Entschlossenheit
Kennen sie Evel Knievel? Den Jüngeren wird der Name nichts sagen. Die Älteren erinnern sich aber vielleicht an diesen amerikanischen Stuntman, der durch riskante Motorrad-Sprünge berühmt wurde. Er sprang mit seiner Maschine über 50 Autos und über eine tiefe Schlucht. Er versuchte mit einem Satz über 13 Busse hinwegzukommen und auch über ein Haifischbecken. Er stürzte häufig und erlitt bei spektakulären Shows insgesamt 433 Knochenbrüche. Ende der 70er Jahre kannte ihn jeder Schuljunge. Und mancher hatte zuhause eine Spielfigur und eine Sprungbahn, mit der man Evel Knievels Sprünge nachahmen konnte. Doch warum erzähle ich davon? Bestimmt nicht, weil ich „Extremsport“ irgendwie gut fände – nein. Wir haben unser Leben nicht bekommen, um es leichtfertig aufs Spiel zu setzen! Und trotzdem kann man von Evel Knievel etwas lernen, das auch für den Glauben richtig und wichtig ist. Denn mit oder ohne Motorrad gilt, dass man eine tiefe Schlucht nicht mit zwei Sprüngen überwindet. Läuft man auf gerader Strecke, ist das natürlich anders. Da kann man den Weg in kleine Etappen unterteilen und immer wieder Pause machen. Wer nicht gut zu Fuß ist, kommt trotzdem ans Ziel. Doch wenn einer mit dem Motorrad über 50 Autos oder über einen tiefen Abgrund fliegen will, hilft nur Vollgas. Da gibt es keine „Zwischenschritte“. Sondern alles Zaudern endet tödlich. Denn wer auf die Rampe zuschießt und im letzten Moment nicht beschleunigt, sondern unsicher wird und bremst, der kommt nirgends an. Natürlich gibt es auf der Anlaufstrecke weit vor dem Sprung einen Punkt, an dem man noch abbrechen und umkehren kann. Aber wenn man den hinter sich hat, muss man gnadenlos „draufhalten“. Und wer das nicht will, darf gar nicht erst Anlauf nehmen, denn es wird jämmerlich enden. Nachdenken auf der Rampe ist sinnlos. Alles Nachdenken muss vorher erledigt sein. Evel Knievel darf sich beim Absprung nicht fragen, ob auch der Reifendruck seiner Maschine stimmt. Das muss vorher geklärt sein. Denn über eine tiefe Schlucht kommt man nicht in zwei oder drei kleinen Sätzen, sondern mit einem großen – oder gar nicht. Und wenn sie den harten Übergang erlauben: lange vor Evel Knievel wusste das auch schon Jesus. Denn der hat diese Einsicht auf den Glauben angewandt. Und – so als ginge es um einen Motorradsprung – hat er von seinen Jüngern erst nüchternes Nachdenken und dann entschlossenes Handeln gefordert. Jesus sagt:
„Wer ist unter euch, der einen Turm bauen will und setzt sich nicht zuvor hin und überschlägt die Kosten, ob er genug habe, um es auszuführen, – damit nicht, wenn er den Grund gelegt hat und kann‘s nicht ausführen, alle, die es sehen, anfangen, über ihn zu spotten, und sagen: Dieser Mensch hat angefangen zu bauen und kann‘s nicht ausführen? Oder welcher König will sich auf einen Krieg einlassen gegen einen andern König und setzt sich nicht zuvor hin und hält Rat, ob er mit zehntausend dem begegnen kann, der über ihn kommt mit zwanzigtausend? Wenn nicht, so schickt er eine Gesandtschaft, solange jener noch fern ist, und bittet um Frieden. So auch jeder unter euch, der sich nicht lossagt von allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein“ (Lk 14,28-33).
