August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868):
Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik.
IX. Geistliches Amt.
Schon in dem Vorhergehenden, und eben zuletzt noch, ist in die Besprechung der Kirche mit ihrer Zucht, und der einander kontradiktorisch entgegenstehenden Auffassung von Kirche und Kirchenzucht Seitens der Theologie der Tatsachen und der Theologie der Rhetorik, die Hinweisung auf die nicht minder einander widersprechende Auffassung des geistlichen Amtes Seitens dieser beiden Lager der Gottesgelehrtheit verwoben worden. Noch viel widriger als die Lehre von der Kirche, wie dieselbe jetzt aufkommt, ist der rhetorischen Theologie die Lehre vom geistlichen Amt, wie dieselbe jetzt endlich wieder nicht bloß gelehrt sondern geübt wird. Der Abscheu gegen dieselbe ist so groß, dass die rhetorischen Theologen und deren Genossen in blindem Ärger sich zu der, bekanntlich aller Geschichte widersprechenden Behauptung verleiten lassen, es sei die Reformation nicht durch das geistliche Amt eingeführt worden, wogegen doch sogar die Vorrede zur A. C. symbolischen Widerspruch einlegt. Wie überall in der Kirche und in deren Lehre und Lehrdarstellung, soll es anders recht zugehen, nicht von dem mühsam zusammengelesenen Einzelnen, sondern von dem Ganzen, nicht von dem leeren Gefäß, sondern von der Fülle des Inhalts, nicht von dem Unsicheren und Zweifelhaften, sondern von dem Gewissen und (S.90) Unwandelbaren, nicht von dem Suchen sondern von dem Gefundenhaben ausgegangen werden muss, so ist es vor allen andern Dingen in der Lehre vom geistlichen Amt notwendig. Das geistliche Amt wird nicht einmal annähernd anders verstanden, als mittels der Erfahrung. Wer in einer Gemeinde oder in einer größeren Anzahl von Gemeinden gestanden hat mit der Aufgabe, dieser Gemeinde oder diesen Gemeinden ein Hirte zu sein – wer gesehen hat, welche Zweifel hier zu lösen, welche Anweisungen zu geben, welche Warnungen zu erteilen, welche Drohungen zu verkündigen, welche Kämpfe zu schlichten, welche Anfechtungen zurückzuschlagen, welche Versuchungen zu besiegen sind – welche tiefe Blindheit zu heilen, welche Unruhe zu stillen, welcher Hunger und Durst nach dem Worte des Lebens zu befriedigen, welche Gewissheit des Trostes zu gewähren, welche Zuverlässigkeit der Sündenvergebung zu geben ist – wer von diesem allem seine Seele hat durchzittert oft mit der tiefsten Erschütterung durchbebt gefühlt – der weiß mit der unzweifelhaftesten einfachsten Gewissheit, dass er nur auf eine Quelle der Lösung dieser Zweifel und Kämpfe, auf eine Quelle dieser Siege über Welt, Sünde, Tod und Teufel, und zwar unmittelbar auf diese eine Quelle zurückzugehen hat. Von ihm, von seiner Seele, fordern alle diese – vielleicht viele tausend – Seelen das Leben und die Seligkeit, fordern sie – er kann sich das nicht verhehlen – mit Recht. Woher dieses Recht? woher die, diesem Recht entsprechende Macht? aus der Gemeinde selbst, welche jene Anforderungen stellt? aus der Gemeinde, welche selbst ein ungestümes Meer von vielerlei Meinungen, einander durchkreuzenden Gedanken, von weltlichen Sorgen, Zweifeln und Widersprüchen wider Gottes Wort ist? Diese Frage legt sich der, welchem jene Not der Seelen wie eine hochgehende Brandungswoge beängstigend an das Herz hinaufgestiegen ist, nicht einmal vor, dieser Gedanke kommt ihm nicht, kann ihm nicht kommen. Jene eine Quelle ist Christus der Herr Selbst, der ihn, den wenn auch noch so schwachen, in Sünden selbst verstrickten und