von ihren äußersten Forderungen beiderseits selbst abstehen, auch der äußersten Rechten und der äußersten Linken, diesen eigentlichen Friedensstörern und Wissenschaftsverwüstern, Befehl erteilen, diese äußersten Forderungen nicht mehr geltend zu machen, ja nicht ferner von denselben zu reden: ist das Reden hinweggetan, das Hinwegtun der Sache findet sich, meint die Rhetorik, schon von selbst. Auf diesen Triumph ihrer rhetorischen Wissenschaft hofft die Theologie der Rhetorik bis auf diesen Tag, und niemand kann diese Hoffnung von ihr nehmen. Wer weiß, auf diesem Wege wird ja auch noch der Teufel selig, ohne dass er etwas davon gewahr wird! Eine etwas veränderte Wendung könnte die Sache nehmen, wenn die rhetorische Theologie zu der Überzeugung gelangte, dass Gott und Teufel selbst nur Worte und Formeln, Begriffe, Gegenstände der Wissenschaft, seien. Dann wird jener Friedensschluss nicht mehr von den im Kriege begriffenen Mächten, unter Vermittlung der Wissenschaft, paktiert, sondern von der Wissenschaft selbst diktiert, und damit hört denn die rhetorische Theologie auf, sie selbst zu sein: sie rückt vor in die höhere Klasse, in die Dialektik. Doch nein! sie hört nicht auf, sie stirbt nicht aus. Wie wäre das möglich, da das einzige Unsterbliche in der Welt die „Wissenschaft“ (sonst auch „Intelligenz“ genannt, als Wissenschaft des Erwerbs) ist! Sie ergänzt sich sofort wieder, ihre Klasse wird sofort wieder besetzt aus der Schule der Vokabulisten und Grammatisten. (S.24) Difficile est satiram non scribere. Es war nicht wohl möglich, an diesem allgemeinen Kapitel der Wissenschaft vorüber zu gehen, wiewohl alles hier Angedeutete bei Betrachtung des Einzelnen in schärfern Zügen und festen, oft nur allzu derben Gestalten sich wiederum vor Augen stellt. Ich gehe zur Betrachtung dieses Einzelnen über.