Böcklins Toteninsel

Böcklins Toteninsel

Die Toteninsel III / Arnold Böcklin, Public domain, via Wikimedia Commons

 

Dieses Bild ist ziemlich berühmt und hat schon vielen Menschen tiefen Eindruck gemacht, weil es so eine feierliche Stille ausstrahlt, weil’s schön ist, traurig und traurig-schön, weil‘s geheimnisvoll wirkt – und irgendwie auch gruselig. Der Maler, Arnold Böcklin, hat zwischen 1880 und 1886 fünf Fassungen davon gemalt. Und die ersten beiden sind noch düsterer als diese dritte, weil sie die Insel bei Nacht zeigen. Aber Tag oder Nacht – irgendwie liegt ein Mysterium über der Szene. Und auch mit genügend Licht kann man lange draufschauen, ohne wirklich einzudringen. Denn das Bild bleibt abweisend kühl und verrät nicht viel mehr, als was man gleich auf Anhieb sieht. Die Insel da ist nicht wirklich groß. Und ihr Fels wurde offenbar von Menschenhand zu einer Begräbnisstätte gestaltet. Da sind ein paar Stufen, Simse, offene Nischen und Höhlen. Und weil dort keiner wohnt, außer den Toten, ist die Ausstattung entsprechend karg. Irgendwo zwischen den Zypressen muss es wohl hindurchgehen. Man weiß nicht wie weit. Und dahinter könnte es noch Treppen geben, enge Pfade oder vielleicht Durchgänge auf die Rückseite der Insel. Man würde das gern erkunden. Wenn’s zwischen den Bäumen aber nicht weitergeht, wäre man mit der Besichtigung in 10 Minuten fertig – und wüsste wohl weiter nicht viel zu tun. Denn da passiert ja nichts, außer dem, was wir im Vordergrund erkennen. Zwei Menschen sind im Ruderboot unterwegs, um einen Sarg zur Insel bringen. Und man schaut schon deshalb auf sie, weil allein sie etwas Leben und Wärme ins Bild bringen. Die beiden geben sich offenbar Mühe, hier jemand in Ehren zu bestatten. Denn der Sarg ist mit Blumen geschmückt, und die stehende, weiße Gestalt scheint darüber zu wachen wie über eine Kostbarkeit. Es ist ein Tun der Liebe. Der Verstorbene ist immer noch wertgeschätzt. Man hat den Aufwand nicht gescheut, den Sarg an diesen Ort zu transportieren wie ein teures Gut, das es hier abzuliefern gilt, damit es in gute Hände kommt. Aber „abliefern“ an wen – und wozu überhaupt? Wer sonst ein Paket liefert, kennt einen Empfänger, der drauf wartet, der sein Päckchen aufmacht – und sich freut. So liefert man Nahrung, damit jemand satt wird. Man liefert Besucher zu einer Versammlung, weil sie sonst vermisst würden. Man liefert Kinder in die Schule, damit sie dort lernen. Man liefert Arbeiter in eine Fabrik, weil die sonst stillstünde. Aber hier? Wer hätte auf den weißen Sarg schon gewartet? Sieht das Ganze vielleicht nur feierlich aus – und in Wahrheit geht’s ganz pragmatisch nur darum, einen Leichnam loszuwerden? Ist das nicht der Zweck jedes Friedhofs, dass er uns dieses Problems entledigt? Und bietet sich die Insel nicht als „Endlager“ an, weil sie sonst zu nicht viel zu gebrauchen wäre? Gibt man dem Tod einen Ort in maximaler Abgeschiedenheit, damit er die Lebenden nicht beim Leben stört? 

Die sterblichen Überreste einer Person bringen uns tatsächlich in Verlegenheit. Denn so gern wir den Menschen noch bei uns hätten, müssen wir seinen Leib doch irgendwo „deponieren“. Und wenn wir’s auch so schön feierlich tun wie auf dem Bild, ist es doch seltsam. Denn ein Schmuckstück bringt man zur Aufbewahrung an einen sicheren Ort. Aber was sind das für seltsame Tresore, die man in den Felsen haut, um etwas hineinzulegen – in dem Wissen, dass man nie kommen wird, um es zurückzuholen? Da wird etwas würdig aufbewahrt: durchaus! Aber für was eigentlich, für wen – und für wann? Für jeden Tag oder für keinen, für den jüngsten Tag oder für die Ewigkeit? Die weiße Figur steht jedenfalls da und schaut zum Ufer, als müsste dort jemand zum Empfang erscheinen, der den Verstorbenen entgegennimmt. Aber es ist ein verlassener Ort, und keiner wartet dort, dem man den Verstorbenen „zu treuen Händen“ übergeben könnte. Man will sich irgendwie kümmern. Aber bald hat es sich ausgekümmert. Und wenn die zwei Lebenden mit ihrem Boot wieder verschwunden sind, hat auch ihre Fürsorge ein Ende, und die Stille des Ortes könnte bald unerträglich werden. Denn da ist ja nicht mal eine Möwe am Himmel oder ein Vogel im Baum, der singen könnte. Da herrscht eine unnatürliche Ruhe, die beklommen macht. Und überhaupt passen die zerzausten Wolken am Himmel ziemlich schlecht zum kaum bewegten Wasserspiegel. Zu diesem Wolkenbild würde meines Erachtens Wind gehören. Aber die See liegt so glatt da wie bei völliger Flaute. Soll uns das etwa zeigen, dass die Stürme des Lebens über die Toten hinweggehen, ohne ihre Totenstille im Geringsten zu stören? 