an Sünden kranken armen Menschen an Seiner Statt in das Amt des Wortes und Sakramentes gesetzt hat, welches Amt direkt und unmittelbar Sein Amt ist, nur Sein Amt in unmittelbarster Weise sein kann, weil allein von diesem Amte die Wahr- (S.91) heit ausgeht, der Weg gewiesen wird, das Licht hinableuchtet in die Gemeinde. Wäre dieses Amt nicht unmittelbar des Herrn Christi Amt, Sein direktes Mandat, Sein Befehl, das Amt würde den Träger erdrücken oder der Träger würde das Amt von sich werfen. Versieht sich die Gemeinde selbst mit diesem Amt? die Gemeinde, in qua vere credentibus admixti sunt mali et impii? wird die Zahl der Gottlosen und offenbaren Sünder in der Kirche von den sanctis, vere credentibus und obedientibus mit diesem Amt versehen? oder versieht sich endlich wenigstens die communio sanctorum et vere credentium mit demselben? gebiert sie es aus sich selbst, damit es „in ihrem Auftrag“ an ihr selbst ausgeübt werde? Die Antwort, aus dem Vorhergehenden deutlich hervorleuchtend, ist sehr einfach, einfach, sobald sie aus der lebendigen Erfahrung und nicht aus der toten Theorie geschöpft wird. Die meisten – fast alle – jener oben beispielsweise genannten Bedürfnisse der Gemeinde sind eben nicht Bedürfnisse der mali et impii, sondern teils vorzugsweise teils ausschließlich der vere credentes, so lange dieselben noch diesseits des Paradieses sind, und eine weit längere Reihe ähnlicher, fast nur im Kreise der vere credentes vorkommender und demselben sogar ausschließlich angehöriger Bedürfnisse ließe sich aufzählen. Oder handelt das siebente Kapitel des Römerbriefs nicht von dem inneren Leben der Bekehrten, der vere credentes et obedientes? – Das Bedürfnis soll wohl aus sich selbst die Mittel zur Deckung seiner selbst erzeugen? aus dem Hunger soll wohl die Sättigung, aus dem Durst dessen Löschung, aus den Anfechtungen deren Überwindung hervorgehen? Das Einzige, was einen Pfarrer – nicht allein in schwerer Zeit, sondern zu jeder Zeit, denn jede Zeit ist dem geistlichen Amt gegenüber eine schwere Zeit – aufrecht erhält, zum Pfarrer macht und mit der Wirksamkeit ausstattet, ohne welche er ein Redner wie Demosthenes sein und zuletzt den Schild wegwerfen würde, ist das, dass er „mit St. Paulo, allen Aposteln und Propheten tröstlich sagen muss Haec dixit Dominus, das hat Gott selbst gesagt. Et iterum Ich bin ein Apostel und Prophet Jesu Christi gewest in dieser Predigt. Wer solches nicht rühmen kann von seiner Predigt, der lasse das predigen anstehen, denn er leugt (S.92) gewisslich und lästert Gott“. (Luther wider Hans Worst Jen. A. 7, 429b). Dieser Gewissheit trösten wir uns, dieser Zuversichtlichkeit rühmen wir uns in aller unserer Schwachheit. Aber wir können das nur, wenn wir unser Amt allein und ohne allen Mittelsmann, sei derselbe welcher er wolle, auf Christus Selbst zurückführen. Nur aus dieser Gewissheit, aus dieser Sicherheit, dass das Amt direkt von Christus vertreten wird, welcher unmittelbar hinter der Ausübung desselben steht, in derselben wirksam ist und Selbst derselben vorausgeht, fließt für uns die unbedingte Unbeugsamkeit in den Stürmen der Welt und in den Anfechtungen, welche auch die Gläubigen und Heiligen erleiden, fließt für uns die gänzliche Furchtlosigkeit und Abwesenheit alles Ansehens der Person, fließt für uns die Kraft, die Gemeinde nicht allein durch Wort und Sakrament zu sammeln aus dem neuen Heidentum, aus dem Abfall, sondern auch durch Wort und Sakrament und Schlüsselamt zusammen zu halten, die Kraft, der