Der heilige Julianus

Der heilige Julianus

Dieses Bild ist verblüffend. Man traut seinen Augen nicht. Denn es ist ganz im Stil des 14. Jahrhunderts gemalt. Es ist auch wirklich so alt. Und doch will man es für einen künstlerischen Unfall halten und sträubt sich dagegen, weil wir da offensichtlich einen Heiligen beim Morden sehen. Das will uns nicht in den Kopf. Das christliche Gemüt sperrt sich. Denn entweder ist einer heilig – dann wird er doch nicht morden. Oder er mordet – und dann ist er sicher nicht heilig! Unser Gemälde ist aber darin eindeutig, dass es die Gegensätze verbindet. Und es heißt auch wirklich: „Der heilige Julianus ermordet seine Eltern“. Der Titel ist unmissverständlich. Doch welche Geschichte verbirgt sich dahinter? Die Legenda Aurea berichtet, dem edlen Jüngling Julianus sei einst bei der Jagd von einem Hirsch vorausgesagt worden, er werde seinen Vater und seine Mutter töten. Julianus erschrickt darüber sehr. Und damit die Prophezeiung nicht in Erfüllung geht, verlässt er Vater und Mutter und zieht möglichst weit weg von ihnen in ein fernes Land. Dort macht Julianus im Dienst eines fremden Fürsten Karriere. Er wird zum Ritter geschlagen, heiratet und bewohnt mit seiner Frau eine Burg. Nach vielen Jahren haben seine Eltern aber Sehnsucht nach dem Sohn, beginnen ihn überall zu suchen – und kommen dabei auch zu jener Burg. Julianus ist gerade nicht da. Aber seine Frau befragt das alte Ehepaar, erkennt in den beiden die Eltern ihres Mannes, nimmt sie freundlich auf und gibt ihnen als Nachtlager das eigene Ehebett, damit sie von der Reise ausruhen können. Die Gastgeberin selbst bettet sich anderswo im Haus. Und gleich am anderen Morgen steht sie früh auf und geht zur Kirche. Doch ausgerechnet da kehrt Julianus nach Hause zurück und geht direkt ins Schlafzimmer, um seine Frau zu wecken. Als er dort aber in seinem Ehebett zwei Menschen liegen sieht, denkt er, er habe seine Frau mit einem Liebhaber beim Ehebruch ertappt, zieht auf der Stelle sein Schwert und tötet die Schlafenden. Nur kommt im selben Moment seine Frau frisch und gesund zur Tür herein! Julianus fragt, wer dann wohl die zwei im Bette wären. Und sie erklärt, das seien seine Eltern, die gestern zu Besuch kamen. Da begreift Julianus, dass sich die Prophezeiung des Hirschs erfüllt hat, er beklagt seine unselige Tat und beschließt fortzugehen, um für seine Sünde zu büßen. Seine Frau will ihn aber nicht allein lassen, sondern geht mit. Gemeinsam wandern sie bis an ein großes Gewässer. Dort hören sie, dass beim Überqueren schon viele Reisende verunglückt und ertrunken sind. Und so erkennen sie ihre Chance, an diesem Ort durch gute Werke Buße zu tun. Sie bauen am Ufer eine Herberge. Sie versorgen dort arme und kranke Reisende. Und wenn jemand über den Fluss will, bringen sie ihn sicher auf die andere Seite. In diesem aufopferungsvollen Dienst wird Julianus zum Heiligen. Er wird bis heute unter dem Namen „St. Julianus Hospitator“ verehrt, ist der Patron von Macerata in Italien und ein Beschützer der Reisenden, der Pilger, der Gastwirte und Gaukler. Das obige Bild ist damit halbwegs erklärt. Denn wenn ein Maler das Leben eines Heiligen darstellen will, muss er ja auf Anhieb zu erkennen sein. Der Betrachter soll die Hauptfigur anhand des Heiligenscheins identifizieren können. Und so wird unser christlicher Ödipus schon bei der Ermordung seiner Eltern als der Heilige dargestellt, der er eigentlich erst später im Bereuen dieser Tat geworden ist. Man könnte es also