August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868):
Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik.
VIII. Kirchenzucht.
In den feindseligsten Gegensatz pflegt sich die rhetorische Theologie mit der Kirchenzucht zu setzen, und da wir fast ein Jahrhundert lang, hier und da noch länger als ein Jahrhundert, gar keine Kirchenzucht gehabt haben, weil ganz unberechtigte weltliche Erlasse und Verordnungen bald diesen bald jenen Act der kirchlichen Disziplin untersagten und die Kirche sich in ihren feigen Beamten unter das weltliche Joch, oft nur allzu willig, bringen ließ, so ist das Wort Kirchenzucht allerdings für die jetzige und zum Teil schon für die nächstvorhergegangene Generation ein leeres Wort geworden, gut für den Dienst der Phrasentheologie. Selbst Personen des geistlichen Amtes, welche sonst nichts mit der rhetorischen Theologie zu schaffen haben, wissen mit der Kirchenzucht im Leben nichts anzufangen und sind, den Rhetoren hierin ganz gleich, gegen die Wiedererweckung der Kirchenzucht eingenommen. Übrigens ist die Kirchenzucht nicht allein in demselben, sondern teilweise in noch höherem Grade als in der evangelischen Kirche auch in der katholischen Kirche erstorben, und die Wiedergewinnung derselben bietet dort kaum geringere Schwierigkeiten dar, als bei uns, abgesehen davon, dass dieselbe dort allezeit prinzipmäßig laxer gewesen und laxer gehandhabt worden ist, als hier. In diesem Punkte stehen nun die Rhetoriker unter den Theologen ganz und gar auf Seite der Welt und machen mit derselben gemeinschaftlich Sache gegen die Kirche; Da hören wir denn die abenteuerlichsten Behauptungen, wie z. B. dass das Amt der Schlüssel der ganzen Kirche und nicht bloß dem geistlichen Amte überwiesen sei (Anm.: Ich nenne diese Behauptung abenteuerlich, obgleich ich wohl weiß, wie alt sie ist, und welche Autoritäten für sie eingetreten sind, weil ich niemals – auch nicht in jener früheren Lebenszeit, wo ich am Amt der Schlüssel so wenig Behagen fand, wie an manchen andern kirchlichen Dingen – nur im Entferntesten zu begreifen vermocht habe, wie man dieselbe auch nur notdürftig aus der Schrift zu rechtfertigen versuchen könne. Für mich sagt die Schrift das direkte Gegenteil von dieser Behauptung und hat es mir immer gesagt. Dass unsere Bekenntnisse (Augsb. Conf. Art. V, XI, XII, XXVIII und die dazu gehörigen Erörterungen der Apologie) jener Behauptung wahrhaft vernichtend entgegentreten, bedarf keines Beweises, aber freilich tritt hier der vorher berührte Umstand ein, dass ein lange Zeit und oft wiederholter Satz nachgesprochen, aber der Inhalt der Symbole gänzlich übersehen wo nicht verachtet wird. Dass der Anfang zu den Schmalkalder Artikeln de potestate episcoporum seinem Sinne nach jener Behauptung keine Stütze gewähre, übrigens auch, als Erläuterung zur A. C., mit derselben in einen Widerspruch nicht treten könne noch dürfe, sollte sich von selbst verstehen. Jedenfalls gehört der Versuch, mit diesem Anhang gegen die A. C. operieren zu wollen, zu den abenteuerlichsten Abenteuerlichkeiten.), dass die evangelische Kirche gar keinen Kirchenbann kenne, (S.81) oder dass wenigstens der große Bann (Anm.: Es versteht sich hier und überall, wo ich den großen Bann der evangelischen Kirche erwähne, dass derselbe allezeit ausschließlich durch das Wort, mit gänzlicher Remotion jeglicher weltlichen Gewalt, auch des Anrufens des weltlichen Arms zur Aufrechthaltung desselben, gehandhabt werden soll und von mir gehandhabt worden ist.) als etwas völlig Abgestorbenes und gänzlich ungültig Gewordenes zu betrachten sei, oder dass es „wider alle protestantische Prinzipien laufe, die Sünden im großen Bann für den unbekehrten