Sünde mit einem einzigen Worte das Haupt zu spalten, die Kraft, auch in eine Seele in welche der böse Feind die Nacht des Wahnsinns gesenkt hat, hineinzusteigen und durch die tiefe Finsternis den Lichtstrahl: Christus kommt! zu werfen, dass die trotzigen Kniee des Rasenden sich beugen und die wilden Fäuste sich zum Gebete falten, zum ersten Mal seit Jahrzehnten – ja die Kraft, in eine Seele hineinzusteigen, in welcher der Altfeind selbst seine Wohnstätte aufgeschlagen hat, und dort mit dem hohnsprechenden Riesen des Abgrunds Stirn gegen Stirn und Auge gegen Auge zu kämpfen. Das alles kann die Gemeinde nicht, auch nicht die Gemeinde der Heiligen, also kann sie auch dazu nicht Macht, Auftrag, Mandat und Kraft verleihen. Zumal vermag sie nicht in des Teufels zornige Augen zu sehen, denn was von den letzten Zeiten geweissagt ist, dass wo es möglich wäre, die Auserwählten verführt würden, das gilt mit weit schärferem Nachdrucke von der einzelnen Erscheinung des Teufels in dieser Welt: vor ihr stiebt die Gemeinde auseinander wie Schneeflocken, nicht verführt, aber erschreckt bis in den Tod. Nur wir erschrecken nicht und fürchten uns nicht, denn Der, welcher den Fürsten dieser Welt ausgestoßen hat, hat uns vor des Teufels (S.93) ödes Schlangenauge, vor seinen lästernden und hohnlachenden Mund und vor sein im Höllenzorn zuckendes Angesicht gestellt. Aber wir haben insbesondere noch eine Kraft vermöge unseres Amtes (nicht als Charisma), die wir vorzugsweise in der Gemeinde der Gehorsamen, Gläubigen und Heiligen anzuwenden haben. Das ist die Kraft der geistigen Nüchternheit und Besonnenheit. Eine der gewöhnlichsten und zugleich gefährlichsten Anfechtungen der wahrhaft Gläubigen ist die, ihren Glauben selbst wieder der Augenlust preis zu geben, oder platt und ungenügend zwar, aber desto verständlicher ausgedrückt, in Extravaganzen (Gefühligkeiten, Neugierigkeiten, theosophische Grübeleien u. s. w.) zu verfallen, und Gott zu versuchen, vel ea temeritate, ut quaerant experiri, quomodo cum Diabolo animam miseram obsidente curiose possint colloqui. In solchen Fällen stark zu sein, sich nicht von dieser unechten aber allerdings wunderbar starken Glut erwärmen zu lassen, sondern kalt zu bleiben und fest, und die Seele, welche schon auf die Zinne des Tempels entführt worden ist, ruhig wieder dort herab zu holen, die Treppe hernieder, Stufe für Stufe zu leiten – das ist eine der schwersten Aufgaben des Amtes, und wem diese einmal nahe getreten ist und wer sie gelöst hat, der weiß, dass weder diese Aufgabe, noch, und weit weniger, die Kraft zu deren Lösung, geschweige denn die Lösung selbst, aus der Gemeinde oder irgend einer Mitwirkung derselben komme, sondern von Christus ganz allein und völlig unmittelbar, durch Sein Amt (Anm.: Dass in allen vorstehend angeführten Beispielen eben nur Amtstätigkeiten, nicht Charismen angeführt worden sind, wird dem Erfahrenen auch ohne diese meine Bemerkung deutlich sein; ich halte jedoch nicht für überflüssig, auf diesen Unterschied hier nachdrücklichst hinzuweisen). Anstatt der zuversichtlichen Sicherheit, mit welcher wir, auf Tatsachen fußend, in der Lehre vom geistlichen Amte stehen, sehen wir nun die Theologie der Rhetorik, welcher das Amt aus der Gemeinde kommt, in der größten Unsicherheit. Mit Tatsachen, wie etwa die so eben beispielsweise genannten sind, sich auseinanderzusetzen, scheint dieselbe auch nicht einmal je versucht zu haben: sie bewegt sich in lauter Abstraktionen und, oft ganz unfruchtbaren ja