Der Engelsturz

Der Engelsturz

Es ist ein chaotisches Bild. Und in all der konfusen Bewegung findet das Auge kaum einen Punkt, auf dem es ruhen könnte. Denn keine der Figuren steht wirklich still, sondern alle in diesem Schlachtengetümmel sind heftig in Bewegung. Und als Betrachter ist man froh, dass man den Lärm nicht hört. Denn all das Schreien, Schlagen und Posauneblasen ergibt sicher ein furchtbares Getöse. Je länger man hinsieht, desto mehr hat man das Bedürfnis, im Bild Ordnung zu finden – oder Ordnung zu schaffen. Nur, wo ist da oben und unten? Die unteren zwei Drittel des Gemäldes haben dunkelbraunen Hintergrund. Das dürfte also die Erde sein. Das obere Drittel hat einen blauen Hintergrund und stellt den Himmel dar. Dort im Zentrum steht ein gleißend heller Halbkreis, der an die Sonne denken lässt. Es kann aber kaum wirklich die Sonne sein. Denn (wie ein Wirbel, eine Windhose oder ein Turm) verlängert sich die Masse der Kämpfenden nach dort oben. Und es scheint fast, als reichte das Chaos bis in Gottes Thronsaal hinein. Es ist ein Ringen kolossaler Kräfte. Und dass sie nicht in friedlicher Koexistenz leben, versteht sich von selbst. Denn einige sind Engel, einige gleichen eher Menschen und andere sind teuflische Monster. Die Engel gehören in den Himmel, die Menschen auf die Erde und die Monster in die Hölle – so würde es unser Weltbild verlangen. Und mit diesen drei Stockwerken kämen wir auch klar. Würde die Ordnung eingehalten, fänden wir uns auf dem Bild zurecht. Doch eben die Trennung der Stockwerke ist hier strittig geworden und wird nicht respektiert. Denn auf dem wirren Bild fliegen manche Ausgeburten der Hölle höher als die Engel. Und es kommt uns vor, als strebte all das gräuliche Viehzeug im Wirbelstrom zum Himmel hinein, während die Engel zur Erde hinabsteigen, um den aufwärts gerichteten Strom zurückzudrängen. Die Menschen auf der Erde müssen denken, sie seien in die Hölle geraten. Denn um sie herum herrscht tiefe Unordnung. Im anarchischen Tumult werden alle Grenzen überschritten, so dass keiner mehr ist, wo er hingehört. Und die einzigen, die einen Plan haben, sind scheinbar die Engel. Vier von ihnen sehen wir Posaune blasen. Vier sind mit Spießen auf die Monster losgegangen. Und am größten sind drei Erzengel dargestellt, die Schwerter führen. Der Linke im weißen Gewand schaut uns fast lächelnd an. Der Rechte (im Hintergrund von uns abgewandt) trägt auf weißem Gewand ein rotes Band. Und in der Mitte kämpft der Erzengel Michael mit blau wallendem Mantel und goldener Rüstung. Sie sind angetreten, um die Höllenbrut am Aufstieg in den Himmel zu hindern und sie zurückzutreiben in die Unterwelt, in die sie gehört. Als Zuschauer wünscht man ihnen aber Erfolg. Denn – meine Güte – was sehen wir da für Gestalten? Breughel hat sich hier einiges von Hieronymus Bosch abgeschaut! Da sind Fischleiber und Amphibienkörper, Lurche und Insekten, Vögel, Ratten, Tintenfische, Krebse und Muscheln, Motten, Hunde, Schweinsköpfe und Eidechsen neben anderen, undefinierbaren Viechern. Und man will nicht wissen, welchen Gestank die verbreiten, mit ihren aufgerissen Mäulern und teils geplatzten Leibern. Auch von diesen Kreaturen blasen zwei in ihre Posaunen – blasen also zum Angriff! Wenn sie aber unterwegs sind, den Himmel zu stürmen, kann man nur hoffen, dass sie dort nie ankommen. Denn sie gehören in die Unterwelt, aus der sie hervorgekrochen sind, und in die tiefste Kanalisation. Sie gehören aber gewiss nicht in den Himmel, der kein Saustall ist – und auch keiner werden soll. Ich jedenfalls habe da ein Bedürfnis nach Ordnung, wünsche den Engeln den Sieg und freue mich, dass der linke schon so zuversichtlich lächelt. Doch wenn wir unsre Parteilichkeit mal beiseite lassen – was sehen wir überhaupt? Ist das eine biblische Szene, die man kennen sollte? Und wenn – ist sie in der Vergangenheit, in der Gegenwart oder in der Zukunft anzusiedeln? Der Maler gibt uns einen Fingerzeig, indem er sein Bild betitelt „Der Sturz der rebellierenden Engel“. Doch damit ist leider noch keine Klarheit geschaffen. Denn einerseits sehen wir hier gar keine Engel stürzen oder fallen. Die Engel auf dem Bild fliegen. Und auch die vielen Monster sind eher nach oben unterwegs als nach unten. Wir kommen also mit der Leserichtung des Bildes durcheinander – wir wissen nicht recht, ob die strudelnde Bewegung von unten nach oben verläuft oder umgekehrt. Und andererseits gibt es zum Thema „Engelsturz“ mehrere biblische Texte, von denen keiner so recht passen will. 