„Oh, das ist aber hart“, wird mancher sagen. Das klingt gar nicht, als wollte Jesus Menschen einladen, seine Jünger zu werden, sondern, als wollte er möglichst viele abschrecken. „Übernimm dich nicht!“ scheint er zu sagen. Wenn du nicht völlig entschlossen bist oder keine Durchhaltevermögen hast, dann lass es lieber gleich. Denn mit dem Christ-Sein ist es wie mit dem Turmbau. Wer auf der Hälfte stecken bleibt, weil er sich zu viel vorgenommen hat, wird zum Gespött. Und wer sich im Krieg unnötigerweise mit einem überlegenen Gegner anlegt, so dass er klein beigeben muss, der ist blamiert. Genauso, sagt Jesus, fordert auch das Christ-Sein erst reifliche Überlegung – und dann ganzen Einsatz. Man kann auf dem Weg der Nachfolge keine halben Sachen machen. Sondern wer den Gashahn aufreißt und auf die Rampe zu beschleunigt, der muss dann auch springen. Ist er aber nicht voll entschlossen und bekommt es mittendrin mit der Angst, wird er entweder stürzen oder sich lächerlich machen. Ja – „Überschätze dich nicht!“ – scheint Jesus zu sagen. „Ist dir der Glaube keinen vollen Einsatz wert, dann lass es lieber gleich!“ Es ist nur fair, so zu warnen. Jesu Jünger sollen wissen, worauf sie sich einlassen. Und doch wird uns mulmig dabei. Denn so ein „alles oder nichts“ kann Menschen abschrecken, die sich wenig zutrauen. „Ist Christentum denn nur etwas für Draufgänger?“ könnte man fragen. „Ist es nur etwas für die Evel Knievels dieser Welt, die draufhalten als gäbe es kein Morgen? Ist da kein Platz für Schüchterne und Zaudernde?“ Beinah möchte man die Furchtsamen vor Jesus in Schutz nehmen. Denn oft rettet uns Furcht das Leben. Wer keine Furcht kennt, handelt leichtsinnig und geht unnötige Risiken ein. Solcher „Heldenmut“ grenzt nicht selten an Dummheit. Und die Erfahrung gibt dann den Ängstlichen Recht, während die Draufgänger auf dem Friedhof landen. Aber so hat es Jesus ja auch nicht gemeint. Er wendet sich nicht gegen jene, die mit gutem Grund zaudern, noch empfiehlt er ihnen, sich blind in ein Wagnis zu stürzen, sondern im Gegenteil: Er warnt gerade die, die sich viel zutrauen, dass sie sich nichts Großes vornehmen sollen, wenn sie sich damit überheben. Es ist in Ordnung, einen Turm zu bauen, wenn man vorher die Kosten realistisch überschlagen hat und die Mittel aufbringen kann. Aber mitten im Bau abzubrechen und erst dann nachzurechnen, warum das Geld nicht reicht – das ist peinlich. Es ist auch in Ordnung, einen Krieg zu führen, wenn man eine Chance hat, den Gegner zu besiegen. Aber erst den Mund voll zu nehmen und dann klein beigeben zu müssen – das ist blamabel. Es zeigt, dass man seine Fähigkeiten überschätzt hat. Und weil man so etwas vermeiden sollte, fordert Jesus, dass man auch in Glaubensdingen zweierlei in der richtigen Reihenfolge tut – dass man nämlich erst selbstkritisch prüft, ob man sich den Glaubensweg zutrauen kann, und es dann (bei positiver Prognose) entschlossen durchzieht. Denn Leute die es andersherum machen, indem sie erst handeln und dann nachdenken, gibt es schon zu viele. Man steigt nicht auf einen hohen Berg und überlegt sich auf halber Strecke, welche Ausrüstung man wohl für den Gipfel braucht. Man lädt nicht 300 Gäste zur Hochzeit ein und fragt sich erst dann, ob die Braut wirklich die richtige ist. Sondern man klärt zunächst die Voraussetzungen, trifft dann eine Entscheidung – und hat anschließend den Kopf frei für die Probleme, die sich bei der Umsetzung ergeben. Natürlich muss Evel Knievel den Reifendruck seiner Maschine prüfen, den Ölstand, das Benzin, die Bremsen und das Fahrwerk. Aber er muss das alles tun, bevor er Anlauf nimmt. Denn auf der Rampe, unmittelbar vor dem Sprung, kommen alle Bedenken zu spät. Und Jesus meint, dass es sich beim Turmbau, im Krieg und im Glauben genauso verhält. Beim Sprung über