Todesfall des Exkommunizierten auf die Ewigkeit und das jüngste Gericht in Gottes Namen zu behalten“, wie alles dies noch in neuerer, ja neuester Zeit von namhaften Universitäten aus dem Munde „rechtgläubiger“ Lehrer die junge Theologenwelt mitbrachte, alles im direktesten und ungebürlichsten Widerspruch mit der Augsburgischen Confession und deren Apologie, und was die vorgebliche desuetudo betrifft, im direktesten Widerspruch mit der Praxis wenigstens einzelner Länder und Landesteile, z. B. Kurhessens, wo, wenigstens im Niederfürstentum, der kleine Bann niemals aus der Übung gekommen ist, und ich, als ich im Jahre 1851 die Verwaltung der Superintendentur an der Diemel und Schwalm übernahm, den großen Bann in vollster Übung antraf. Da derselbe sich in ungewöhnlicher (und für mich selbst unerwarteter) Weise, damals hauptsächlich in seiner Anwendung gegen die die kirchliche Trauung verschmähenden Zivilehepaare, wirksam bewies, so wurde ich von allen Seiten, von Pfarrern, Kirchenältesten und einzelnen Gemeindegliedern angegangen, dieses Zuchtmittel auch gegen die übrigen offenbaren Sünden und Auflehnungen wider Gottes Wort und die Ordnung Seiner Kirche anzuwenden, so dass ich nicht selten zur Geduld und zum langsamen Vorschreiten durch Anwendung der niederen Disziplinarmittel habe ermahnen und Anweisung erteilen müssen. Auch andere kirchendisziplinarische Anordnungen, welche verschiedene kurhessische Kirchen- (S.82) behörden in den Jahren 1850 – 1855 getroffen haben, z. B. eine nach bestimmten Stufen eingerichtete Bußzucht, welche ich selbst, und darnach das Konsistorium zu Kassel für seinen damaligen Pastoralbezirk einführte, eine strengere Bestimmung der Fähigkeit zum Patenamt, welche von dem Konsistorium zu Kassel vorbereitet und darnach von den Superintendenten zu Kassel und Allendorf adoptiert wurde, eine Verordnung über die Ausschließung der Selbstmörder u. dgl. vom kirchlichen Begräbnis, und Mehreres der Art, kamen dem allgemeinen Wunsche der Pfarrer und Presbyterien so wie der kirchlich gesinnten Mitglieder der Gemeinden eben so entgegen, wie die vorher bezeichneten Verfügungen über den Kirchenbann. Ich führe diese Tatsachen darum an, damit man daran ermesse, was von Äußerungen zu halten ist, wie die des Herrn Richter in Berlin (S. 64 seines Gutachtens die neuesten Vorgänge in der evangelischen Kirche des Kurfürstentums Hessen betreffend. 1855. 8), worin sich übrigens die Gesamtstimme der Rhetorik im Chorus mit der Stimme der kirchenfeindlichen Welt ausspricht: „dass die Zucht im engeren Verstande in Verfall, oft in Vergessenheit geraten ist, ist ein schwerer Verlust. Aber sie von oben durch Befehle herzustellen, so lange nicht das erwachte Leben der Gemeinden entgegenkommt, bleibt zum höchsten bedenklich, weil sie dadurch in der Gefahr steht, bei den Einen ein bloß gesetzliches Werk zu werden, bei den Andern die Entfremdung von der Kirche zu vollenden. Dieser Satz ist nicht bloß den Pfarrern, sondern auch den Konsistorien zur Beobachtung empfohlen“. Diese „Empfehlung“ ist nicht überall wohl angebracht, entschieden übel im Niederfürstentum Hessen; sollte sie, wie nach dem Zusammenhang nicht anders angenommen werden kann, wirklich in nächster Beziehung auf Kurhessen ausgesprochen sein, so ist sie eine Ungeschicktheit, daher erklärlich, dass sich Hr. Richter nicht die Mühe hat nehmen mögen, sich nach den in dem hiesigem Lande wirklich vorhandenen Tatsachen umzusehen. Die Tatfachen aber sind die, dass den gedachten Anordnungen bei uns (in ganz Niederhessen, in Hersfeld und Schmalkalden) wirklich das erwachte Leben der Gemeinden entgegen kam. Ich kann hiervon selbst nicht einmal die Stadt Kassel ganz