1. 

Einerseits kann man an den vorzeitlichen Fall Satans denken. Denn der soll ursprünglich ein hoher und herrlicher Engel gewesen sein, der gegen Gott aufbegehrte und zur Strafe auf die Erde herabgestürzt wurde. Er wird mit der Schlange im Paradies identifiziert, die das erste Menschenpaar mit in die Rebellion gegen Gott hineinziehen will, und doch schon im 1. Buch Mose die Prophezeiung hören muss, dass ein Nachkomme Evas – nämlich Jesus Christus – der Schlange den Kopf zertreten wird (Gen 3,15). Der vorzeitliche Engelsturz erklärt das Dämonische auf Erden. Denn mit Satan zusammen sind viele untergeordnete Engel von Gott abgefallen, die nun als böse Geister sein Gefolge bilden und auf Erden Unheil wirken. In diesem Sinne hat man Jesajas Wort vom „Morgenstern“ verstanden, der anmaßend in den Himmel steigt, um dem Allerhöchsten gleich zu sein, der dann aber, gestürzt und zu Boden geschlagen, zur tiefsten Grube hinunterfährt (Jes 14,12-15). Und Ähnliches finden wir bei Hesekiel, wo sich ein glänzender Cherub (berauscht von der eigenen Schönheit und Weisheit) gegen Gott versündigt und vom Berg Gottes herab zu Boden gestürzt wird (Hes 28,12-19). 

2. 

Doch gibt es Vergleichbares auch viel später im Neuen Testament, wo Jesus von einem Sturz Satans in seiner eigenen Gegenwart spricht und diesen Sturz als Entmachtung Satans mit der eigenen Sendung und mit dem Anbrechen des Gottesreiches in Verbindung bringt (Joh 12,31-32). Jesu Jünger berichten voller Freude, dass ihnen die bösen Geister untertan sind. Jesus aber kommentiert das, indem er sagt: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“ (Lk 10,17-18). Es ist nicht verwunderlich, dass Jesus dies mit Freude sagt. Denn schließlich kam er in die Welt, um die Werke des Teufels zu zerstören (1. Joh 3,8). Exorzismen spielen dabei eine große Rolle (Lk 11,14-23). Und ein ganzes Heer von Dämonen hat er – ohne zu zögern – erst in eine Schweineherde und dann über die Klippe ins Meer gejagt (Lk 8,26-39). Der Engelsturz ließe sich also gut in die Zeit Jesu verlegen, weil sein Wirken den Feinden Gottes die größtmögliche Niederlage zugefügt hat (Kol 2,15). 

3. 

Doch gibt es den Engelsturz noch in einer dritten Variante, als zukünftiges Motiv. Denn in der Offenbarung des Johannes kämpft der Erzengel Michael mit seinen Engeln gegen den Satan in Gestalt eines Drachens, der auch seinerseits über Engel verfügt, der aber mit ihnen zusammen auf die Erde geworfen wird (Offb 12,1-13). Da treibt er sein Unwesen, bis ein Engel ihn für tausend Jahre fesselt (Offb 20,1-3). Danach wird er noch einmal kurz losgelassen, zuletzt aber endgültig überwunden und hinabgeworfen in den feurigen Pfuhl, um dort gequält zu werden in Ewigkeit (Offb 20,10). Von jenem ewigen Feuer sagt auch schon Jesus, dass es bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln (Mt 25,41). Aber dieser letzte Engelsturz ist natürlich weder Vergangenheit noch Gegenwart, sondern Zukunft. 

