Johannes der Täufer
The Crucifixion (Ausschnitt), Matthias Grünewald, Public domain, via Wikimedia Commons
Der Mann mit der eigenwilligen Frisur und dem groben Gewand ist nicht Jesus, sondern sein Vorläufer und Wegbereiter Johannes der Täufer. Er ist nicht selbst „das Lamm, das der Welt Sünde trägt“ – das sehen wir zu seinen Füßen. Johannes ist aber der erste, der Jesus als dieses Lamm erkennt und die Welt auf ihn als den Messias Israels hinweist (Joh 1,29). Natürlich gab es schon vor ihm die Propheten des Alten Testaments, deren Schriften er in der linken Hand hält. Und viele von ihnen haben den Messias angekündigt und herbeigesehnt. Doch Johannes ist es, der ihm nun nach Jahrhunderten der Erwartung begegnet und ihn identifizieren darf. Er erkennt den Heiland, den Menschensohn und Gottesknecht aus Davids Stamm, von dem Jesaja, Micha und die anderen nur schreiben konnten. Johannes darf sehen, was zu sehen den anderen versagt blieb! Und so wird er über seiner Entdeckung dann auch ganz zum „Zeigefinger“ und zu einem Hinweisgeber – ja, der ganze große Mann ist ein einziger Verweis auf Christus. Denn was wir in unserem Bild sehen, ist nur ein Ausschnitt. Und tatsächlich steht Johannes rechts unter dem Kreuz Christi, auf das er deutet. Sein Zeigefinger entspricht dabei nicht den anatomisch korrekten Proportionen, sondern ist eindeutig zu groß. Dieser Zeigefinger ist mindestens so lang wie das Gesicht des Johannes breit ist! Aber der Maler, Matthias Grünewald, setzt das ganz bewusst als Mittel ein: Der überdimensionale Finger charakterisiert Johannes als einen Mann, der, obwohl er selbst eine imposante Erscheinung ist, doch nicht im Mittelpunkt stehen will, sondern von sich weg auf Christus verweist. Johannes steht als Letzter der Propheten noch für den alten Bund, der in ihm seinen Abschluss findet. Mit Christus beginnt aber etwas völlig Neues, das noch größere Reichweite hat. Und darum sagt Johannes, was in Latein hinter ihm zu lesen ist: “Illum oportet crescere me autem minui”. „Jener...“ – also Jesus – „...muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (Joh 3,30). Die Zeit der Erwartung ist vorbei. Die Zeit der Erfüllung hat begonnen. Und als ein guter Vorläufer und Wegbereiter öffnet Johannes für Jesus nur die Tür und tritt sogleich bescheiden zur Seite, um dem Größeren Platz zu machen, dem künftig alle Aufmerksamkeit gehören soll. Doch, bevor wir seinem Hinweis folgen: Wer war dieser Mann? Und wo kam er her? Johannes ist ein später Sohn des Priesters Zacharias und seiner Frau Elisabeth. Die beiden sind schon alt und bisher kinderlos geblieben. Nachwuchs ist nicht mehr zu erwarten. Doch eines Tages, als Zacharias im Tempel Dienst tut, besucht ihn der Erzengel Gabriel und kündigt die Geburt des Johannes an. Viel Freude werde Zacharias an seinem Sohn haben, sagt der Engel: „Denn er wird groß sein vor dem Herrn; Wein und starkes Getränk wird er nicht trinken und wird schon von Mutterleib an erfüllt werden mit dem Heiligen Geist. Und er wird vom Volk Israel viele zu dem Herrn, ihrem Gott, bekehren. Und er wird vor ihm hergehen im Geist und in der Kraft Elias, zu bekehren die Herzen der Väter zu den Kindern und die Ungehorsamen zu der Klugheit der Gerechten, zuzurichten dem Herrn ein Volk, das wohl vorbereitet ist“ (Lk 1,15-17). Zacharias kann das nicht recht glauben und wird wegen seines Zweifels mit einer vorübergehenden Stummheit geschlagen. Elisabeth aber, seine Frau, freut sich sehr, dass nun die Schmach der Kinderlosigkeit von ihr genommen wird. Und im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft kommt es zur Begegnung mit einer gleichfalls schwangeren Verwandten, die Maria heißt. Als die Frauen sich begrüßen, hüpft das Kind im Leib der Elisabeth voller Freude, weil der noch ungeborene Johannes das Kind im Leib der Maria erkennt, das Jesus heißen wird. Johannes, als letzter Repräsentant des Alten Bundes, erkennt den Beginn des Neuen Bundes. Und im Hüpfen des Ungeborenen hüpft gewissermaßen das ganze Alte Testament mit und freut sich über die Erfüllung seiner Verheißungen. Elisabeth wird vom Heiligen Geist erfüllt – und später dann auch Zacharias, der seinem Sohn Großes voraussagen darf: „...du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden, durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe...“ (Lk 1,76-78).
