Gesetz und Gnade

Gesetz und Gnade

Allegorie auf Gesetz und Gnade / Lucas Cranach der Ältere, Public domain, via Wikimedia Commons

 

Es ist ein verwirrendes Bild, in dem man sich nicht gleich zurecht findet. Denn es gibt eine Vielzahl von Figuren und Schauplätzen. Und offenbar treten dieselben Personen an verschiedenen Stellen zugleich auf. Manches kommt uns bekannt vor. Und manches ist rätselhaft. Wie bringen wir also Ordnung hinein? In der Mitte läuft eine Trennungslinie von oben nach unten durch den Stamm eines Baumes. Die Baumkrone ist links kahl – und rechts grün belaubt. Hier verläuft also nicht nur eine räumliche Grenze, sondern das Bild zerfällt in eine linke und eine rechte Hälfte. Und da wir wissen, dass Lukas Cranach sein Bild „Gesetz und Gnade“ genannt hat, dürfen wir probehalber annehmen, dass die linke Tafel die Gesetzesseite darstellt. Die nähere Betrachtung bestätigt es. Denn da ist eine wahrhaft grausige Szene zu sehen: Ein fast nackter Mensch flieht vor seinen Verfolgern, einem Gerippe und einer monströsen Phantasiefigur, die ihn mit sichtlichem Vergnügen vor sich her treiben. Das Gesicht des Mannes ist angsterfüllt. Er schreit offenbar um Hilfe. Aber die Gruppe der vornehm gekleideten Männer rechts, steht ratlos dabei. Können sie ihm denn nicht helfen? Wollen oder dürfen sie ihm nicht helfen? Schauen wir genauer hin, so klärt sich, mit wem wir es zu tun haben. Denn der Hintergrund des Bildes zeigt den Sündenfall. Dort stehen Adam und Eva unter dem Baum der Erkenntnis. Sie halten gemeinsam die verbotene Frucht in Händen und lauschen den Worten der Schlange, die ihnen verspricht „ihr werdet sein wie Gott“ (1. Mose 3,5). Darauf ist Adam hereingefallen. Und das begründet jenes Elend, in das er nun geraten ist. Denn die dunklen Mächte, deren er sich bedienen wollte, haben Macht über ihn gewonnen. Tod und Teufel – das sind die grausigen Gestalten, die ihn jagen – haben rechtmäßigen Anspruch auf Adam. Er selbst hat sich ihnen ausgeliefert, als er das Vertrauen Gottes missbrauchte. Und nun hilft alles Jammern nicht mehr. Denn der Tod mit seinem Spieß streckt ihm spottend die Zunge heraus und treibt ihn zum linken Bildrand hin, wo die Flammen der Hölle schon auf ihn warten. Und jene Männer dort? Sie schauen bekümmert drein und beratschlagen sich. Aber tun können sie wenig. Denn alles, was sie bereits taten, hat Adam nicht zur Vernunft gebracht. Der Mann rechts trägt zwei Steintafeln unter dem Arm. Und wir erkennen daran, dass es Mose ist. Er hat Gottes gutes Gesetz in Empfang genommen. Er hat dem ganzen Volk kundgetan, was zum Leben dient. Doch die Menschen haben nicht auf ihn gehört. Die Propheten – das sind die anderen Männer – haben gleichfalls gemahnt, man möge doch auf den von Gott gewiesenen Weg zurückkehren. Aber man hat sie ignoriert oder verlacht. Was sollen sie also noch tun? Gottes Gesetz ist und bleibt gut. Es wurde zum Leben gegeben. Und es würde den, der sich dran hält, auch zum Leben führen. Aber Gottes Gesetz ist zugleich mit eindeutigen Sanktionen verbunden. Und seine Drohungen sind ernst gemeint. Wer dem Gesetz nicht folgt, fällt der Verdammnis anheim. Das haben alle gewusst. Auch Adam hat es gewusst. Wenn er sich aber dennoch für das Böse entschied – was können ihm Mose und die Propheten noch helfen? Das Gesetz war zum Leben gegeben. Doch nun ist es dem Menschen zum Stolperstein geworden. Es sollte ein Segen sein. Doch nun verurteilt es ihn – und die unverbrüchliche Geltung des Gesetzes wird ihm zum Verhängnis. Wenn es nichts weiter gäbe als das Gesetz, wäre an eine Rettung Adams nicht mehr zu denken. Doch heißt das Bild ja „Gesetz und Gnade“. Und so können wir der ausweglosen Situation entkommen, indem wir zur rechten Bildhälfte hinüberspringen. 