ausnehmen. Wer so absprechend urteilen will, wie Herr Richter, ohne zu wissen, worüber er urteilt, der wird (S.83) billig als ein gänzlich inkompetenter Richter verworfen, und man lacht ihm wohl noch dazu ins Gesicht. Der eben zitierte Satz des Hrn. Richter enthält aber noch andere, allgemeine Irrtümer neben diesem besonderen, und nicht minder arge als dieser – allesamt aus dem kleinen Umstande hervorgegangen, dass die Rhetorik sich um das wirkliche Leben und die wirklichen Bedürfnisse und Ordnungen der Kirche nicht bekümmert, vielmehr dieselben auf ihrem Studierzimmer oder in den Salons der Welt vornehm ignorieren zu dürfen glaubt. Woher soll das Erwachen des Lebens der Gemeinde kommen? Etwa bloß von der Predigt? Damit ist die Rhetorik im allerschlimmsten Irrtum. Die Predigt kann erwecken, das ist nicht zu leugnen, und das reine Wort Gottes in der Predigt erweckt gewiss, früher oder später, je nachdem es dem heiligen Geist gefällt, die Herzen aufzutun. Aber die Predigt erweckt nicht immer, teils und in den meisten Fällen, weil dieselbe nicht rechter Art ist, namentlich Gottes Wort nicht rein genug (um nicht zu sagen: nicht ganz rein) enthält und nicht mit dem haec dixit Dominus ausgestattet erscheint, teils weil der heilige Geist oft lange verzieht, ehe er nur ein einziges Herz auftut, und während dieser Wartezeit sich oft die schlimmsten Ärgernisse einschleichen, welche nachher durch keine Predigt weggeschafft werden können. Gerade die wohlhabendsten, äußerlich und scheinbar ehrbarsten Bauerdörfer sind nicht selten an diesem Übel krank, weit mehr krank, als arme Taglöhnerdörfer. Da muss zur Erweckung ein anderes Wort Gottes gebraucht werden, als das Wort der Predigt, und es ist einer der hässlichsten Flecken in unserer jetzigen rhetorischen Theologie, dass man, im schreienden Widerspruch mit unsern Bekenntnissen, nur das Wort der Predigt „Wort Gottes“ nennen, das Strafen aber durch den Bann, das Behalten der Sünden in Gottes Namen, was doch auch nur durch Gottes Wort vollzogen wird, nur als menschliche Handlung gelten lassen will. Das ist eine Verkürzung des Wortes Gottes, welche zur empfindlichsten Züchtigung aufruft, und welche Gott der Herr an den Verkürzern ohne alle Frage am jüngsten Tage rächen wird. Denn es ist durch diese Verkürzung eine unzählbare Schar von Seelen verloren gegangen, welche, zum Teil wahrscheinlich ganz leicht, durch Anwendung des Wortes Gottes in der potestas jurisdictionis (S.84) ecclesiastica hätten gerettet werden können. Und wem die Gabe des Wortes Gottes in der Predigt nicht in ausreichendem Maße gegeben ist, dem ist oft gerade die Gabe des Wortes Gottes zum Strafamt in ausgezeichneter Weise verliehen. Am allerwenigsten aber darf das Oberhirtenamt, wenn es nicht an dem ewigen Verderben der auf seine Seele gelegten Seelen schuldig werden will, zuwarten, bis das Leben der Gemeinden etwa „von selbst“, wie man in schändlich gotteslästerlicher Weise wohl zu sagen pflegt, erwacht. In seine Hand ist das Strafamt (in den meisten Landeskirchen mit Recht ausschließlich) gelegt, und dieses Oberhirtenamt muss wissen, dass von ihm die Erweckung der Gemeinden ausgehen soll, oder der Herr wird den Hirten samt der Herde zerscheitern; es muss wissen, wo es durch das Strafamt zu erwecken habe, und sich durch so flaue, allem kirchlichen Leben und aller Amtspflicht Hohn sprechende Redensarten, wie sie in den oben aus Hrn. Richters Munde zitierten Aussprüchen vorkommen, nicht irre machen lassen. Solche Redensarten zu Tage fördern, heißt dem Hirtenamt und zumal dem Oberhirtenamt Nachlässigkeit anempfehlen, Faulheit predigen, Prosopolepsie anraten; das heißt, den Tod in den Gemeinden nicht sehen, weil