Johannes wird ein halbes Jahr vor Jesus geboren. Dann hören wir aber lange nichts mehr von ihm. Denn erst im Jahr 28 nach Christi Geburt tritt Johannes öffentlich in Erscheinung als Bußprediger und Prophet. Er lebt in der Wüste von Judäa und ist zu einer in mancher Hinsicht erschreckenden Erscheinung geworden. Nicht nur, weil er ein grobes Gewand aus Kamelhaar und einen ledernen Gürtel trägt. Nicht nur, weil er sich von Heuschrecken und wildem Honig ernährt. Sondern vor allem, weil er eine radikal ernste Botschaft verkündigt, die die Menschen erschreckt und aufrüttelt. Johannes verkündet, das Himmelreich sei ganz nahe herbeigekommen, und niemand solle sich einbilden, er sei gut darauf vorbereitet, bloß weil er ein Nachkomme Abrahams ist und die religiösen Traditionen achtet. Vielmehr sei Buße angebracht als radikale Umkehr und Neubesinnung! Es geht Johannes nicht um eine Korrektur des Bisherigen oder um „Reformen“, sondern um einen vollständigen Umbruch und Neubeginn, dessen Zeichen die Taufe ist. Um dem künftigen Zorn zu entrinnen, kann eine gewohnheitsmäßige, halbherzige und rückwärtsgewandte Frömmigkeit nicht genügen. Vielmehr gilt es, sich ganz auf den einzustellen, der nun mit großen Schritten näher kommt – nämlich auf den Messias, dem gegenüber Johannes nur ein kleines Licht ist. „Ich taufe euch mit Wasser“, ruft Johannes, „es kommt aber einer, der ist stärker als ich, und ich bin nicht wert, dass ich ihm die Riemen seiner Schuhe löse; der wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. In seiner Hand ist die Worfschaufel, und er wird seine Tenne fegen und wird den Weizen in seine Scheune sammeln, die Spreu aber wird er mit unauslöschlichem Feuer verbrennen“ (Lk 3,16-17). Unkonventionell und hart klingt die Botschaft, erschreckend ist der ganze Mann. Und trotzdem hat Johannes großen Zulauf. Aus Jerusalem und aus dem ganzen Land kommen die Menschen zu ihm in die Wüste und lassen sich im Jordan taufen. Sie wissen, dass er Recht hat. Und auch Jesus kommt eines Tages dorthin. Nun weiß Johannes natürlich, dass Jesus nicht seinesgleichen ist, und will ihn durchaus nicht taufen. „Ich bedarf dessen, dass ich von dir getauft werde“, sagt Johannes, „und du kommst zu mir?“ Doch Jesus antwortet: „Lass es jetzt geschehen! Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen“ (Mt 3,14-15). So empfängt Gottes Sohn die Taufe. Und er tut das nicht, weil er, der ohne Sünde ist, einen Akt der Buße nötig hätte, sondern um sich die Taufe durch seine Teilnahme anzueignen und das Sakrament damit zu seinem Sakrament zu machen. Johannes ist sich darüber im Klaren, dass er Jesus gegenüber nicht Meister, sondern nur Schüler sein kann. Und trotzdem scheint er später noch einmal Zweifel zu haben. Denn er lässt Jesus fragen, ob er der ist, der da kommen soll, oder ob man noch auf einen anderen warten muss (Mt 11,26). Vielleicht hat es den Täufer irritiert, dass Jesus nicht als ein so strenger Richter auftrat, wie Johannes das vom Messias erwartet hatte. Jesus seinerseits weiß aber sehr genau, was er von Johannes hält. Und den Jüngern gegenüber stellt er ihm ein sehr ehrenvolles Zeugnis aus. Mehr als ein Prophet sei Johannes, sagt er, und unter allen, die von einer Frau geboren sind, sei keiner größer als er – ja, in Johannes sei Elia zurückgekehrt (Mt 11,7-14 / vgl. Mal 3,1 u. 3,23). Offenbar fühlte sich Jesus seinem Wegbereiter sehr nah. Und dass Johannes in asketischer Strenge lebt und mit seinen Jüngern fastet, während Jesus auch fröhliche Feste besucht, wo