leeren, Theorien. Von diesem Vorwurfe wird ins- (S.94) besondere auch Höflings bekanntes Buch (Grundsätze der luth. Kirchenvf.) mit so großem Nachdrucke getroffen, dass man dasselbe, ohne dem Verstorbenen Unrecht zu tun, ein verworrenes Buch nennen kann. Diese Verworrenheit, an welcher übrigens das gedachte Buch nichts weniger als allein leidet – indem vielmehr die meisten Auslassungen über die Lehre vom Amt, welche von rhetorischer Seite stammen, noch weit verworrener sind – rührt nun zunächst von den eingewurzelten Theorien von der unsichtbaren Kirche her, an welchen die evangelische Lehre, nicht aber an und für sich das evangelische Grundbekenntnis, die A. Conf. samt Apologie, krankt. Will man sich die Mühe nehmen, über den, auf den ersten Blick allerdings einen gewissen Anstoß gebenden, Artikel VII der A. C., durch welchen die pädagogische Aufgabe der Kirche wo nicht beseitigt, doch ungebührlich in den Hintergrund geschoben scheint, hinauszugehen, und neben demselben auch Art.VIII, XII, XIII, XV mit den dazu gehörigen Erörterungen der Apologie gebührend zu berücksichtigen, so wird sich ergeben, dass diejenige abstrakte Lehre von der unsichtbaren Kirche, welche man als Lehre der evangelischen Kirche aufzustellen pflegt, in der A. C. keinen Grund hat. Damit fällt dann schon die Lehre von dem Hervorgehen des geistlichen Amtes aus der Gemeinde; aber wenn man auch jene Vorstellung von der alleinigen Berechtigung der unsichtbaren Kirche gelten lässt, so kommen dennoch die seltsamsten Sätze heraus, wenn man in der unsichtbaren Kirche das besondere Amt leugnet, weil hier die Verwaltung der Gnadenmittel allen gemein sei, und in der sichtbaren Kirche dennoch ein besonderes Amt „um der Ordnung willen“ wie man gewöhnlich sagt, als berechtigt d. h. als zweckmäßig annimmt, Sätze, welche sich schon in der Theorie, auf dem eigenen Boden der Rhetorik, mit Leichtigkeit widerlegen lassen. Denn wenn z. B. der göttlichen Ordnung nach ein besonderes Amt in der unsichtbaren Kirche nicht existieren, dasselbe aber, nachträglich von Menschen (etwa unter Zulassung Gottes) eingesetzt, in der sichtbaren Kirche nicht soll entbehrt werden können, so ist die Schlussfolge unvermeidlich, dass die ursprüngliche Ordnung Gottes für die Erdenwelt nicht ausreichend und der Nachbesserung durch Menschenhand bedürftig sei. Und wie soll es (S.95) möglich sein, dergleichen Dinge nur scheinbar aus der heiligen Schrift zu rechtfertigen! Wenn aber sogar ganz oberflächliche und kindische Vorstellungen geltend gemacht werden wollen, wie z. B. dass ja doch alle Christen berufen seien, zu aller Zeit und an allerlei Orten Gottes Wort und Werk zu verkündigen, was sich ganz von selbst versteht (indem die Prophetie nach Ausweis des N. T. neben dem geistlichen Amte hergeht und von demselben verschieden ist), mit der hier vorliegenden Frage aber nicht das Mindeste zu tun hat – : dass das geistliche Amt gar kein Amt der Kraft und der Tat fei, sondern nur ein Amt des Predigens (wodurch die Kirche sich in ein theologisches Auditorium moderner Art, die Gemeinde in ein Publikum verwandeln würde, den apostolischen Gaben und Vorschriften, den Bekenntnissen der evangelischen Kirche und den sämtlichen geschichtlichen Zeugnissen ins Angesicht widersprechend) – oder gar, dass das geistliche Amt eigentlich nichts anderes sei als ein freiwilliger Dienst in der inneren Mission, wodurch sogar die Gemeinde aufgelöst werden würde, aus welcher doch nach der Theorie das Amt hervorgehen soll – und Mehreres