man selbst tot ist, oder den Tod in den Gemeinden nicht sehen wollen, weil man den Tod will. Dass hin und wieder Einige aus dem Wort Gottes ein gesetzliches Werk machen – hat dafür etwa das Oberhirtenamt einzustehen? einzustehen für den Missbrauch, welcher ohne sein Wissen durch einzelne Unverständige und Neophyten von dem Worte Gottes gemacht wird? Weiß aber das Oberhirtenamt von neophytischem Missbrauch des Strafwortes Gottes zur Gesetzesgerechtigkeit, so müsste es elend und zum Fluche der Träger desselben verwaltet werden, wenn diesem Missbrauch nicht mit ganz leichten Mitteln gesteuert werden sollte. Oder soll sich das Oberhirtenamt etwa davor fürchten, dass bei Einigen die Anwendung des Wortes Gottes zum Strafamt dazu diene, ihre Entfremdung von der Kirche zu vollenden? Das wäre doch eine, auch weltlich niederträchtige, Prosopolepsie. Kennt denn die rhetorische Theologie oder das rhetorisierende Kirchenrecht wohl das Wort des heiligen Apostels Paulus, dass er mit seinem Gotteswort den Einen ein Geruch des Lebens zum Leben, den Andern ein Geruch des Todes zum Tode sei? Freilich, kennen wird die (S.85) Rhetorik dieses Wort wohl, denn als Rhetorik kennt sie alle Worte; aber dieser Spruch des Apostels ist einer von denen, welchen die Rhetorik, die theologische wie die kirchenrechtliche, ein für allemal nicht versteht. Mit dem Augenblick, wo sie ihn verstünde, würde sie aufhören Rhetorik zu sein und eine Theologie der Tatsachen werden. Wo Gottes Wort als Gottes Wort verkündigt wird, da gibt es eine Scheidung, und zwar eine definitive. Ich erwähnte so eben, dass das Wort Gottes, auf der Kanzel gepredigt, nicht das einzige Wort Gottes sei, um neben die Predigt des Gotteswortes von der Kanzel das durch ausdrücklichen Befehl des Herrn zum Strafamt bestimmte Gotteswort zu stellen. Aber es gibt auch noch mehr Formen, in welchen das Wort Gottes in den Gemeinden neben der Kanzelpredigt von Seiten der Evangelisten und Hirten verkündigt und geltend gemacht werden muss, wenn das Hirtenamt seine Schuldigkeit tun will. Dahin gehört vor allem die Einpflanzung des Wortes Gottes in die Familie, und eine Form wiederum dieser Einpflanzung ist das sogenannte Brautexamen. Dieses Institut erregt bei der Rhetorik das allgemeinste und höchste Missbehagen: es gebe sich, sagt sie, in der Wiedereinführung desselben, ein starres Drängen nach der äußern Ordnung kund, und arte sogar offenbar in unevangelische Übertreibung aus. Die Rhetorik will, anstatt der geforderten Rezitation des Katechismus, eine „freie Unterredung“ des Pfarrers mit den Brautleuten. Die soll mir schon ganz recht sein, wenn ich nur des versichert bin, dass der Inhalt des Katechismus bei den künftigen Eheleuten noch fest steht. Das aber ist die Frage, und doch kann ohne dies grundlegende Minimum christlicher Kenntnis von einer Familie, welche Glied einer Gemeinde, und von einer Gemeinde, welche Glied der heiligen allgemeinen christlichen Kirche sein soll, nicht im Entferntesten die Rede sein. Das Wort Gottes muss wenigstens in seinen allgemeinsten und elementarsten Stücken den Gliedern der Gemeinde, vorab den Hausvätern und Hausmüttern, wörtlich gegenwärtig sein und jeden Augenblick wörtlich zu Gebote stehen, oder sie fallen aus dem Wort Gottes, aus der Gemeinde, aus der Kirche heraus; die Anknüpfung des Verständnisses zwischen dem Hirten und den Gliedern der Herde kann auf nichts Anderem ruhen, als auf solchen einfachen, aber (wenigstens im Gedächtnis) unwandelbar (S.86) feststehenden Worten Gottes. Die einzelne Predigt wird vergessen; das einfache Wort Gottes im Katechismus, steht es einmal fest und wird für dessen Festhaltung rechtzeitig und in einer durch lange