Christopherus
Nur wenige Heilige sind heute noch allgemein bekannt. Doch wer auf Bildern einen kräftigen Mann mit einem Stab durchs Wasser waten sieht und ein Kind auf seinen Schultern entdeckt weiß Bescheid: Das ist Christopherus, der Schutzpatron der Reisenden! Man kann ihm sogar im Baumarkt begegnen, wo es zwischen Autozubehör, Lenkradbezügen, Handyhaltern und Duftspender auch Christopherus-Plaketten zu kaufen gibt. Es muss noch Menschen geben, die sich so etwas aufs Armaturenbrett kleben! Aber geht der populäre Heilige auch evangelische Christen etwas an? Der historische Christopherus hat vor etwa 1800 Jahren gelebt. Ob er aus Kanaan oder aus dem Gebiet der heutigen Türkei stammte, ist nicht mehr zu klären. Er soll aber jedenfalls von gewaltiger Größe gewesen sein (ein Riese geradezu), 12 Ellen hoch – und mit einem furchtbaren Gesicht. Dieser bärenstarke Mann hat sich in den Kopf gesetzt, dass er nur dem mächtigsten aller Könige dienen will. Vor einem Geringeren mag er sich nicht beugen. Er mag sich von keiner nachgeordneten, zweitrangigen Autorität befehlen lassen, sondern nur von der höchsten. Darin hat der Riese seinen Stolz – da ist er anspruchsvoll! Und so macht er sich auf die Suche nach dem mächtigsten aller Könige, bis er einen Fürsten findet, von dem es tatsächlich heißt, der scheue niemanden und sei keinem anderen untertan. Diesem Fürst dient Christopherus fortan. Denn er meint, er sei am Ziel. Doch eines Tages singt ein Spielmann vor dem König sein Lied. Und darin wird des Öfteren der Name des Teufels genannt. Christopherus bemerkt, dass der König sich jedes Mal bekreuzigt, wenn er den Namen hört. Er fragte nach. Und der König muss zugeben, dass er den Teufel fürchtet. Da sagt Christopherus: „Fürchtest du den Teufel, dass er dir schade, so ist offenbar, dass er größer und mächtiger ist als du, da du Angst vor ihm hast. So bin ich denn in meiner Hoffnung betrogen. Ich meinte, dass ich den mächtigsten Herrn der Welt gefunden hätte. Aber nun lebe wohl, denn ich will den Teufel selbst suchen, dass er mein Herr sei, und ich sein Knecht.“ Christopherus macht sich auf den Weg und wird bald fündig. Denn der Teufel zieht als schwarzer Ritter mit einer Schar schrecklicher Begleiter in der Einöde umher. Christopherus schließt sich ihm freudig an und ist der Meinung, er habe nun endlich den mächtigsten aller Herrscher gefunden. Doch eines Tages, als die Horde wieder unterwegs ist, wird von ferne am Straßenrand ein Wegkreuz sichtbar. Der Teufel erschrickt, weicht dem Kreuz aus und macht einen mühsamen Umweg durchs Gebüsch. Erst weit hinter dem Kreuz kommen sie wieder auf die bequeme Straße. Und als Christopherus nach dem Grund des Umwegs fragt, muss der Teufel zugeben, dass er das Bild des Gekreuzigten mehr fürchtet als alles andere auf der Welt. Christopherus zeigt sich enttäuscht und sagt: „So ist jener Christus größer und mächtiger als du, so du sein Zeichen so sehr fürchtest? Also war meine Mühe umsonst und ich habe den größten Fürsten der Welt noch nicht gefunden. Lebe nun wohl, denn ich will von dir scheiden und Christus suchen.“ Christopherus verlässt den Teufel und sucht lange vergeblich nach Christus. Schließlich trifft er einen Einsiedler, der ihm den Weg zu Christus weisen soll. Und der fromme Mann empfiehlt ihm, zu fasten und zu beten. Doch zeigt sich, dass Christopherus für beides nicht taugt. Er ist für das kontemplative Leben eines Mönchs völlig ungeeignet. Und so sagt der Einsiedler schließlich: „Kennst du den Fluss, in dem so viel Menschen umkommen, wenn sie hinüber fahren wollen? Du bist doch groß und stark. Setzt dich an den Fluss und trage die Menschen hinüber, so wirst du Christus, dem König, angenehm sein, dem du dienen möchtest. Und ich hoffe, dass er sich dir dort am Fluss offenbaren wird.