der Art, so reichen diese Kindereien nicht einmal an die Rhetorik heran, sondern gehören in die Klasse der Abecedarier, sollen auch hier nicht weiter in Anschlag kommen. Jene Theorien der Rhetorik, selbst unsicher, schwankend, sich selbst widersprechend, machen diejenigen, welche in ihren Dienst sich begeben, auf die bedauerlichste Weise unsicher, schwankend, und aller Zweifel voll. Ein Amt aber, welches mit Unsicherheit und Zweifel ausgeübt wird, ist nicht Christi Amt, ist kein Amt zur Seligkeit, sondern ein Amt des Fluches und der Verdammnis, denn der Kern alles Fluches und aller Verdammnis ist die Ungewissheit und der Zweifel, wie diejenigen Rhetoriker, welche jetzt gern Melanchthon zum Heiligen und zum alleinigen Kirchenvater der Reformation machen möchten, von eben diesem Melanchthon lernen könnten, wenn es ihnen darum zu tun wäre, wirklich etwas zu lernen und nicht vielmehr, kirchenzerstörerische Tendenzen zu verfolgen. Diener jener Theorien sind bei der sonst löblichsten christlichen Gesinnung und dem ernstesten menschlichen Willen allezeit in Ungewissheit ob sie in konkreten Fällen göttliche Drohungen auszu- (S.96) sprechen und geltend zu machen hätten, ob sie Gottes Gerichte für besondere Zustände in der Gemeinde verkündigen dürften, ob sie den Beruf besäßen, die Gemeinde um sich zu sammeln, ob sie mit Erfolg segnen könnten, ob sie die Sündenvergebung mitzuteilen oder bloß zu verkündigen hätten u. s. w., und Viele unter ihnen, welche an sich das Charisma der Gewalt über die Geister (ein energema dynameon) besitzen, werden durch diese Unsicherheit sogar in der Anwendung dieser Gabe geschwächt. Wenn sie nun aber Drohungen und Gerichte verkündigen, die Gemeinde rufen, Segen sprechen, absolvieren, und dies nur mit dem leisesten Gedanken daran tun, ob sie das Recht oder die Macht dazu haben, oder auch nur, woher sie ihr Recht und ihre Macht zu leiten haben, ob daher oder dorther, so sind diese Dinge fast allesamt unkräftig, gewiss aber allesamt, ohne Ausnahme, dem, der sie handhabt, zum Gericht – er fängt notwendig an, das Wort an die Stelle der Tat zu setzen, er fängt an Phrasen zu machen, er schreitet fort zur Heuchelei und endigt mit der Lüge. Wohl dem, welcher in Zeiten zurechtgesetzt und auf seinem Irrwege umgewendet wird, wie es einem sonst redlichen Zweifler meiner Bekanntschaft einst widerfuhr: er wurde als Geistlicher an das Todbett eines schweren Sünders gerufen, welcher in der Bekehrung begriffen war, und Vergebung der Sünden begehrte. Noch im Dienste der Theorie von dem Amte welches aus der Gemeinde komme, folglich auch der, dass er die Sündenvergebung nur zu verkündigen habe, befangen, begann er seine „Verkündigung“. Aber der Kranke rief ihm entgegen: „Die Verkündigung kenne ich längst, und ist mir von Andern noch kürzlich oftmals vorgehalten worden; ich will nicht die Sünden mit allen andern Sünden vergeben haben, ich will meine Sünden vergeben haben; ich will wissen, ob Sie Recht und Macht haben, mir diese Sünden zu vergeben“. Damit, sagte er, seien ihm die Schuppen von den Augen gefallen, und er habe dasmal und seitdem allezeit die Vergebung der Sünden nicht verkündigt, sondern im Namen des Herrn Christi erteilt. Oder wie es einem Andern ging, welcher auch noch der Theorie vom Amt aus der Gemeinde diente, sich aber doch, im gehorsamen Dienste seiner Agende, daran hielt, dass er die Sündenvergebung zu erteilen habe: diesem kommt im Vorlesen der Absolution der aller- (S.97) dings bei jener Theorie nicht wohl