als einen Fehler der Chronologie abtun, dass Julianus hier schon mitten im Sündigen als Heiliger gezeichnet wird. Doch – hat nicht zumindest Gott schon damals gewusst, dass er den Mann auf eben diesem blutigen Wege zum Heiligen machen wollte? Ein Ereignis, das prophezeit werden kann, muss schon lange vor seinem Eintreten feststehen. Gott hat es offenbar so gefügt. Und den Mord zulassend stößt er den ahnungslosen Julianus tief in die Schuld hinein, um ihn genau auf diesem und auf keinem anderen Wege zum Heiligen zu machen. Bei Gott war längst beschlossen, dass dies Böse zum Guten ausschlagen sollte – und wir staunen über seinen so seltsamen und abgründigen Plan! Denn was würden wohl die Eltern dazu gesagt haben, dass ihr lieber Sohn ausgerechnet durch ihre Ermordung auf den Weg zur Heiligkeit kommen sollte? Wäre ihnen sein geistlicher Fortschritt das Opfer wert gewesen? Und was hat sich bei alledem die Ehefrau gedacht? Hatte sie Julianus schon früher Grund zur Eifersucht gegeben, so dass er nicht ganz zufällig einen Ehebruch vermutete? War ihre Liebe gering gewesen und hatte sein Misstrauen schon längst geweckt? Oder war ihre Liebe im Gegenteil sehr groß, weil sie Julianus im Wissen um die eigene Unschuld dennoch auf dem schweren Weg der Buße begleiten wollte? Verstand Julianus sein Blutvergießen später als „glückliche Wendung“, weil er ja nur so und nicht anders zu Gott gefunden hat? Und ist das ohne Ironie, wenn einer, der den eigenen Eltern ein so schlechter Gastgeber war, später unbedingt eine Herberge betreiben will? Haben seine Gäste wohl gut geschlafen, wenn sie von der Vorgeschichte des Herbergsvaters wussten? Und nebenbei: Warum bekam Julianus in seiner Jugend jene Prophezeiung, wenn er ihr Eintreten doch nicht verhindern konnte, sondern gerade durch den Versuch es zu verhindern, das Unglück herbeiführen sollte? Wurde es ihm prophezeit, weil’s ohne diese Ankündigung gar nicht passiert wäre? Gottes Wege sind unergründlich, könnte man sagen. Und wie sich die Schlinge hier zuzieht, ist ausgesprochen tragisch. Denn wie Ödipus in der antiken Sage wird ja auch Julianus schicksalhaft schuldig. Er wusste nicht, dass er seine Eltern vor sich hatte. Und dennoch klebt ihr Blut an seinen Händen. Er wollte das nicht – und fühlt sich trotzdem schuldig. So ist unser Leben überhaupt voll von sinnwidrigen Verstrickungen, die oft den guten Absichten der Menschen Hohn sprechen – und manchmal auch den bösen. Denn Gottes Vorsehung ist immer mit im Spiel. Und nicht selten sorgt sie dafür, dass Böses, das sie nicht verhindert, wider Willen Gutes hervorbringt. Ja, wie wir‘s oft in der Bibel sehen, erreicht Gott seine Ziele ebenso leicht durch unsre Schwächen wie durch unsre Tugenden – und bedient sich unsrer Untaten genauso virtuos wie unsrer guten Werke. Heiligen darum Gottes Zwecke jedes Mittel? Oder haben Gottes Mittel das generell nicht nötig, weil es eben seine sind? Julianus wird nicht gleich gewusst haben, ob sein Unglück wirklich ein Unglück war, ob es göttliche Fügung war – oder beides zugleich. Und Ähnliches könnte man an Saul zeigen, an Hiob, Jeremia und Judas. Denn auf obskuren Wegen bringt Gott zustande, was er haben will. Mancher Plan gelangt ganz seltsam durch sein Scheitern ans Ziel. Und oft ist die menschliche Konfusion das Material, aus dem die göttliche Providenz ihre schönsten Straßen baut.

 

 

Bild am Seitenanfang: St Julianus Murdering his Parents

Spinello Aretino (Italian, c. 1350 - c. 1410), Public domain via Artvee