Tienhaarassa, Hugo Simberg, Public domain, via Wikimedia Commons
Am Scheideweg
Dieses Bild braucht eigentlich keine Erklärung, denn die Situation ist uns vertraut: Da steht einer unschlüssig am Scheideweg, wo er nur links oder rechts gehen kann. Und von den Kindern, die er an der Hand hat, zieht eines hierhin und eines dorthin. Er aber kann nur eine Richtung einschlagen. Und sobald er das tut, wird er entweder mit dem linken oder dem rechten Kind Ärger bekommen. Wir verstehen, dass er zögert. Und erschwerend kommt hinzu, dass es sich gar nicht um Kinder handelt, sondern um einen Engel und einen Teufel. Der Maler wollte nicht die Situation eines, sondern aller Menschen darstellen! Denn an solchen Weggabelungen, wo wir uns – innerlich zerrissen – zwischen Gut und Böse entscheiden müssen, stehen wir immer wieder. In der Regel wissen wir, was gut wäre. Das Böse erscheint aber verlockender. Und so zaudern wir. Für einen Moment sind wir ratlos und täten lieber gar nichts. Aber dann verlangt das Leben, dass wir handeln. Auch weiteres Zögern hätte Folgen. Und so handeln wir trotz des inneren Zwiespalts – sind aber keineswegs glücklich dabei. Denn wir ahnen (und das Bild zeigt auch), dass die beiden Weg nicht zum selben Ziel führen. Auf beiden Seiten gelangt man zu einer Anlegestelle für Segelboote. Und der bewaldete Hügel dazwischen bringt uns kurz auf Ideen. Vielleicht könnte man den rechten Weg gehen und dann noch schnell über den Hügel zur linken Anlegestelle laufen? Zuletzt nimmt aber jeder ein Boot mit weißem oder rotem Segel. Andere gibt es nicht. Und die Entscheidung wird unumkehrbar sein. Denn wenn man am anderen Ufer landet, gibt es dort zwischen links und rechts keine Verbindung mehr. Ist der große Fluss vielleicht ein Sinnbild des Todes? Dann kann der Mensch die Seiten nur wechseln, solange er lebt – danach aber nicht mehr. Denn was jenseits des Flusses geschieht, ergibt sich aus der diesseits getroffenen Entscheidung. So weitreichende Konsequenzen sind erschreckend! Aber überraschend kommen sie nicht. Denn einerseits hat unser Mann an der Gabelung des Weges gute Sicht – seine Optionen stehen ihm klar vor Augen. Und andererseits sind Engel und Teufel so klein dargestellt, dass sie ihn in keine Richtung zwingen könnten. Der Mann ist groß genug, sich mit Hilfe eines Begleiters gegen den anderen durchzusetzen. Er ist frei, seinen Weg zu wählen. Nur – die Wahl zu verweigern und die Verantwortung abzugeben, steht ihm nicht frei. Was immer sein Mund an Ausflüchten vorbringen mag – letztlich gehen seine Füße nach links oder rechts und verraten damit, wie er wirklich gesinnt ist. Durch konkretes Tun dokumentiert der Mensch, wer er sein will und worauf er aus ist. Und wenn er infolge eigener Schritte bei dem weißen oder dem roten Anleger ankommt, kann er nicht sagen, er habe da nicht hingewollt. Denn die Sicht war gut – und der Engel vom Teufel nicht so schwer zu unterscheiden. Wenn einer aber dort ankommt, wohin ihn die eigenen Füße trugen, darf er dann jammern? Wenn das Bild auf absehbare Konsequenzen verweist, ist es dann „moralisierend“? Oder ist es eine Zumutung, dass wir keine andere Wahl haben, als zu wählen? Wir fordern doch so oft Freiheit! Ärgert es uns, wenn die dann Folgen hat? Wären wir gern auch noch „frei“ von den Folgen? Das machte wenig Sinn. Denn folgenlose Freiheit gibt es nur für Kinder. Alle anderen stehen am Ende dort, wohin ihre Füße sie trugen.