“ Christopherus folgt dem Rat, geht zum Fluss und baute sich am Ufer eine Hütte. Er nimmt eine große Stange als Stab, um sich im Wasser darauf zu stützen, und trägt unermüdlich Menschen von einer Seite zur anderen. Eines Nachts allerdings, als er in seiner Hütte liegt, hört er eine Kinderstimme rufen. Und als er sie zum dritten Mal hört, geht er hinaus. Er findet ein Kind, das über den Fluss getragen werden will – und zögert nicht, ihm diesen Gefallen zu tun. Als er mit dem Kind auf den Schultern ins Wasser steigt, wird ihm die Last aber schwer wie Blei und immer schwerer. Zudem schwillt das Wasser an und steigt immer höher, so dass der Riese fürchtet, zu ertrinken. Es ist, als ob ihn das Kind unter Wasser drückte – es ist fast wie eine Taufe. Doch schließlich erreicht Christopherus mit Mühe und Not das andere Ufer. Erleichtert setzte er das Kind ab und sagt zu ihm: „Du hast mich in große Gefahr gebracht und bist auf meinen Schultern so schwer gewesen – hätte ich die ganze Welt auf mir gehabt, es wäre nicht schwerer gewesen.“ Das Kind aber antwortet: „Darüber musst du dich nicht wundern, Christopherus. Denn du hast mehr als die Welt getragen. Der Herr, der die Welt erschaffen hat, war deine Last. Denn wisse, ich bin Christus, dein König, dem du mit dieser Arbeit dienst.“ Christus fordert den Riesen auf zurückzugehen und am anderen Ufer seinen Stab neben der Hütte in den Boden zu stecken. Christopherus tut das. Und am anderen Morgen ist aus dem Stab ein Palmbaum voller Früchte gewachsen. Da erkennt Christopherus, dass er nun wirklich sein Ziel erreicht hat und dem Herren aller Herren dient.
Soweit die Legende des Christopherus. Ob sie einen historischen Kern hat, weiß natürlich niemand. Es scheint mir aber auch nicht wichtig. Denn mir gefällt der bescheidene und zugleich unbescheidene Charakter, der da beschrieben wird. Christopherus ist so imponierend stark, dass er selbst dem Teufel kündigen kann, ohne dass der widerspricht. Und doch will der Riese nicht etwa herrschen, sondern dienen. Trotz seiner Kraft zeigt er keine Ambitionen, sich andere zu unterwerfen. Er versteht das Dienen offenbar als seine Bestimmung. Er ist aber ein anspruchsvoller „Untertan“, insofern er sich seinen König selbst aussucht – und nur mit dem allerhöchsten zufrieden ist. Christopherus ist wahrlich ein Diener, der seinen Stolz hat! Er schämt sich nicht zu dienen, schämte sich aber, einem Unwürdigen zu dienen. Christopherus zeigt selbst keine Furcht, beugt sich aber auch niemandem, der seinerseits Furcht erkennen lässt. Er ordnet sich willig unter – aber nicht unter jeden. Und wenn einer den Mund zu voll nimmt, kehrt ihm dieser freie Geist spontan den Rücken. Er setzt unausgesprochen voraus, dass es unter den vielen, die in dieser Welt „Herr“ sein wollen, nur einen geben kann, der über allen anderen steht. Und er setzt voraus, dass keine andere Bindung so lohnend sein kann wie die Bindung an diesen Höchsten. Für alles andere ist sich der hässliche Riese zu schade. Und das gefällt mir, weil leider viele Menschen vor Kriechern kriechen. Viele fragen gar nicht, in was sie ihre Kraft investieren – und ob es das wert ist. Viele dienen einem zufälligen Arbeitgeber, einem herrischen Ehepartner oder einem Vorgesetzten, den sie nicht mal achten. Viele verstricken sich in fremde oder eigene