abzuweisende Gedanke, dass ja somit die Gemeinde sich selbst die Sündenvergebung erteile, dies aber ein unlösbarer Widerspruch sei. Er stockt im Lesen und hält zu nicht geringem Schrecken der Gemeinde lange inne – aber für immer geheilt von der Theorie kehrt er in seine Wohnung zurück. Die konsequentesten aber freilich auch leichtfertigsten Theoretiker kommen dahin, zu meinen, dass sie, deren Amt aus der Gemeinde stamme, mit demselben auch an das „christliche Zeitbewusstsein“ gebunden seien, und nun ist nur noch ein Schritt zu der widerchristlichen Rohheit, den Zustand (das Bewusstsein, die Meinungen) der Einzelgemeinde als Norm für das geistliche Amt und dessen Verwaltung zu betrachten. Bevor die Besseren zu dieser leichtfertigen, aber unvermeidlichen Konsequenz gelangen, wogen in ihnen die Zeitgedanken und die ewigen Gedanken, die Gewissheiten und die Ungewissheiten, Menschenmacht und Gottesmacht, Menschenrecht und Gottesrecht, gleich dem unsteten Fluge von Vogelscharen auf und ab, und dieses Wogen und Schwanken versetzt sie oft in den mitleidswürdigsten Zustand, bis sie dann, um dieser einem menschlich festen Charakter auf die Dauer unerträglichen Schwankungen definitiv los zu werden, sich in die Konsequenz der Akkommodation an das Zeitbewusstsein oder an das augenblickliche Gemeindebewusstsein durch einen Todessprung flüchten. Wie man das Hervorgehen des Amtes aus der Gemeinde aus dem Neuen Testamente und aus den Bekenntnissen der evangelischen Kirche rechtfertigen könne, würde schlechthin unbegreiflich sein, wenn nicht die Furcht vor den unbeugsamen Tatsachen und die Liebe zu den biegsamen Worten so Vieles erklärte. Das matheteuein, baptizein und didaskein welches Matth. 28,18-20 dem Apostolat verliehen wird, ist doch eben das, was das geistliche Amt noch heute zu verrichten hat, und soll dauern bis zur Vollendung des aion; die Rhetoriker selbst aber verstehen doch wenigstens an dieser Stelle den aion nicht von der Apostelzeit. Daraus folgt aber, wenn nicht der verkehrte Wille den Verstand auf Nebenwege führt, dass nicht allein die Apostel, sondern diejenigen, welche ihnen nachfolgen, die Tat Christi des Herrn: das matheteuein woraus alle andern Handlungen des geistlichen Amtes folgen, in welchem sie sämtlich wie im Mutterschoße verschlossen liegen, an Seiner Statt (S.98) und in Seinem Namen zu wiederholen haben bis an das Ende der Tage. Auszuweichen ist dieser Konsequenz ohne die krausesten Nebensprünge, welche sich selbst richten, nur auf einem der beiden Wege: entweder hat Christus sich vorgestellt, er werde mit dem Tode des letzten Apostels zur synteleia tou aionos wiederkehren – dann war er ein falscher Christus, nicht Davids und nicht Gottes Sohn; oder es musste, nach irvingianischer Vorstellung, der Apostolat fortdauern. Dann hat sich der Herr Christus in seinen Aposteln (vielmehr genauer: in der Wirksamkeit des heiligen Geistes) geirrt, und er ist wiederum nicht der rechte Christus. Erwägt man nun noch die weiteren, vollkommen deutlichen und eine Missdeutung nur dem absichtsvollen Misswollen übrig lassenden Bestimmungen des N. T. über das von Gott eingesetzte Amt der Hirten und Lehrer, welches identisch ist mit dem Episcopen- (Presbyter-) Amte 1. Petr. 5,2. Act. 20,28, mit den hegoumenois (Act. 15,17. Hebr. 13,7.17) und proistamenois (Röm. 12,8. 1Thess. 5,12), und Abbild und Fortsetzung des Erzhirtenamtes (Joh. 10. Joh. 21. 1Pet. 5,4. 