kirchliche Erfahrung erprobten Weise gesorgt, wird nicht vergessen. Als solche einfache Worte hat die christliche Kirche von Alters her und die evangelische Kirche von ihrem Anfange an diejenigen Stücke bezeichnet, welche wir Katechismus nennen. Diese Stücke werden freilich in der Schule gelernt, reichen aber weit über die Schule hinaus, weit in das Leben, reichen bis in die Todesstunde hinein. Wer darum fürchtet, es werde dadurch, dass auf das Feststehen dieser Stücke gehalten wird, aus der Kirche ein Stück Schule gemacht, (und das ist die Formel der Rhetorik, welche sie in diesem Falle regelmäßig anwendet, in ganz gleicher Weise, wie die fortgeschrittensten Bildungsmenschen unserer Zeit) der weiß nicht was er redet, kennt wenigstens das wirkliche Leben in der Kirche mit seinen Bedürfnissen ganz und gar nicht. Es sind eben kirchliche Lehrstücke und nicht Schulstücke. Die Verachtung des Katechismus, welche sich hier zeigt, ist nicht viel besser als die Missachtung des Wortes Gottes im Strafamt, von welcher vorher die Rede war, und in einem Punkte noch schlimmer, denn sie zerstört die Familien als christliche Familien auf das Allergewisseste und das Allergründlichste. – Wer nun, wie ich, dreißig Jahre lang die Erfahrung gemacht hatte, dass einzeln selbst in Landgemeinden, fast ganz allgemein in den Stadtgemeinden und beinahe ausnahmslos in den „gebildeten“ Ständen von denjenigen, welche vier bis fünf Jahre aus der Schule waren, das Unser Vater nicht mehr ohne Anstoß hergesagt werden konnte, also ein Erlöschen aller Gebetszucht bereits eingetreten war und ein gänzliches Vergessen des Gebets in den künftigen Familien mit unzweifelhafter Sicherheit vorausgesagt werden musste – dass die Glaubensartikel kaum noch in einzelnen abgerissenen Sätzen aus dunkler Erinnerung auftauchten und die zehn Gebote wenigstens als zehn schlechterdings nicht aus dem Gedächtnis herzustellen waren, der musste es als eine der ernstesten Pflichten anerkennen, dieser heillosen und in ihrem Erfolg vernichtenden Verwüstung der Kirche durch Wiederherstellung wenigstens einer noch vorhandenen auf die Heilung dieser tödlichen Schäden zielenden Ordnung zu steuern. Diesen Versuch habe ich einst mittels (S.87) Wiedereinführung des Brautexamens (welcher in der hessischen Kirchenordnung vorgeschrieben ist) gemacht. Es war ein Ruf an die Hirten, ob sie noch Einsicht, Willen und Kraft hätten, die sich zerstreuenden Herden zu sammeln, an die Herden, ob sie noch sich sammeln lassen wollten. Verhallt dieser Ruf ungehört – so weiß ich, welches Zeichen hiermit gegeben ist, dass mich aber das Wort des allmächtigen Gottes (Ezechiel 33,9) decken wird. Wie wenig übrigens die Anordnung des Brautexamens eine „unevangelische Übertreibung“ ist, wie es die Rhetorik in ihrem Weltsinne dünkt, könnte sie inne werden, wenn es ihr wirklich um Ermittlung von Tatsachen und nicht um Redensarten zu tun wäre, sobald sich die Herrn Rhetoriker nur bei einem unserer treuen Pfarrer (und deren haben wir in Hessen Gott sei Dank gar manche) zur Anhörung eines Brautexamens einfinden wollten; mich hat diese Anhörung erbaut und ich habe daraus selbst gelernt; ob freilich Rhetoriker sich daran erbauen würden ist eine andere, ob sie daraus lernen würden, wieder eine andere Frage. Es sind das Tatsachen, und die scheut man. Und dass diese Ordnungen der Predigt des göttlichen Worts außer der Kanzel diese Institute, wirklich mehr leisten als die Kanzelpredigt, könnte aus der, mir in den letzten sechs Jahren wiederholt entgegen getretenen Erfahrung entnommen werden: in Gemeinden, in welchen fünfzig Jahre lang sehr gering zur Kanzelpredigt begabte und sonst keineswegs tadelfreie Pfarrer gestanden