Pläne, die bei Licht besehen den Aufwand nicht wert sind. Viele verbrauchen ihre Lebenskraft und Lebenszeit, ohne den kritischen Sinn, den Christopherus beweist. Denn dem liegt es zwar fern, dass er herrschen sollte. Diesen Dünkel hat er nicht. Aber er fragt sich schon, ob sein jeweiliger Herr auch wert ist, dass man ihm dient. Er ist durchaus bereit zur Hingabe. Aber nicht zur Hingabe an jeden. Er ist in einem guten Sinne anspruchsvoll – und auf bescheidene Weise unbescheiden. Er hat nichts dagegen, Mittel zu einem fremden Zweck zu sein. Es muss aber einer sein, den er respektieren kann. Er stellt seine Kraft gern zur Verfügung. Aber nicht für jedes Ziel. Und ich wollte, alle Menschen legten diese selbstbewusst-kritische Haltung an den Tag. Denn dann müssten sich alle über kurz oder lang Christus verschreiben. Die Geschichte des Christopherus hat aber auch darin eine Stärke, dass sie die Schwierigkeiten nicht verschweigt, in die der Riese gerät. Denn sein Wunsch, Christus zu dienen, erfüllt sich nicht auf der Stelle, sondern bringt ihm erst mal neue Probleme. Trotz entschlossener Suche kann er Christus nicht finden. So einfach ist das nicht. Und als Christopherus sich beim Einsiedler erkundigt, bereitet er auch dem Kopfschmerzen. Denn ein Riese passt nun mal nicht in das Schema, das gewöhnlichen Menschen und Klosterschülern angemessen ist. Längeres Fasten hält er nicht aus. Und Gebete kann er sich nicht merken. Für Mönchskutten und Kirchenbänke ist er zu groß. Und für die Theologie fehlt ihm der Verstand. Ein anderer hätte Christopherus vielleicht abgewiesen und hätte gesagt: „Tut mir leid – einen wie dich kann Christus nicht gebrauchen!“ Aber der Einsiedler ist weise genug, um zu erkennen, dass es mehr als einen Weg gibt, auf dem man Christus dienen kann. Der Einsiedler hat verstanden, dass Christus nicht nur Einsiedler braucht. Und so darf Christopherus seinem Herrn dienen mit der Körperkraft, die ihm gegeben ist. Dieser Teil der Erzählung ist tröstlich für alle, die irgendwie von der Norm abweichen oder aus der Art schlagen. Denn auch für sie hat Christus Verwendung. Für jeden hat er einen lohnende Lebensaufgabe, die seinen Begabungen entspricht. Und jede derartige Aufgaben ist ehrenvoll, wenn der Mensch sie mit Hingabe erfüllt – mag sie ansonsten auch banal erscheinen. Wir hören ja auch von Christopherus nicht, dass er es zu jeder Zeit und bei jedem Wetter genossen hätte, fremde Leute mit Sack und Pack über den Fluss zu tragen! Es ist keine verlockende Vorstellung, im Winter immer wieder ins kalte Wasser steigen zu müssen, nur damit Reisende trockenen Fußes ans andere Ufer gelangen. Die Schlepperei könnte auf Dauer zermürbend sein. Und Christopherus hatte durchaus Alternativen. Man bedenke, was für ein stolzer Krieger er hätte sein können. Als ehemaliger Ritter des Teufels hätte er leicht in Versuchung kommen können, mit seiner Kraft nicht länger zu dienen, sondern über andere zu herrschen! Doch auch eine dienende Funktion ist ehrenvoll, wenn man sich ihr widmet um Christi willen. Und Christopherus weiß das. Er ist dankbar, dass Christus ihn brauchen kann – und tut in großer Demut, was von ihm verlangt wird. Er ist sich nicht zu schade, gewöhnliches Volk über den Fluss zu tragen. Und er steht mitten in der Nacht auf, um einer Kinderbitte nachzukommen. Er hofft auf diese Weise Christus zu gefallen. Und Christus bestätigt das, indem er sich zu erkennen gibt. Es fällt aber auf, wieviel Zeit sich Christus gelassen hat – und wie lange Christopherus ohne die erwünschte Bestätigung arbeiten