Was sehen wir also auf Breughels Bild? Den weit zurückliegenden Sturz, durch den der strahlende Engel zum Teufel wurde? Seinen blitzartigen Sturz und Machtverlust, den Jesus mit dem eigenen Wirken verbindet? Oder den finalen, endzeitlichen Sturz am jüngsten Tag? Mir scheint, dass Breughel all diese Motive zusammenwirft, ohne sich für ein bestimmtes zu entscheiden. Und vielleicht tut er daran gar nicht so unrecht, weil der Grundgedanke ja überall derselbe ist: Das Böse begehrt auf gegen das Gute und versucht sich an dessen Stelle zu setzen – es wird aber überwunden und zurückverwiesen an seinen Ort in der Finsternis. Das ist die Geschichte, die sich quer durch alle Zeiten in tausend Variationen wiederholt. Und ihre Dynamik hat Breughel treffend erfasst. Denn dies Merkwürdige, dass sein Bild zwei gegenläufige Leserichtungen erlaubt, passt ja durchaus zum Geschehen. Die Bewegung der Hybris und der Selbstüberhebung des Bösen geht von unten nach oben – es ist der rebellischer Angriff der Monster auf den Himmel. Und die Gegenbewegung der himmlischen Kräfte, die das ihnen Fremde abweisen und zu Boden schleudern, geht von oben nach unten, weil sie all dem Scheußlichen seinen Platz in der Hölle anweisen. Kraftvolle Dynamik wirkt sowohl von unten hinauf als auch von oben herunter. Darum prallen die Heere so heftig aufeinander. Und Breughel tut gut daran, die Schlacht verwirrend darzustellen. Denn dieser Krieg wogt ja nicht bloß auf dem Bild hin und her. Sondern tatsächlich findet er zugleich auch im Betrachter statt. Der Kampf von Gut und Böse tobt nicht nur „vor uns“ auf der Leinwand, sondern auch „in uns“ in unsrer Seele. Und das Getümmel ist drinnen genauso unübersichtlich wie draußen! Oder wollten wir etwa leugnen, dass es auch in uns einen Aufstand finsterer Kräfte und Strebungen gibt, der immer wieder niedergeschlagen werden muss? Breughels Gemälde ist ein Abbild unserer Seele. Die Schlacht tobt nicht nur in der Welt, sondern auch in uns drin. Denn auch in unserem Gemüt steigen Monster auf, die da heißen Begehrlichkeit und Hass, Neid, Zynismus, Selbstsucht, Trägheit und Stolz. Frech versuchen sie, unseren Willen zu kapern und das Steuer zu übernehmen. Und so brauchen auch wir (um unsre Dämonen in Schach zu halten) innere „Ordnungskräfte“, die gleich jenen Engeln all unsere schädlichen Impulse wieder an ihren Platz verweisen und zurückdrängen. Die gestörte Ordnung des Kosmos um uns herum spiegelt sich in unseren ebenso gestörten und angefochtenen Gemütern. Und so muss der Sieg der Engel nicht bloß an den Grenzen des Himmels errungen werden, sondern auch in uns. Denn (wie schon im 1. Buch Mose) muss Gottes Schöpfung stets in einem Prozess sukzessiven Ordnens dem Chaos abgewonnen werden. Die Natur bringt nur Leben hervor, wenn ihre Kräfte auf die rechte Weise geschieden und aufeinander bezogen wirken. Menschliche Gemeinschaft entsteht nur, wenn das Individuum gemäß seinen Gaben und Bedürfnissen einen Ort im Ganzen findet. Und auch Wissen wächst nur, wo Ideen und Gegenstände sachgemäß unterschieden und aufeinander bezogen werden. Schöpfung ist ein Ordnungsprozess, in dem Gott das Chaos nach und nach bändigt. Die Erhaltung des Geschaffenen geschieht auf gleiche Weise. Und seine Vollendung besteht darin, dass eines Tages alles noch Unstimmige in ein stimmiges Verhältnis überführt wird. Manchmal wird die gesunde Ordnung durch Gottes Wort hergestellt, manchmal mit Schwertern und Spießen, manchmal durch gute Argumente und manchmal durch die Priorisierung von Wünschen. Wie steht‘s also? Zeigt Breughels Bild wie ein Spiegel die inneren Kämpfe in ihrem Gemüt? Herrscht bei ihnen noch blutiges Schlachtengetümmel – oder ist bereits Frieden eingekehrt? Werden die Grenzen immer wieder überrannt – oder sind sie schon gut befestigt und verteidigt? Ich jedenfalls finde mich in dem Bild wieder, fühle mich mit dieser beunruhigenden Spiegelung nicht restlos wohl – und wünsche mir nichts mehr als so einen Erzengel mit siegesgewissem Lächeln.