hatten, welche nachher durch feindselige oder schwache Rationalisten waren abgelöst worden, war aus der noch nach den alten Ordnungen streng normierten Tätigkeit jener ersten Pfarrer – einer von ihnen hatte wirklich fast nichts getan, als das Brautexamen streng nach der Vorschrift gehalten – die aus dem Brautexamen stammende Kenntnis das Einzige, was übrig geblieben war und dem Rationalismus beinahe vierzig Jahre lang Widerstand geleistet hatte. – Doch – Erfahrungen? was Erfahrungen! Worte, Formeln, Redensarten! Gerade diese letztere Art Kirchenzucht nebst noch manchen andern hier füglich zu übergehenden Gattungen derselben hat nun diejenige Schicht unserer Gesellschaft, welche sich die gebildete nennt, vorzugsweise nötig. Christlich gebildet ist sie, die Masse in das Auge gefasst, unvergleichbar weniger als irgend eine der andern Gesell- (S.88) schaftsschichten. Schon dieser Umstand, sodann aber auch der, dass nur auf diesem Wege, der Bindung der Familien an den Katechismus, die Verständigung zwischen den Gebildeten und Ungebildeten, das Ausfüllen der tiefen Kluft zwischen vornehmem Christentum und Christentum für das gemeine Volk – ein Unterschied, an welchem unsere gebildete Welt eben so wie die Rhetoriker mit fast widerchristlicher Zähigkeit festhält – gelingen, nur auf diesem Wege einer den Einen wie den Andern mit denselben Elementarstücken des Gottesworts, mit dem Katechismus, behandelnden Disziplin jener Riss wieder geheilt werden kann, macht es dem Hirtenamt zur strengsten Pflicht, zunächst mit dieser Disziplin gleichmäßig, ohne alles Ansehen von Vornehm oder Gering, Gebildet oder Ungebildet, vorzuschreiten. Oder wisst ihr, Rhetoren, eine andere Disziplin, welche etwa unserer Zeit mehr angemessen wäre und doch dasselbe leistete? Eine Antwort darauf wird kein Rhetoriker zu geben wagen. Sie wissen keine andere Disziplin, sie wollen überhaupt keine Disziplin, gar keine. Die Rhetorik, welche diesmal mit dem rohesten Weltsinn, ja mit bewusster Kirchenfeindschaft eines und desselben Weges gehet, sagt nämlich also: „Die alten Kirchenordnungen sind, wo sie nicht aufgehoben, noch als Teile des gesetzlichen Materials anzusehen. Aber in der zwischen ihnen und der Gegenwart inneliegenden Zeit ist eine Wandlung der sittlichen Zustände, der Lebensverhältnisse und der Vorstellungen vorgegangen, welche bei der Erneuerung der in ihnen enthaltenen Bestimmungen nicht außer Acht gelassen werden darf, wenn nicht bloß äußere Gesetzlichkeit gefördert werden, sondern ein wahrhafter Fortschritt im Wiederaufbau der Kirche geschehen soll“ (Anm.: Richter Gutachten S. 64.). Solche Äußerungen verdienen von zwei Prädikaten eins, aber eins gewiss; entweder sind sie unverständig oder sie sind frivol. Die „Wandlung der sittlichen Zustände“ besteht darin, dass die gebildete Welt vom Christentum abgefallen ist, die „Wandlung der Lebensverhältnisse“ darin, dass Gebildete und Ungebildete, Vornehme und Geringe, Reiche und Arme sich von einander abgesondert haben, wie es seit dem Untergange des Römerreiches nicht wieder (S.89) geschehen ist; die „Wandlung der Vorstellungen“ darin, dass die Phrase herrscht statt der Tatsache. Das sind Zeichen des Untergangs. Bringen wir diese Zeichen bei der Verwaltung des Kirchenamts, bei der Regierung der Kirche mit in Rechnung, so verwickeln wir Kirchenamt und Kirche, so viel an uns ist, mit in den Untergang. Die Kirche hat sich dieser Wandlung entgegenzustellen; mit aller Rücksichtslosigkeit und Unbedingtheit durch die Zucht, welche sie mittels des Wortes Gottes ausübt. Nur dadurch wird sie bleiben; die jetzige Welt wird untergehen, wenn sie sich nicht durch die Zucht der Kirche will umwenden lassen.