musste. Erst lässt sich Christus nicht finden. Dann lässt er Christopherus an religiösen Übungen scheitern, zu denen der Riese nicht taugt. Und dann gibt er ihm eine mühsame und gefährliche Tätigkeit, von der Christopherus lange nicht weiß, ob es die richtige ist. Anfangs scheint Christus an den Diensten dieses Mannes keinerlei Interesse zu haben. Er kommt ihm nicht entgegen. Er lässt ihn warten. Und er gibt ihm keinen klaren Auftrag. Man hätte folgern können, Christopherus sei ihm egal! Doch das ist an dem starken Mann das Allerstärkste, dass Christus sich ihm lange entzieht – und er sich davon nicht abschrecken lässt. Der Riese nimmt trotzdem die Arbeit auf, die der Einsiedler ihm nahelegt – und wartet nicht erst auf eine persönliche Begegnung mit Christus. Denn er ist entschlossen, ihm zu dienen. Und obwohl er ihn nicht findet, fängt er schon mal mit der Arbeit an. Sein neuer Herr lässt sich nicht blicken, aber der Knecht spuckt schon mal in die Hände. Christus zeigt ihm die kalte Schulter, Christopherus dagegen zeigt, was er kann. Und das beeindruckt mich, weil es viele so ganz anders machen. Viele verlangen, Christus solle sich erst mal zeigen, dann würden sie ihm vielleicht auch folgen. Christus soll sich ihnen erst mal persönlich offenbaren, dann wollen sie erwägen, mit dem Christ-Sein Ernst zu machen. Er soll ihnen vorab garantieren, dass sich die Mühe lohnt. Und wenn sich Christus nicht so zeigt, wie sie’s erwarten, ist ihr Interesse schnell erlahmt. Christopherus hingegen fragt nicht lange, was Christus für ihn tut, sondern, was er für Christus tun soll. Er legt einfach schon mal los und beginnt seinen Weg der Nachfolge mit entschlossener Konsequenz. Er hofft, irgendwann einer Begegnung mit Christus gewürdigt zu werden. Doch dass er auf dem richtigen Weg ist, zeigt sich erst beim Laufen. Und bis zum Beweis des Gegenteils nimmt der Riese an, es sei im Sinne Christi, was der Einsiedler ihm geraten hat. Sein Glaube hält das Schweigen Christi ziemlich lang aus. Es wird ihm zu einer Zeit der Bewährung. Und die bestätigende Palme wird ihm erst am Ende geschenkt. Als sein Wanderstab Früchte trägt, weiß er dann wirklich, dass er Christus dient, indem er den Menschen dient. Die nächtliche Begegnung mit dem Kind führt ihm vor Augen, dass er Christus trägt, indem er das gemeine Volk auf den Schultern trägt. Was er den Menschen tut, tut er dem Herrn selbst (Mt 25,40). Und wenn ihm die Last auch manchmal zu schwer erscheint, kommt er doch durch. Dem Riesen geht das Licht auf, das er so geduldig erwartet hat. Er wollte Christus finden. Aber hat nicht Christus ihn gefunden? Er wollte Christus tragen. Aber trug nicht Christus ihn? Er wollte Christus dienen. Aber hat ihm Christus nicht viel mehr gedient? Viele Christen teilen diese Erfahrung. Denn anfangs meinen wir, ein Jünger Jesu zu sein, sei so leicht, wie ein kleines Kind über den Fluss zu tragen. Doch mitten im Strom erscheint uns das Kind schwer wie Blei. Wir sind von der Aufgabe überfordert, kommen aber irgendwie doch ans Ufer. Und im Rückblick wird uns klar, dass wir den glücklichen Ausgang gar nicht unsrer eigenen Kraft verdanken, sondern der des Kindes. Wir hielten uns vielleicht für Lastenträger, doch war es Christus, der uns trug. Wer ist also in Wahrheit das „Kind“ – und wer der „Riese“? Vergessen wir das nicht. Und bitten wir Gott, dass uns die Geduld nicht verlässt, bevor auch aus unserem Wanderstab eine Palme geworden ist.
Bild am Seitenanfang: Landscape with Saint Christopher
Herri met de Bles, Public domain, via Wikimedia Commons