Christus trägt sein Kreuz
Christ Carrying the Cross / Hieronymus Bosch or follower, Public domain, via Wikimedia Commons
Auf den ersten Blick sieht man nur großes Gedränge und ein Durcheinander von 19 Gesichtern auf engstem Raum. Nur der Kreuzesbalken auf Jesu Schulter gibt dem Bild etwas Struktur. Und gemeinsam mit der Dornenkrone hilft er, die Szene im Leben Jesu zu verorten. Pilatus hat das Todesurteil gefällt. Jesus befindet sich auf dem Kreuzweg. Und all diese Fratzen geleiten ihn nach Golgatha. Es ist ein lautes Bild, denn offenbar rufen und reden da viele durcheinander. Weit öffnen sie die schlecht bezahnten Münder, um sich gegenseitig zu übertönen. Jesus aber schweigt still. Viele der Männer rollen wild mit den Augen. Jesus aber hält seine geschlossen. Und obwohl er sich mittendrin befindet, hat man fast das Gefühl, das Getümmel ginge ihn nichts an. Ihm trachtet man nach dem Leben, aber aufgeregt sind eher die anderen. Und bei einigen sieht es nach hämischer Vorfreude aus. Denn Hinrichtungen sind für manchen ein willkommenes Spektakel. Sie erlauben dem Schaulustigen, seinen Hass und seine Sensationslust auszuleben. Und ist er auch selbst nicht besser, erlebt er doch mit Befriedigung, wie das Unglück einen andern trifft. Da dürfen auch die Getretenen mal kräftig nach jemand treten und dazu rufen: „Dir geschieht‘s ganz recht!“ Da ist endlich mal jemand noch hilfloser und verworfener als sie selbst. Diese relative Überlegenheit genießen die Gaffer und weiden sich am fremden Elend.
Doch freilich sind hier nicht alle nur Zuschauer. Vorneweg marschiert ein behelmter Soldat, der seinem Beruf nachgeht. Er ist offenbar ganz munter entschlossen, das Urteil des Pilatus ordnungsgemäß umzusetzen. Er führt einen Befehl aus, der ihn auch gar nicht bedrückt. Denn er versteht es als seine Profession, Leute ans Kreuz zu schlagen. Das kann er richtig gut. Und nach Gründen fragt er nicht. Zwischen ihm und Jesus ist ein dunkelhäutiger Mann zu sehen. Das dürfte Simon von Kyrene sein, der für den entkräfteten Jesus ein Stück weit den Kreuzesbalken tragen muss. Man sagt, Simon sei afrikanischer Herkunft gewesen und eigentlich nur auf dem Heimweg von seiner Feldarbeit. Jetzt hilft er Jesus für einen Moment. Er tut’s aber nicht etwa aus Freundlichkeit, sondern nur gezwungenermaßen, weil es die römischen Soldaten von ihm verlangen. Rechts über ihm sticht ein Mann heraus, der mit seiner grauen Gesichtsfarbe extrem elend aussieht. Das ist einer der beiden Verbrecher, die mit und neben Jesus gekreuzigt werden. Doch eigentlich sieht er aus, als wäre er bereits tot. Das Leben ist schon weitgehend aus ihm gewichen. Und so fragt man sich, warum der geifernde Mann rechts noch so heftig auf ihn einredet. Dessen Frisur erinnert sehr an einen Mönch. Aber es sind sicher keine tröstlichen Worte, die aus seinem Mund kommen. Und auch sonst ist da weit und breit kein Gesicht zu sehen, das Mitleid zeigt. Der Mann mit dem Leichengesicht hofft jedenfalls auf nichts mehr. Er verzichtet auf alle Gegenwehr und will wohl nur noch, dass es endet. Sein Schicksalsgenosse unten rechts im Bild verhält sich anders. Dieser zweite „Schächer“ trägt einen Strick um den Hals. Er soll keinesfalls entkommen. Man hat ihn gefangen und verurteilt – und so wird er mit Jesus sterben. Aber bis dahin keift er noch kräftig zurück. So hasserfüllt, wie er angegangen wird, so antwortet er auch. Er gibt auf Flüche Flüche zurück und beschimpft, die ihn beschimpfen. Doch nützen wird es ihm nichts. Und bald wird‘s ihm auch nicht mehr gelingen, seinen Peinigern mit gleicher Münze heimzuzahlen. Unser Blick wandert herum, um all der Gehässigkeit zu entkommen. Und links unten bei dem hellen Frauengesicht würde das Auge gerne ausruhen. Doch es gelingt nicht. Denn jene Frau hat sich mit einem recht dümmlichen Gesichtsausdruck von Jesus abgewandt und ist offenbar ganz zufrieden damit, von dem Todeskandidaten ein Andenken erlangt zu haben. Es ist Veronika, die im Neuen Testament nicht vorkommt – aber dafür umso öfter in katholischen Legenden. Veronika soll dem erschöpften Jesus ein Tuch gereicht haben, damit er sich Schweiß und Blut aus dem Gesicht wischen kann. Und als sie das Tuch zurückbekommt, hat sich Jesu Gesicht wundersam darauf abgebildet. Nun besitzt sie ein Andenken und scheint damit tief zufrieden. Sie wendet sich ab und trägt die Reliquie davon. Das Bild des Heilands interessiert sie offenbar mehr, als der Heiland selbst. Und so ist Jesus wiederum allein zwischen