einen Canyon kann man sich nicht umdrehen, um noch mal die Konstruktion der Rampe zu überdenken. Und beim Sprung in das Reich Gottes hinein (bei diesem geistlichen Wagnis) ist es ähnlich. Denn auch das gelingt nur, wenn man beim Springen entschlossen nach vorne schaut. Bevor jemand sein Jünger wird, soll er gründlich nachdenken, sagt Jesus. Hat er sich aber entschieden mit Jesus zu gehen, muss er bereit sein alles dranzugeben, was hinter ihm liegt, und alles loszulassen, was ihn an seine Vergangenheit bindet. Jesus sagt: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“ (Lk 9,62). Er erwartet, dass die Jünger um seinetwillen alle Bindungen kappen und entschlossen sind, alles auf eine Karte zu setzen (Mt 19,16-26; 13,44-46; Lk 14,26-27; 1. Kor 7,29-31; Joh 12,25). Da sollen dann die Toten ihre Toten begraben, und die Sorge um Besitz, Familie, Kleidung und Nahrung muss zurückstehen (Mt 6,19-24; 8,21-22; 13,22; Lk 14,15-24). Denn wer nicht frei ist von solchem Ballast, ist nicht frei genug für Gottes Reich. Es war nicht gut, dass Israel auf dem Weg ins gelobte Land immer wieder zurückdachte an die Fleischtöpfe Ägyptens (2. Mose 16,2-3; 4. Mose 11,4-5). Es war nicht gut, dass sich Lots Frau bei der Flucht aus Sodom unbedingt noch einmal umdrehen wollte (1. Mose 19,17.26). Es war nicht gut, dass sich der reiche Jüngling nicht von seinem Besitz trennen konnte (Mt 19,16-26). Es ist immer verhängnisvoll, wenn jemand einen großen Schritt nach vorn machen will und dabei nostalgisch nach hinten sieht. Denn der ist nicht auf das Kommende fokussiert. Das Vergangene lenkt ihn ab, es bindet seine Aufmerksamkeit und hemmt seinen Fortschritt. Wer das eine Ufer des Flusses nicht loslassen kann, wird das andere nie erreichen. Und so warnt Jesus nicht darum vor halbherzigem Christ-Sein, weil er die Ängstlichen verachten oder die Draufgänger idealisieren wollte, sondern weil Christ-Sein nur mit ganzer Hingabe gelingt. Man wird nicht probehalber „ein bisschen“ Christ. Sondern man macht es richtig – oder gar nicht. Man überspringt diese Schlucht nicht mit vielen kleinen Sätzen, sondern mit einem großen. Und das an sich sehr verständliche Zaudern und Zögern macht nur vorher Sinn. Vorher soll man sich gründlich prüfen. Jesus empfiehlt das dringend. Doch im Sprung kommen alle Bedenken zu spät. Denn da muss man unbeirrt draufhalten und den Blick nach vorn richten. Jesus fordert zuerst die selbstkritische Prüfung. Und dann das entschlossene Handeln. Aber bitte beides nacheinander – und in der richtigen Reihenfolge. Denn man baut kein Haus, wenn schon beim Fundament absehbar ist, dass man sich das Dach nicht wird leisten können. Und man fängt keinen Krieg an, wenn der Gegner doppelt so stark und die Niederlage unvermeidlich ist. Bei solchen Dingen genügt es nicht, einen schönen Start hinzulegen. Man muss auch wissen, wie man es zu Ende bringt. Es geht also nicht ohne Entschlossenheit. Aber die darf eben nicht auf Naivität oder Leichtsinn beruhen, sondern muss basiert sein auf reifliche Überlegung und gute Vorbereitung. Nur das unterscheidet dann den echten Mut von der Dummheit! Doch – so sehr das auch einleuchtet – in der Praxis fällt es uns schwer. Denn vieles sieht verlockend und „leicht“ aus, solange man es nicht wirklich versucht. Beim Hausbau, im Krieg und in der Ehe ist es immer dasselbe. Die wahren Schwierigkeiten treten erst zu Tage, wenn man in dem Projekt schon mittendrin steckt und nicht mehr zurückkann. Was sollen wir also tun, wenn wir ins Christ-Sein hineingerutscht sind, ohne uns ausreichend zu prüfen? Was, wenn wir anfangs naiv waren und uns zu viel zutrauten? Was, wenn uns erst mitten im Leben klar wird, wieviel Jesus seinen Jüngern abverlangt – und dass unsre Kräfte dafür nie und nimmer reichen? Fühlen wir uns dann wie Evel Knievel, wenn er den Mund zu voll genommen hat? Sind wir von der Rampe abgesprungen und merken erst im Flug, dass der Schwung nicht reicht? Da läuft es einem heiß und kalt den Rücken hinunter. Man denkt: „Oh, oh, bei den anderen sah das Christ-Sein so leicht aus!