Mancher mag diese Insel friedvoll finden – mir scheint sie gerade durch die große Ruhe bedrohlich. Und ihre Rundung mit dem Waldesdunkel in der Mitte erinnert doch irgendwie an einen aufgerissenen Schlund. Dort hinein verschwinden sterbliche Überreste. Und keine Fortsetzung folgt, bis höchsten nach Jahr und Tag wieder so ein Boot einen neuen Sarg bringt, um wieder irgendwen „zu seinen Vätern zu versammeln“ – wie man so sagt. So merke ich denn, dass ich mit dieser Toteninsel nicht warm werde. Und der Grund dürfte sein, dass sie eine Sackgasse ist. Beinahe wie ein Endlager für abgebrannte Brennstäbe. Da führt ein Weg hin. Aber es führt kein Weg mehr weg. Das Kind in mir würde gern auf diesen Felsen herumklettern. Aber was zum Donner sollte man dann weiter tun? Natürlich kann man einwenden, die Frage sei falsch gestellt. Denn die Toten brauchen keinen Zeitvertreib! Aber was brauchen sie dann? Das Bild macht ratlos und hält uns in dieser Ratlosigkeit fest! Denn wenn wir einen der Unseren würdig bestatten, wird ihm das Grab zur neuen Heimat – und die Gräber auf der Insel haben bestimmt mehr Stil als so mancher Friedhof! Aber was nützt den Toten das schöne Ambiente? Die Wolken sehen sie nicht und das Meer riechen sie nicht. Man bringt sie dahin – aber man bringt sie wozu? Ist’s bloß, weil man sie nicht behalten kann? Werden sie abgelegt wie alte Kleider? Macht man einen Punkt im Meer, wie man ein Punkt setzt hinter eine Geschichte – aber eben keinen Doppelpunkt, der auf Fortsetzung verwiese? Wahrlich, die Behausungen, die wir da sehen, brauchen keine Türen. Denn wer mal drin ist, kann ohnehin nicht raus. Und wer noch lebend draußen ist, will freiwillig nicht hinein. 