all den boshaften Fratzen, die entweder dumm und stumpf oder gehässig wirken. Ja, eigentlich sind all diese Gestalten Zerrbilder ihrer selbst. Zwischen den Verbrechern und ihren Henkern ist diesbezüglich kein Unterschied. Und während wir von einem zum anderen schauen, wird uns klar, dass allein Jesus in dieser Gruppe ein „menschliches“ Gesicht hat. Nur er zieht keine tumbe Grimasse. Nur sein Gesicht ist nicht entstellt von primitiver Bosheit. Nur er erscheint menschlich unter all diesen Unmenschen. Und so wird uns bewusst, dass Sünde gar nicht nur schuldig macht, sondern zugleich auch hässlich. Nur Jesus, der Sündlose, wird von diesem Übel nicht entstellt. Nur er ist keine Karikatur des Menschlichen, sondern ist wahrhaft Mensch. Und das ist im Grunde sehr seltsam. Denn Jesus ist ja tatsächlich Gott, während die anderen in ihrer blöden Brutalität Menschen sind – und doch eher wie Dämonen erscheinen. Ja, welch seltsamer Rollenwechsel! Gott selbst nimmt menschliche Gestalt an, um unser Bruder zu sein. Als Mensch begegnet er aber nicht wirklichen Menschen, sondern all diesen Unmenschen, die begierig sind, ihn wieder loszuwerden. Als Ebenbild des himmlischen Vaters ist Jesus der einzig wahre Mensch – an ihm kann man ablesen, wie der Schöpfer den Menschen gemeint hat. Doch statt sich dies bei Jesus abzuschauen, finden ihn die Entstellten befremdlich. Er hat nicht Teil an ihrer Krankheit. Und vielleicht provoziert sie gerade das am meisten, dass er sich erlaubt anders zu sein. Jesus kommt in die Welt, um die Menschen neu zu lehren, was in einem höheren Sinne „menschlich“ ist. Er wird aber von Zerrbildern des Humanen empfangen, denen Stumpfheit, Kälte und Schadenfreude ins Gesicht geschrieben stehen. Jesus ist Gott – und will Mensch sein. Aber die Menschen, die er trifft, sind ihrerseits Unmenschen, denen die Bosheit aus dem Gesicht springt. Und so wirkt das gewöhnliche Gesicht Jesu – unter all den hässlichen und primitiven – auf einmal ungewöhnlich schön. Dass aber ein von Sünde nicht Entstellter in der Menge so auffällt und dabei gleichzeitig so einsam wirkt, das bewegt mich an diesem Bild immer wieder. Gerade weil Christus menschlich ist, passt er so schlecht in diese Gesellschaft. Und jene einfältige Veronika, die ihm nicht beisteht, sondern sein Bildnis wegträgt wie einen Fanartikel, macht es nur noch schlimmer. Denn der eine wahre Mensch wird hier von der Masse der fratzenhaften überstimmt und isoliert. Und man meint zu verstehen, dass er davor lieber die Augen verschließt. Es scheint, als kehrte sich Jesus ganz nach innen, um sich vor diesem Anblick in einen inneren Frieden zu retten. Er weiß ja auch so, dass ihm die Hässlichen auf Golgatha sehr bald Hässliches antun. Auch mit geschlossenen Augen weiß Jesus ganz gut, wovon seine Peiniger besessen sind. Und trotzdem ist der in sich Gekehrte ihnen dennoch so zugewandt, dass er bald (noch während sie ihn kreuzigen) für seine Folterer beten wird. Das ist für uns unglaublich – und doch für Jesus völlig konsequent. Denn er, der sich dem Kreuz leicht hätte entziehen können, geht diesen schrecklichen Weg ja bewusst und willentlich. Er hat beschlossen, nicht nur durch die Hände der missratenen Gotteskinder zu sterben, sondern zugleich für sie – und damit diesen Fluchenden den größten Segen zu erwerben. Davon wissen sie freilich nichts – und wollen es auch nicht wissen. Sie ahnen nicht, wie sehr sie Jesu Opfer nötig haben, und nicht einmal, dass sie berufen sind, Ebenbilder ihres himmlischen Vaters zu sein. Ganz im Gegenteil bemüht sich hier ein jeder, dem anderen ein rechter Teufel zu werden: und sie sind es auch! Christus aber leidet nicht nur „mit“ und „an“ ihnen, sondern leidet zugleich „für sie“ – und hilft ihnen mit eben der Entschlossenheit, mit der sie ihm zu schaden versuchen. Während von den Schreihälsen keiner für ihn da ist, ist er doch für sie alle da. Und während sie ihn schlagen, hält er den Kopf für sie hin, damit sie nicht so unversöhnt bleiben müssen, wie sie es jetzt sind. Sie nageln ihn ans Kreuz. Er nagelt sie aber nicht fest auf ihre Schuld. Sondern ganz im Gegenteil reicht er ihnen die Hand. Er bringt die Liebe auf, die nötig ist, um all dies Scheußliche aufzuwiegen. Und während sie sich gegenseitig „zur Hölle wünschen“, öffnet er ihnen einen Weg in den Himmel. Ja, Christus tut, was er uns empfiehlt – was denn sonst? Er überwindet Böses mit Gutem. Wer darüber aber nicht maßlos staunt, hat dieses Bild noch nicht lang genug angeschaut.