Der ungehorsame Prophet
The Disobedient Prophet, Benjamin West, Public domain, via Artvee
Es ist eine schräge Geschichte aus dem Alten Testament, die scheinbar wenig Sinn ergibt. Und doch bitte ich, der Handlung aufmerksam zu folgen (1. Kön 12,33ff.). Sie spielt in der Zeit, da die Könige Israels vom Glauben abfallen. Und König Jerobeam macht dabei den Anfang, indem er in Bethel ein Heiligtum errichtet, das dem Tempel in Jerusalem Konkurrenz machen soll. Er lässt dort ein goldenes Stierbild aufstellen, das nun als der Gott Israels verehrt werden soll – ganz ähnlich wie früher das goldene Kalb am Berg Sinai! Und natürlich errichtet der König auch einen Altar und denkt sich einen Festtag aus, bei dem er dort höchstpersönlich das erste Opfer darbringen will. König Jerobeam begeht damit ein schweres Unrecht. Gott aber schaut nicht einfach zu, sondern schickt einen Propheten aus Juda nach Bethel, um dem illegitimen Heiligtum dort den Untergang anzusagen. Der Prophet macht das auch. Er richtet seine Botschaft aus – und Jerobeam will ihn daraufhin verhaften lassen. Doch die Hand, mit der er auf ihn zeigt, verdorrt, der König kann sie nicht mehr bewegen. Und erst auf ein Gebet des Propheten hin wird die Hand wieder geheilt. Da begreift der König, wie sehr er Gott gegen sich aufgebracht hat. Er bekommt es mit der Angst und will nun den Propheten zu sich einladen, will ihn bewirten, ihm Geschenke machen und die Wogen glätten. Doch der Gottesmann weist ihn ab und erklärt, er habe von Gott klare Weisung erhalten, in Bethel kein Brot zu essen und kein Wasser zu trinken. Er soll dort mit niemandem irgendeine Gemeinschaft pflegen, so als hätte der wahre Glaube noch irgendeine Gemeinschaft mit der falschen Religion in Bethel. Und so nimmt er die Einladung nicht an, sondern macht sich nach Hause auf in Richtung Juda. Nur kommt an diesem Punkt ein zweiter Prophet ins Spiel, der schon alt ist und mit seinen Söhnen in Bethel ansässig. Der war zwar selbst bei der Einweihung jenes Altars nicht dabei. Seine Söhne aber schon. Und die erzählen ihm haarklein alles, was der Prophet aus Juda gegen das neue Heiligtum gesagt hat, dass er es verdammt hat – und auch, dass er in Bethel nirgends einkehren darf. Und das bringt nun den Alten in Wallung, ohne dass wir genau wüssten, was ihn treibt. Ist er neidisch, weil ein fremder Prophet von Gott diesen Auftrag bekam, obwohl Bethel doch „seine“ Stadt ist? Ärgert es ihn, dass der Fremdling seiner Heimatstadt soviel Unheil angekündigt hat? Oder sucht er das Gespräch mit dem fremden Propheten, um für Bethel noch etwas zu retten? Will er sich gütlich mit ihm einigen, damit er das Gerichtswort eventuell zurücknimmt? Träumt er davon, mit Diplomatie und Freundlichkeit den Bruch noch einmal zu heilen? Wir wissen es nicht. Doch reitet der aus Bethel dem Fremden auf dem Esel hinterher, findet ihn unter einem Baum rastend, gibt sich gastfreundlich und lädt ihn zu sich nach Hause ein. Nun weiß er natürlich, dass der Mann aus Juda seiner Einladung nicht folgen darf. Und der erklärt es ihm auch. Nach Gottes Anweisung darf er in Bethel nirgends einkehren. Doch damit hat der Alte natürlich gerechnet und setzt nun einfach der klaren Weisung Gottes eine neue Weisung Gottes entgegen, die er sich ausgedacht hat. Der alte Prophet von Bethel sagt also zu dem Propheten aus Juda: „Ich bin auch ein Prophet wie du, und ein Engel hat zu mir geredet auf das Wort des Herrn hin: Führe ihn wieder mit dir heim, dass er Brot esse und Wasser trinke“ (1. Kön 13,18). Der biblische Text vermerkt ausdrücklich, dass es eine Lüge war – kein Engel hatte ihm etwas geflüstert. Vielleicht ist der Alte überhaupt nie ein richtiger Prophet gewesen! Aber schrecklich zu sagen: Nachdem der Mann aus Juda so lange treu war und meinte, seine Aufgabe erfüllt zu haben, fällt er nun auf diese Lüge herein. Er geht mit dem Alten nach Bethel und lässt sich bewirten. Denn schließlich sind sie so etwas wie „Kollegen“ – und jener Engel hat’s erlaubt, der