“ Doch wir sollten Ruhe bewahren und hektische Bewegungen vermeiden. Denn zur Panik bestünde nur Anlass, wenn es die eigenen Kräfte wären, die uns über den Abgrund tragen. In dem Fall würden wir grandios scheitern. Doch in Wahrheit ist es Gottes Kraft, die unser Christ-Sein möglich macht. Und so haben wir keinen Grund, in Panik zu verfallen. Vielmehr, wenn mitten im Projekt peinlich zu Tage tritt, dass uns zum Christ-Sein die nötigen Ressourcen fehlen, dann ist das normal und ist überhaupt nichts neues. Sondern es wird uns in solchen Momenten nur wieder bewusst, dass dieses geistliche Unterfangen von Gottes Ressourcen lebt. Früher meinten wir vielleicht, das mit dem Christ-Sein sei unser eigener Entschluss. Doch in Wahrheit war es von Anfang an Gottes Idee. Nur vordergründig haben wir nach ihm gegriffen. Tatsächlich hat er uns ergriffen. Und alles, was nötig ist, um uns schwungvoll über den Abgrund zu tragen (alles, was nötig ist, um den Turm zu vollenden und den Krieg zu gewinnen), stellt Gott selbst für uns bereit. Evel Knievel konnte sich auf seinen Motor verlassen, auf das Fahrwerk seiner Maschine und auf die Statik der Rampe. Alles wurde hundertmal geprüft! Was aber haben wir? Wir haben das unumstößliche Faktum unserer Taufe. Wir haben unmissverständliche Zusagen Jesu. Und neben dem Abendmahl steht uns das klare Evangelium zur Verfügung. Wir haben jederzeit die Möglichkeit des Gebets. Und außerdem trägt uns die Gemeinschaft der Gläubigen. Diese Ausstattung bewährt sich schon seit vielen Generationen. Und wer sie entschlossen nutzt, den beschleunigt sie zuverlässig in den Himmel hinein. Haben wir‘s aber schon gewagt und sind über die Rampe hinaus, können wir uns das Grübeln sowieso sparen. Denn der Punkt auf der Anlaufstrecke, an dem man noch hätte bremsen und umkehren können, liegt ja längst hinter uns. Die meisten von uns sind nicht erst seit gestern mit Christus unterwegs. Nun fliegt das Leben an uns vorbei. Und umdrehen können wir nicht mehr. Wir sind wie Pfeile – abgeschossen in Richtung „Reich Gottes“! Für die sichere Ankunft auf der anderen Seite des Canyons wird Gott sorgen. Und scheitern könnten wir nur, wenn er sein Wort nicht hielte. Das aber ist dermaßen gegen Gottes Natur, dass wir‘s locker drauf ankommen lassen. Der gnädige Gott, der uns nicht nur Mut machte, sondern uns ernstlich befahl zu ihm zu kommen, wird uns nicht umsonst kommen lassen. Und der uns nachdrücklich zu sich rief, wird nicht zulassen, dass ihn die Willigen, die seinem Ruf folgen, dann doch noch verfehlen. Nein. Das Ziel selbst sorgt dafür, dass wir es treffen. Und so beruht unsere Entschlossenheit eigentlich ganz auf der seinen. Unsere Zuversicht muss so wenig schwanken wie der, der sie geweckt hat. Und wenn wir auch tausendmal Grund haben, uns selbst zu misstrauen, bleibt es doch eine rationale und gute Entscheidung. Denn es stimmt zwar, dass uns der Glaube viel kostet. Nicht zu glauben, kostet aber noch weit mehr. Einen Turm zu bauen, einen Krieg zu führen oder einen Sprung zu wagen hat seinen Preis. Aber wer es bleiben lässt, zahlt auch einen Preis. Und mag solches Tun Risiken bergen, so gilt das von der Untätigkeit erst recht. Ja, es kostet etwas, Jesu Jünger zu sein. Es kostet aber noch viel mehr, kein Jünger zu sein. Und das ist vielen nicht bewusst, die endlos zögern und zaudern. Doch, wie gesagt: Wer über die Rampe schon hinaus ist, kann sich solche Grübelei sparen. Der muss nur noch Kurs halten und fliegen, bis ihn Gottes Arme auffangen.
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