2,25. Hebr. 13,20); wie diese Hirten von den Aposteln und Evangelisten eingesetzt werden und die Fortpflanzung dieser Einsetzung sogar ausdrücklich anbefohlen wird (2. Tim. 2,2), im Gegensatz gegen die aus der Gemeinde hervorgehenden falschen Lehren (2 Tim. 4,2), – erwägt man dies alles, so staunt man schon über das Emporkommen einer Theorie vom geistlichen Amte, nach welcher dasselbe aus der Gemeinde hervorgehen soll, erschrickt aber darüber, dass es in unserer Zeit der angestrengten Schriftforschung und „Vertiefung“ in die Schrift möglich gewesen ist, diese der Schrift ins Angesicht widersprechende Theorie nicht nur fortzupflanzen, sondern sogar eigens auszubilden. Erklärlich wird dies nur, wenn man weiß, welche unglaubliche Macht überkommene Redensarten, rhetorische Sätze, auf so viele Gemüter ausüben. Die Sachen haften bei ihnen nicht, aber die Worte. Wo möglich noch unbegreiflicher ist es, wie man den unzweideutigen Worten der A. Confession gegenüber (Art. V. im deutschen Originaltext, Art. XXVIII), und der umständlichen und eindringlichen Erörterung der Apologie nicht achtend, die Einsetzung des geistlichen Amtes als unmittelbar göttlichen Ursprungs, das Amt (S.99) als unmittelbar göttliche Potestät, unmittelbar göttliches Mandat hat in Abrede stellen oder nur anzweifeln können. Wenn im Art. XXVIII der A. C. die Mitteilung des heiligen Geistes, welche der Herr nach Joh. 20 den Aposteln verleihet, und sein Befehl Marc. 16 ohne Weiteres auf die Potestät der Bischöfe und Pfarrer angewendet wird (wie dies noch jetzt in unsern Kirchenordnungen Rechtens ist) so gehört Albernheit, Verkehrtheit und tendenziös böser Wille zugleich dazu, um zu leugnen, dass das geistliche Amt in der Kirche das Nachfolgeramt der Apostel und eben so berufen sei, wie die Apostel berufen waren, die Taten des Herrn – das Evangelium zu predigen, die Sakramente zu reichen, die Sünden zu behalten und zu vergeben – in der Welt zu deren Erlösung zu wiederholen. Ja sogar der ordo ecelesiasticus, der doch vom ministerium ecclesiasticum zu unterscheiden ist (er ist das consequens, das ministerium das antecedens) wird von Melanchthon in der Variata zu Art. XIV der Gemeinde entzogen, indem er das rite vocatum esse dadurch erklärt: „sicut et Paulus praecipit Tito, ut in civitatibus Presbyteros constituat“, und die Apologie lässt sich zu Art. XIII zu der Erklärung herbei, dass der ordo, als Dienst am Wort und Sakrament, auch ein Sakrament genannt werden könne, denn der ordo habe Zweierlei, was zum Sakrament gehöre: göttliches Mandat und göttliche Verheißung; deshalb könne denn auch die Handauflegung ein Sakrament genannt werden. Wie man gegen diese symbolischen Bestimmungen und Aussprüche den Anhang zu den Schmalkalder Artikeln de potestate et jurisdictione episcoporum anführen könne, ist, wenn man nicht Absichtlichkeit annehmen will, nicht anders als aus Nachlässigkeit und Leichtfertigkeit zu erklären; dieser Anhang handelt von nichts Anderem, als von den Stufen des geistlichen Amtes, von welchen mit Recht behauptet wird, dass sie humani juris seien, und dass die Ordination, durch einen Pfarrer in seiner Kirche vollzogen, jure divino rata sei; dass also, wo die Kirche mit ihrem Amt sei, da auch die Wahl und Ordination der Geistlichen eine rechtmäßige sei, und folglich die Kirche an die Ordination ihrer Diener durch die damaligen dem Evangelium feindseligen Bischöfe nicht gebunden sein dürfe. Von einem Ursprunge des geistlichen Amtes aus der Gemeinde enthält dieser Anhang nicht nur nichts, sondern im Eingange (S.100) (Evangelium tribuit his, qui praesunt