seinem Gastgeber erschienen ist. Seltsam, denkt man: Warum glaubt der das so einfach? Hat er seine eigene Botschaft vergessen, die er eben noch dem König ausrichten musste – dass nämlich das Band zerschnitten ist? Oder wünscht er sich insgeheim auch, der Bruch zwischen Jerusalem und Bethel sei nicht endgültig? Vertrauensselig lässt sich der Prophet aus Juda bei dem Lügner zuhause nieder. Er bricht damit seinen Gehorsam gegen Gott – und bekommt auch sofort die Quittung. Denn nun empfängt ausgerechnet jener alte Lügner, der ihn zum Ungehorsam verführt hat, ein echtes Wort von Gott und verkündet seinem Gast im Namen Gottes, dass sein Leichnam nicht in seiner Väter Grab kommen werde. Plötzlich wird durch den Mund des Lügners die Wahrheit verkündet, nämlich dass Gott den verworfen hat, der eben noch vor dem König so schön die Wahrheit vertrat. Im Widerspruch zur eigenen Botschaft hat sich der Mann aus Juda auf Gemeinschaft eingelassen, wo keine sein durfte. Zwischen der wahren und der falschen Religion lassen sich keine Brücken bauen – Kollege hin, Kollege her! Und das erfährt der Mann aus Juda nun ausgerechnet von dem Pseudopropheten, der ihn mit seiner Engelsgeschichte so übel getäuscht hat. Wie der aus Juda darauf reagierte, wissen wir nicht. Doch wird ihm umgehend der Esel gesattelt. Seine Mission, die lange planmäßig verlief, ist am Ende doch noch verunglückt. Man hat ihn böse reingelegt. Und so versucht er nach Hause zu kommen nach Juda. Doch unterwegs fällt ihn ein Löwe an und tötet ihn. Der Löwe vollstreckt Gottes Gericht an dem ungehorsamen Propheten. Und als der Alte aus Bethel davon hört, findet er herbeigeeilt ein seltsames Bild. Denn jener Löwe fraß weder den Mann aus Juda, den er getötet hatte, noch fraß er den Esel, der lebendig daneben stand, sondern der Löwe bewachte nur beide, bis der Prophet von Bethel kam, um den Leichnam zu bergen. Der nahm den Toten mit sich, beklagte ihn lauthals, rief „Ach, Bruder“ – und, als wär’s sein bester Freund gewesen, ließ er ihn begraben zu Bethel im eigenen Grab, in dem er später auch selbst bestattet wurde. So waren dann der Lügner und der Belogene im Tode vereint. Und natürlich erfüllte sich damit auch das Gotteswort, dass des Judäers Gebeine nicht in seiner Väter Grab gelangen sollten. Damit endet der Bericht. Und wenn ich anfangs sagte, er ergäbe erst mal wenig Sinn, werden sie mir jetzt vielleicht Recht geben. Denn die rigorose Bestrafung des Mannes aus Juda kommt uns nicht fair vor, wenn gleichzeitig der Alte aus Bethel ungestraft davonkommt, der doch viel niederträchtiger gehandelt hat. Was ist bloß los mit dem? Wenn er sich schon als Prophet Gottes in Bethel versteht, warum widerspricht er nicht selbst dem bösen Tun seines Königs? Warum muss dazu einer aus dem benachbarten Juda anreisen, der seinen Job macht? Und wenn der‘s dann tut, warum sagt der Prophet von Bethel nicht einfach „danke“, sondern führt den Fremden so übel hinters Licht? Hielt er die Sache mit dem neuen Heiligtum und dem goldenen Stierbild für richtig, warum war er dann bei der Einweihung nicht selbst dabei? Und wenn er das Ganze für falsch hielt, warum waren dann seine Söhne unter den Feiernden? War der Alte neidisch, weil Gott nicht ihn beauftragt hat? Oder handelte er als Lokalpatriot gegen einen Fremden, der seiner Heimatstadt ein Gericht angesagt hat? Was ist das für ein „Gottesmann“, der sich nicht scheut, erfundene Lügen als Botschaften Gottes auszugeben, nur um einen Kollegen reinzureiten, den er dann auch noch seinen „Bruder“ nennt, beweint und bestattet, als hätte er ihm nicht selbst diese Falle gestellt? Auch die Rolle Gottes scheint ein wenig zwielichtig! Denn warum setzt er den Propheten aus Juda einer Versuchung aus, der er zuletzt nicht gewachsen ist? Der Mann hatte doch mehrfach seinen Gehorsam bewährt und selbst dem König die Bewirtung abgeschlagen! Erst als er seinen Auftrag korrekt durchgeführt hat, fällt er auf eine arglistige Täuschung herein. Und darauf steht dann gleich