Immerhin – wer genau hinsieht, erkennt, dass der Maler selbst in seinem Bild vorkommt. Denn über der äußersten rechten Grabhöhle, die abgewandt im Schatten liegt, sind die Initialen A.B. zu lesen. Sie stehen für Arnold Böcklin, den Maler selbst. Und das verändert unseren Blick. Denn offenbar hat sich da einer mit seinem eigenen Tod auseinandergesetzt. Und wenn man seine Biographie betrachtet, wundert das auch nicht. Denn Böcklin verlor im Laufe des Lebens acht seiner vierzehn Kinder. Und als er sich diesem Motiv hier widmete, hatte er altersbedingt auch schon mit einer schweren Erkrankung zu tun, die ihn sehr schmerzhaft beim Malen behinderte, und tiefe Depressionen bis hin zu Suizidgedanken nach sich zog. Müssen wir uns also einen höchst melancholischen Künstler vorstellen, der sich in Todessehnsucht einen schönen Ort ausmalt, wo er sich imaginär mit seinen Angehörigen zur letzten Ruhe betten will? Oder ist die Insel gar ein Symbol seiner Erwartung über den Tod hinaus? Ist das vielleicht gar kein diesseitiger Insel-Friedhof, sondern Böcklins Vorstellung vom Jenseits? Wenn, dann hat er‘s jedenfalls verschmäht, auf christliche oder antike Symbolik zurückzugreifen, die ja verschiedenste Bilder des Jenseits angeboten hätte. Doch Böcklin zitiert nichts von alledem, was in Glaubenswelten so vorkommt: kein Kreuz und kein Phönix ist zu sehen, kein Walhalla, kein Olymp oder Hades und kein Dante‘sches Inferno. Das alles fällt aus. Und so meine ich plötzlich zu verstehen, was hier passiert ist. Denn bei all dem Pathos und der feierlichen Stille ist dem Maler anscheinend der Glaube abhandengekommen. Er ist ein Zeitgenosse Feuerbachs, Nietzsches und anderer Gottesleugner. Und so bringt ihn der Verlust des Himmels in die Verlegenheit, dass er – über den Tod nachdenkend – seinen Toten kein Ziel mehr anzugeben vermag und den verloren Himmel kurzerhand durch eine Insel ersetzt. Die ist zwar nicht „jenseits“ dieser Welt, sondern nur „jenseits“ des Meeres. Aber ein anderes „Jenseits“ steht Atheisten nicht zu Gebot. Und irgendein Ziel, irgendeine Richtung müssen die Gedanken des Trauernden doch nehmen! Irgendetwas will er sich vorstellen! Und so wird hier die Begräbnisstätte zu einer Zuflucht der Toten überhöht. Dem Insel-Friedhof fehlt alle Symbolik – sei sie christlich oder antik, religiös oder profan, östlich oder westlich. Und doch füllt die Insel eine Leerstelle, wo in der Weltanschauung des Malers sonst eine Lücke klaffte. Er will ein Bild davon haben, wohin er unterwegs ist. Er glaubt keinen Himmel, mag erst recht keine Hölle – und das bloße „Nichts“ wäre ihm zu wenig. Darum malt er sich eine Toteninsel. Es ist durchaus eine schöne Insel – mit Stil und Atmosphäre! Aber was nützt mir ein gemaltes Jenseits, außer, dass ich das Bild an die Wand hängen kann? Gewiss will jeder, dass seine Verstorbenen noch irgendwo sind. Das „nirgendwo“ ist ein Ungedanke! Aber diese Insel ist eben doch eine Verlegenheitslösung und ein „Endlager“, mit dem ich nicht warm werde. Mit all seinem Pathos stößt es mich ab, weil‘s als Sackgasse gedacht ist. Und mir wird bewusst, dass ich als Christ gewohnt bin, ein Grab anzusehen wie eine Bushaltestelle. Natürlich geht man dorthin, um zu warten! Aber doch gewiss nicht, um Wurzeln zu schlagen und ewig zu bleiben. Sondern man wartet da bloß auf den Bus und freut sich, wenn das Wartehäuschen inzwischen ein wenig Schutz bietet. Aber mehr will und erwartet man von seinem Grab doch nicht! Denn man will schließlich auch an der Bushaltestelle nicht wohnen. Man will da nicht bleiben. Man wartet darauf, abgeholt zu werden zu einem besseren Ziel! Der christliche Friedhof ist als „Gottesacker“ auf eine Ernte angelegt. Er ist ein Wartesaal für den jüngsten Tag. Und weil sie einer solchen Perspektive entbehrt, ist auch die schönste Phantasie einer Toteninsel kein Ersatz für das wirkliche Jenseits, die Auferstehung und das ewige Leben. Mag ein Künstler auch gekonnt mit Metaphern spielen, mit hintersinnigen Bildern und Symbolen – als Christen erwarten wir doch mehr als eine bloß „metaphorische“ oder „symbolische“ Auferstehung! Denn unser Tod ist so konkret, dass er einer ebenso konkreten Antwort bedarf. Es ist kein gemaltes Sterben, auf das wir zugehen. Und so nützt uns auch keine gemalte Erlösung. Wir brauchen Realeres! Und Gott sei Dank haben wir diese realere Perspektive. Denn Jesus Christus spricht: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin“ (Joh 14,2-3). Gott sei Dank – das Wort Jesu verspricht uns etwas viel Besseres als so eine dröge Insel. Denn in des Vaters Haus erwartet uns keine stumme Versammlung von Toten, sondern ein fröhliches Wiedersehen Lebender. In des Vaters Haus wird keine bleierne Stille herrschen, sondern Freude und Gesang. Und was das Beste ist: man erwartet uns. Christus erwartet uns! Und während wir hier noch in der Ferne schweifen, bereitet er dort schon alles für uns vor, weil er will, dass wir sind, wo er ist. Christus hält schon Ausschau nach den Seinen. Ihnen den Weg frei zu machen, hat er sich viel kosten lassen! Und das sollte es uns leichter machen, wenn wir unsere Angehörigen zu Grabe tragen. Denn unser Friedhof ist wahrlich kein „Endlager“, sondern wir bringen unsere Verstorbenen nur dort hin, wie man jemand zu Bushaltestelle bringt. Unsere Lieben bleiben dort nicht, denn in des Vaters Haus sind viele Wohnungen. Christus hat sie längst reserviert. Und während wir unsere Toten mit gewisser Verlegenheit auf den Friedhof tragen, reißt Christus im Himmel schon die Türen auf. Davon brauchen wir kein Bild, weil‘s Wirklichkeit ist. Böcklins Toteninsel aber – die mag bleiben, wo sie ist. Das Gemälde wurde 1936 von Adolf Hitler erworben, der es sehr bewunderte. Es überstand den Krieg und gehört heute zur Ausstellung der Alten Nationalgalerie in Berlin. Wer will, kann es dort sehen. Aber darin wiederfinden wird sich ein Christ wohl eher nicht. Denn letztlich ist diese Insel der Verlegenheit des Malers entsprungen und kann sich mit christlicher Hoffnung nicht messen. So wendet man sich zuletzt mit Schaudern – und ist froh, eine bessere Perspektive zu haben als diese. Denn Christus spricht: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben“ (Joh 10,25-26).