Ecclesiis, mandatum docendi Evangelii, remittendi peccata, administrandi Sakramenta, praeterea jurisdictionem, videlicet excommunicandi eos qui rel.) gerade das Gegenteil, und vom Ursprunge des ordo aus der Gemeinde, mit Übergehung des Amtes in der Gemeinde, nichts weiter als – die Wahl der Geistlichen, deren Bestätigung durch den Bischof vorbehalten bleibt (Anm.: Die präceptive (symbolische) Stelle dieses zweiten Anhangs zu den Schmalkalder Artikeln ist der Schluss desselben: Cum igitur Episcopi usw.: alles Vorausgehende ist Begründung. Außerdem ist es klar und unwidersprechlich, dass in der ganzen Darstellung dieses Anhangs die Ecclesia nebst den Pfarrern und das Pfarramt selbst den Episcopis entgegengesetzt, die ordinatio also, welche der ecclesia vindiziert wird, nicht der ecclesia ohne das Hirtenamt, sondern dem Hirtenamt in dieser ecclesia im Gegensatz gegen die Usurpation der Ordination Seitens der Bischöfe zugeeignet wird.) Da handelt es sich aber nicht um geistliches Amt, und um den ordo nur in zweiter Stelle, insofern nämlich durch die Wahl die Erteilung des ordo bedingt wird, denn dass „Ursprung des geistlichen Amtes aus der Gemeinde“ und „Wahl eines einzelnen Pfarrers durch die Gemeinde“ eins und dasselbe sei, wird doch wohl selbst der phrasenhafteste und ansichtenvollste Rhetoriker nicht behaupten; das wäre eine Behauptung, kaum eines Rudimentarius und Abecedarius würdig. Dass in neuerer Zeit der geistliche Stand auch das geistliche Amt, durch welches er ist, was er ist, mit allen Befugnissen welche demselben zustehen und allen Pflichten welche dasselbe auferlegt, und die dem Stande zukommenden Rechte, namentlich die Selbständigkeit auf dem kirchlichen Gebiete, wieder in Anspruch nimmt, das erregt vor allem den Zorn der Welt: den jenseitigen Gott, den fernen längst gestorbenen Christus, das Phantasma des heiligen Geistes lässt sie sich gefallen; sobald aber dieser Gott diesseitig werden, der tote Christus sich als lebendig und gegenwärtig darstellen und sogar in der wirklichen Welt regieren, der phantastische heilige Geist sehr merklich in die Realität einrücken und über diese Realität richten will – da treten die Mächte des Fleisches auf: die Massen des Pöbels aller Stände erheben ein einstimmiges unartikuliertes Wutgeschrei, und die Sansculottes der Salons, der Tabagieen und der Theologie rufen Tag für Tag dem süßen Pöbel (S.101) zu: Hierarchie – Pfaffenherrschaft – Katholisieren – Papsttum – Tridentinum – tiefes Mittelalter – dicke Finsternis – Geistesknechtschaft – Inquisition – Scheiterhaufen! – Und sofort beginnt durch Nachrufen dieser Wörter vieltausendstimmiges Charivari. Schon der erste dieser Rufe gehört nur dem Pöbel an. Je lauter aber der Pöbel schreit, um so mehr befähigt sich der geistliche Stand, diejenigen Funktionen zu übernehmen, die ihm entrissen sind, die ihm aber nicht allein nach göttlichem Rechte, wonach die Welt des Fleisches nicht viel fragt, sondern auch nach menschlichem Rechte, wonach zu fragen sie doch leicht veranlasst werden könnte, zustehen, nämlich nach dem Rechte der Augsburgischen Confession (in der Vorrede, im 14. und 15. so wie im 28. Artikel), woraus leicht eine dereinstige Revision unseres dermaligen Kirchenrechtes folgen möchte. Einstweilen danken wir den Sansculotten und dem Pöbel für das erhobene Geschrei, und wünschen, dass dasselbe vorerst noch einige Zeit fortdauern möge, damit jene Befähigung gedeckt durch diesen Korybantenlärm Zeit und Veranlassung habe, zur Reife zu gedeihen.