Die Liebe des Fischers

Die Liebe des Fischers

Vor langer Zeit soll es sich zugetragen haben, dass in einem Fischerdorf auf Sizilien ein Fall von ehelicher Untreue den Frieden störte. Einer der Fischer war mit seinem Boot wochenlang auf See gewesen, um die Netze auszuwerfen. Seine junge Frau war aber mit dem Allein-Sein nicht zurechtgekommen und hatte sich auf einem anderen Mann eingelassen. Der Fischer war noch nicht zurückgekehrt, da wurde der Ehebruch schon entdeckt. Weil auf Sizilien aber strenge Sitten herrschten, war klar, was nun geschehen musste. Denn in jenem Dorf war es seit Urzeiten Brauch, dass man Ehebrecherinnen gefesselt von einem hohen Felsen hinab ins Meer stürzte – in den sicheren Tod. Man wartete die Heimkehr des Fischers ab, damit er der Bestrafung seiner Frau beiwohnen konnte. Und als er hörte, was geschehen war, sah man, wie sehr ihm die Nachricht zu schaffen machte. Doch verbarg er seine Gefühle und schwieg. Als das Urteil am nächsten Morgen vollstreckt werden sollte, konnten man den betrogenen Fischer nicht finden, schritt aber dennoch zur Tat und folgte dem alten Brauch. Man führte seine Frau auf die Klippe und stürzte sie von dort in die Tiefe hinab. Der Fischer jedoch hatte nachts im Wasser unter dem Felsen sein Netz ausgespannt. Seine Frau stürzte hinein. Er zog sie mit dem Netz ins Boot, befreite sie von ihren Fesseln und rettete sie damit vor dem Ertrinken. Als er sie wohlbehalten nach Hause brachte, protestierten die Leute aus dem Dorf. Denn nach Tradition und Sitte hatte die Frau ihr Leben verwirkt. Der Fischer aber berief sich auf ein ebenso altes Gesetz, das besagte, dass alles, was in das Netz eines Fischers gerät, ihm gehört und ihm von niemandem genommen werden darf. 

So findet die Geschichte ein glückliches Ende. Man hört es mit Rührung. Und trotzdem ist es anders als der romantische Kitsch, der sonst oft als „Liebesgeschichte“ präsentiert wird. Denn die Sache ähnelt eher dem, was Gott mit uns Menschen erlebte. Auch zwischen Gott und Mensch geht es um eine Liebe, die aus der Unschuld des Anfangs sehr bald herausgefallen ist. Es geht um bitter enttäuschte und verletzte Liebe, die sich meist in ihr Gegenteil verwandelt. Das Verhältnis scheint ein- für allemal vergiftet, der Schaden nicht reparabel. Und so scheint auch absehbar, wie Gott reagieren muss. Die Menschheit hat sich auf einem dummen Flirt mit dem Bösen eingelassen. Durch Adams Sünde ist sie in Schande geraten wie jene junge Frau. Und wenn Gottes verratene Liebe in Hass umschlüge, müsste jeder Verständnis haben. Denn so wie der Fischer hätte auch Gott jedes Recht, die Menschheit als untreue Partnerin zu verstoßen. Doch hier wie dort geschieht Unerwartbares und Überraschendes, weil sich der betrogene Teil, der mit Recht verdammen könnte, auf die Seite des schuldigen Partners stellt. Der Fischer ergreift Partei für seine Frau und entzieht sie der verdienten Strafe, wie es auch Gott mit der Menschheit tat, als er am Kreuz ihre Strafe trug und damit Versöhnung möglich machte. In beiden Fällen staunt man über eine derart große, leidensfähige Liebe. Und in beiden Fällen stellt sie die zerbrochene Beziehung auf eine neue Grundlage. Denn für einen Menschen, dem Vergebung widerfährt, ist das eine zugleich beschämende und beglückende Erfahrung. Jene junge Frau muss über die Liebe ihres Mannes gestaunt haben, da sie ihn so enttäuschte, und er sich dennoch nicht von ihr lossagte. Die Beziehung bekommt dadurch eine Tiefe, die sie vorher nicht hatte. Und uns Sündern muss es bei der Betrachtung des Kreuzes ähnlich gehen. Denn Gottes Liebe ist standhafter und leidensfähiger als irgendwer erwarten konnte. Gott liebt uns nicht, weil wir liebens-wert oder liebens-würdig wären, sondern obwohl wir es nicht sind. Gottes Treue ist stärker als unsere Untreue. Sie schenkt den Versagenden neues Leben. Sie hat den längeren Atem, behält das letzte Wort. Und wir können darüber nur staunen. Denn so wie der Fischer hat Gott unter uns ein Netz der Liebe ausgespannt. Unser Flirt mit dem Bösen findet darin sein Ende. Er wird uns aber nicht zum Verhängnis, weil Gott für uns eintritt. Und dankbar bekennen wir, dass es nichts Besseres gibt, als auf solche Weise geliebt zu werden. 

 

 

Bild am Seitenanfang: Fishing Boat on Shore (1885)

Emil Carlsen (American, 1848-1932), Public domain via Artvee