Hier sehen wir Adam zum dritten Mal, denn er ist mit uns gesprungen und steht nun staunend und anbetend unter dem Kreuz Christi. Er lauscht den erklärenden Worten eines Mannes, der ihn eindringlich auf Christus verweist. Vielleicht ist es Johannes der Täufer, das wissen wir nicht genau. Was er sagt, geht aber deutlich genug aus dem Bild hervor. Denn es zeigt die wichtigsten Stationen des Lebens Christi. Im Hintergrund auf der grünen Wiese findet sich eine weihnachtliche Szene. Da sind die Hirten auf dem Felde. Vor allem aber sehen wir Maria im blauen Kleid, die vom Engel eine himmlische Botschaft empfängt: Sie wird das Kind gebären, das Adams Schicksal wenden kann! Der Weg Jesu führt dann ans Kreuz, wo er die Schuld Adams trägt und Adams Strafe büßt. Stellvertretend übernimmt er für ihn das Leiden, geht für Adam in den Tod und durch die Hölle hindurch. Christus scheint damit besiegt. Und doch bleibt er Sieger. Denn das Lamm am Fuße des Kreuzes trägt schon die Siegesfahne. Das Grab rechts daneben ist aufgetan, der Stein, der es verschloss, ist zerbrochen. Und der auferstandene Christus hat Tod und Teufel zu Boden getreten. Wie man es von Bildern des Heiligen Georg kennt, rammt er dem Drachen eine Lanze ins Maul. Christus hat Adams Verfolger besiegt und überwunden. Sie haben jegliches Recht an der Menschheit verloren. Und danach ist Christus gen Himmel gefahren. Rechts oben sehen wir seine Füße in den Wolken verschwinden. Doch was er für die Seinen erwarb, bleibt auf Erden präsent. Denn aus der Seitenwunde des Gekreuzigten ergießt sich ein Blutstrahl, der sich – begleitet von der Taube des Heiligen Geistes – auf Adams Brust ergießt. Wort und Sakrament kommen bei Adam zusammen, soll das heißen, nämlich das Wort durch die Predigt des Johannes, und das Blut Christi im Sakrament des Abendmahls. Hier faltet Adam die Hände, denn unter dem Kreuz hat er Frieden gefunden. Was geschieht aber weiter hinten in der Ferne? Wir sehen ein Zeltlager, ein Kreuz – und darüber hängend eine große Schlange. Es ist die „eherne Schlange“, von der   in 4. Mose 21,4-9 berichtet wird. Lukas Cranach und seinen Zeitgenossen war bewusst, dass die eherne Schlange ein Gleichnis ist – ein alttestamentlicher Vorblick auf Christus. Denn wie in der Wüste nur der überlebte, der nach einem Schlangenbiss aufblickte zur ehernen Schlange, so überlebt hier nur der Sünder, der zu Christus aufsieht und den Blick nicht wieder von ihm lässt. Damit hat das verwirrende Bild nun doch innere Ruhe und einen Mittelpunkt gefunden: Es ist Adam, der staunend unter dem Kreuz steht. Und wie er da so steht, wird er zur Botschaft an den Betrachter – und gewissermaßen zur Einladung. Denn natürlich ist Adam hier nicht als Individuum gemeint. Adam ist der Mensch schlechthin – wir alle sind Adam! Und insofern ist Adams Flucht vom Gesetz zur Gnade auch unser Weg – oder kann es zumindest sein, wenn wir die Botschaft annehmen. Cranachs Gemälde enthält viel Lehrhaftes und kann als Kurzfassung lutherischer Theologie gelten. Aber unter dem Kreuz wird die theologische Unterrichtung dann doch zur persönlichen Anrede. Denn mit alledem sind wir gemeint. Wir sind aufgefordert, neben diesen Adam zu treten, und mit ihm gemeinsam unter dem Kreuz Schutz zu suchen, uns dem Heiligen Geist und dem Sakrament zu öffnen, das Wort Gottes zu hören und die Hände zu falten. Denn Christus hat unseren Frieden teuer erkauft. Er will, dass wir in ihm unseren Frieden finden. Und zu diesem Leben unter der Gnade bietet das Gesetz keine Alternative.