er mit Sündern isst und trinkt, tut der Freundschaft keinen Abbruch (Mt 9,14-15 / Mt 11,18-19). Trotzdem sind sich die beiden nah in ihrer Botschaft, sind sich nah vom Alter her – und wie sich herausstellen sollte, auch im Blick auf das gewaltsame Ende, das ihnen bevorsteht. Denn wie Jesus nimmt auch Johannes kein Blatt vor den Mund. Er forderte von den Reichen, dass sie teilen. Er mahnt die Zöllner, niemanden zu übervorteilen. Und er warnte die Soldaten vor Gewalt und Machtmissbrauch. Das hätte wohl gereicht, um sich unbeliebt zu machen. Aber Johannes geht viel weiter. Als er erfährt, dass König Herodes seine Frau verstoßen hat, um seine Schwägerin zu heiraten, zögert er nicht, dem König den Ehebruch öffentlich vorzuhalten. Er nennt die Sünden des Königs beim Namen. Der erboste König aber lässt Johannes ergreifen und ins Gefängnis stecken. Weil der Prophet beim Volk großes Ansehen genießt, zögert Herodes, ihn zu töten. Am Ende besiegelt aber eine Intrige sein Schicksal. Herodias – jene Schwägerin, die der König unrechtmäßig zur Frau genommen hat – hegt nämlich tiefen Hass gegen Johannes. Und sie hat eine Tochter, die (außerbiblischen Quellen zufolge) Salome heißt. Die stiftet Herodias an, den König zu bezirzen. An seinem Geburtstag tanzt Salome vor Herodes. Und die Darbietung begeistert ihn so sehr, dass er schwört, ihr einen Wunsch zu erfüllen, was immer es auch sei. Salome folgt aber den Einflüsterungen ihrer Mutter und sagt: „Gib mir hier auf einer Schale das Haupt Johannes des Täufers!“ Der König kann seinen öffentlichen Schwur nicht zurücknehmen. Er ist einmal mehr zum Opfer seiner Instinkte geworden. Und so lässt er Johannes im Gefängnis enthaupten und den abgetrennten Kopf dem Mädchen auf einer Schale überreichen (Mt 14,1-12). Grausig ist dieses Ende. Aber vor Johannes ist es vielen Propheten ähnlich ergangen. Und das Besondere an ihm ist, dass er die lange Reihe der Wahrheitszeugen abschließt. Johannes steht mit einem Bein noch im Alten und mit dem anderen schon im Neuen Testament. Sein kurzes Leben spiegelt den Umbruch und die Ankunft der neuen Zeit. Er ist der Wächter, der nach einer langen Nacht als erster sieht, wie in Christus Gottes Sonne aufgeht. Der Allmächtige hält Wort und lässt seinen Verheißungen die Erfüllung folgen! Darauf aber mit überlangem Zeigefinger hinzuweisen, das ist die Aufgabe des Täufers. Und weil Ankunft lateinisch „Advent“ heißt, lebt Johannes damit ein wahrhaft „adventliches“ Leben. Dieser Mann wurde so hoch angesehen, dass er sich leicht selbst als Messias hätte ausgeben können. Aber er hat von sich selbst wegverwiesen auf den wahren Erlöser. Er scheute nicht die Gewalt des Königs, scheute sich aber durchaus, Jesus zu taufen, weil er sich dessen nicht würdig fühlte. Und zum Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft hat er am Ende Gott mehr gehorcht als dem Herodes und seiner Macht. Denn das war die Art des Johannes, die Ankunft Christi zu bezeugen und zu feiern. Sein „adventliche Leben“ hat ihn den Kopf gekostet. Und trotzdem kann uns Johannes zum Vorbild werden. Denn auch wir sollten uns hineinnehmen lassen in die große Zeitenwende, die der Stern von Bethlehem verkündet. All die Mächtigen dieser Welt sind längst auf Abruf! Und wenn Christi Herrschaft endgültig anbricht, werden Gewalt und Verschlagenheit sie nicht retten. Christus und den Seinen gehört die Zukunft. Der Herrschaftswechsel ist schon längst im Gange. Und darüber dürfen wir uns gemeinsam mit Johannes dem Täufer herzlich freuen.