die Todesstrafe? Du meine Güte, denkt man: Wenn das mit tüchtigen Propheten passiert, werden bald nur noch schlechte übrigbleiben! Denn was genau hat der Judäer falsch gemacht? Er meinte doch jederzeit, Gottes Weisung zu folgen! Die erste Weisung bekam er selbst. Und als ihm der aus Bethel von einer neuen, anderslautenden Weisung Gottes berichtet, gehorcht er auch dieser. Wohl wird er dabei hinters Licht geführt – er war zu vertrauensselig. Und doch scheint die Strafe am Ende den Falschen zu treffen. Denn der aus Juda wird dem Löwen vorgeworfen. Und der aus Bethel, der ihn reingelegt hat, lebt munter weiter! Das kann doch so nicht richtig sein, denkt man. Und man fragt sich, welche Lehren daraus zu ziehen sind. Wenn es da nichts zu lernen gäbe, stünde es wohl nicht in der Bibel. Aber was soll uns die Geschichte sagen? Nun, die erste Botschaft ist sicherlich, dass zwischen dem wahren Glauben und der falschen Religion keine Kompromisse möglich sind. Und man soll sie sich auch nicht wünschen, bloß um Frieden zu haben. Denn wenn Gott das eine fordert und das andere ablehnt, ist es nicht Sache der Menschen, den Gegensatz zu relativieren oder „diplomatische Brücken“ zu bauen. Das Richtige hat nun mal keine Gemeinschaft mit dem Falschen. Und wer auf Kosten der Wahrheit konziliant sein will, steht nicht mehr auf Gottes Seite. Die Botschaft ist schon aktuell genug! Doch steht daneben noch eine zweite, weil die Geschichte uns davor warnt, auf falsche Propheten hereinzufallen. Denn das war der entscheidende Fehler. Der Mann aus Juda relativierte das ihm anvertraute Wort Gottes aufgrund eines angeblich neueren Wortes Gottes, von dem ihm der andere bloß erzählte. Und er ließ das zweite genauso gelten, wie das erste, obwohl er das zweite nur vom Hörensagen kannte. Er maß der kolportierten Botschaft ebenso viel Gewicht bei, wie jener ersten. Und das war naiv. Denn er hätte wissen müssen, dass unter den Propheten auch Lügner sind. Wenn aber jemand fragt, woran man die erkennt, dann ist die Antwort heute viel einfacher als damals, weil es nach Christus gar keine echten Propheten mehr gibt. Zur Zeit Jerobeams stand das Wort eines Propheten gegen das des anderen – und neue Offenbarungen waren nicht auszuschließen. Doch inzwischen ist in Jesus Christus Gott selbst erschienen. Christus ist der sich bezeugende Gott in eigener Person! Er war viel mehr als irgendein Prophet! Und seitdem ist ausgeschlossen, dass die Offenbarung in Christus noch einmal getoppt, überboten, antiquiert oder auch nur ergänzt wird. Man kann sie noch auslegen und das eigene Verständnis vertiefen. Doch wer heute von Christus weg oder (der Sache nach) über ihn hinaus will, ist garantiert ein Lügner. Und so haben wir‘s heute leicht. Die Reihe der Propheten endete mit Johannes dem Täufer. Nach ihm kam und kommt keiner mehr. Und wenn uns trotzdem jemand erzählt, ein Engel hätte ihm was geflüstert, können wir ihn getrost vom Hof jagen. Denn einerseits gibt es das, was Gott uns durch das Neue Testament hat wissen lassen. Andererseits gibt es Spinner, die sich wichtig machen. Und im Gedenken an den unglücklichen Mann aus Juda sollten wir dieses nicht mit jenem verwechseln. Denn wir möchten ja nicht, dass uns der Löwe holt. Es ist zweierlei, ob wir Gottes Wort vertrauen, oder dem, was uns einer darüber hinaus noch als „Gotteswort“ aufschwatzen will. Und darum soll auch niemand uns Theologen etwas glauben, bloß weil wir Titel tragen und schöne Worte machen, sondern man soll den Geistlichen generell nur glauben, was sie anhand der Bibel belegen können. Wozu haben wir also gehört von dem niederträchtigen Alten aus Bethel? Nun, damit wir gewarnt sind. Jesus selbst warnt vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern kommen, die aber inwendig reißende Wölfe sind (Mt 7,15, vgl. Mt 24,5.11.24; 2. Petr 2,1; 1. Joh 4,1; 2. Kor 11,13). Und wenn wir uns das zu Herzen nehmen, dann haben wir auch jene merkwürdige Geschichte aus dem Alten Testament nicht umsonst gelesen.