Mutlos, lustlos und verdrossen

Mutlos, lustlos und verdrossen

Table of the Mortal Sins, Detail: Accidia / Hieronymus Bosch, Public domain, via Wikimedia Commons

Ein Mann hat es sich am Kamin bequem gemacht und döst. Im Traum erscheint ihm eine Nonne, die ihn mit Rosenkranz und Gebetbuch zu geistlicher Aktivität ermuntern will. Doch sein Gesichtsausdruck bleibt müde und resigniert, verdrossen und verschlossen. Die Kerze am Kamin brennt nicht. Und das erbauliche Buch bleibt ungenutzt auf der Bank liegen.

 

„Alles ist eitel“, sagt der Prediger Salomo, und „Haschen nach Wind“. Des Menschen Mühe ist vergeblich (Pred 1).  Doch wir sperren uns gegen eine so resignative Sicht des Lebens. Wir wehren uns gegen das Gefühl der Vergeblichkeit und Verdrossenheit und gegen die depressive Verstimmung, die sagt, es habe doch „alles keinen Zweck“. Die innere Abwehr gegen dieses Gefühl geht so weit, dass die katholische Kirche es unter die 7 Hauptsünden eingereiht hat – unter dem Namen der „Acedia“. Acedia wird meist mit „Trägheit“ oder „Faulheit“ übersetzt. Aber das trifft die Sache nicht. Denn es geht um etwas Tieferes als bloß um Bequemlichkeit oder Arbeitsscheu. Vielmehr ist der Mensch im Zustand der Acedia innerlich blockiert und in seinem Antrieb gelähmt, weil er kein lohnendes Ziel vor Augen hat. Und mit dem moralisierenden Appell, er solle sich „nicht so hängen lassen“, erreicht man wenig. Denn die große Lustlosigkeit ist Ausdruck einer Sinnkrise und einer Traurigkeit, die der Betroffene nicht mal eben abschütteln kann. Schon die Mönchsväter im 4. Jahrhundert haben Acedia als einen Dämon beschrieben, der die Brüder vor allem um die Mittagszeit befällt, wenn sich nach der Arbeit des Vormittags die erste Müdigkeit einstellt, und die Zeit immer langsamer verrinnt. Da sitzt der Mönch dann an seinem Schreibpult und hat die Schriften vor sich liegen, die er studieren soll. Er schaut aber immer wieder zur Tür, ob denn nicht jemand kommt. Dann blättert er in seiner Bibel, knickt die Seiten, blättert vor, blättert wieder zurück und schaut aus dem Fenster. Er liest ein Stück, lässt sich aber bald ablenken – und hat das Gelesene auch gleich wieder vergessen, weil er sich gar nicht konzentrieren will. Nun, als vorübergehendes Erschlaffen der Kräfte kennt diese Verfassung wohl jeder. Aber als Dauerzustand wird sie zum Problem. Der Mensch ist dann apathisch, frustriert und resigniert, ohne zu wissen warum. Weder zu großer Freude noch zu großer Trauer ist er fähig. Alles ist ihm zu viel und alles egal, zu nichts kann er sich aufraffen, weil‘s in seinen Augen doch alles „nichts bringt“. Acedia ist eine widerwillige Verschlossenheit gegenüber geistlichen und leiblichen Aufgaben, eine bleischwere Traurigkeit und Abscheu der Seele, die keine lohnenden Ziele mehr kennt. Sie ist kein harmloser Anfall von Trägheit und auch nicht das gesunde Ruhebedürfnis nach getaner Arbeit, sondern eine seelische Erkrankung, die in unserer Gesellschaft massenhaft als Depression diagnostiziert und mit bunten Pillen bekämpft wird. Aber kann das allein schon die Lösung sein? Genügt es, die Betroffenen mit Medikamenten wieder funktionstüchtig zu machen? Ich meine, wir müssen nach den tieferen Ursachen fragen, die geistlicher Natur sind. Denn zugrunde liegt keineswegs ein Mangel an Fleiß oder Kraft, sondern ein Mangel an Freude. Nur der ist lustlos und mutlos, der sich an und auf nichts zu freuen vermag. Er resigniert, weil er kein lohnendes Ziel vor Augen hat. Er ist unmotiviert, weil ihm nichts wirklich erstrebenswert erscheint. Und das ist fast zwangsläufig der Fall, wenn eine Gesellschaft als Lebenssinn nur Besitz und Anerkennung, Spaß und Konsum anzubieten hat. Ja, lassen sie es mich provozierend ausdrücken: In einer konsumorientierten und materialistischen Welt wie der unseren halte ich es für ein Zeichen von Intelligenz, wenn ein Mensch depressiv wird. Denn die Intelligenten durchschauen als erste, dass es sich nicht lohnt, ein ganzes Menschenleben in materielle Werte zu investieren, die man am Ende doch nicht mitnehmen kann, sondern den Erben überlassen muss. Die Dummen merken nicht, wie absurd das ist. Man kann sie mit dem neuesten Smartphone locken, mit einem Vorstandsposten oder einer Villa im Süden. Sie verplempern für solche Dinge ihr Leben, laufen im Hamsterrad und merken bis zuletzt nicht, dass sie betrogen sind. Die Schlaueren aber durchschauen das Spiel. Und wenn ihnen nichts Besseres vor Augen steht, folgern sie zu Recht, dass ein so plattes und eindimensionales Leben den Aufwand nicht wert sei. Mit wachen Augen sehen sie, dass diese Welt kein Vergnügungspark ist. Sie möchten auch gar keinen kurzen Spaß, sondern dauerhafte Freude an Dingen, die von bleibendem Wert sind. Diese Hellsichtigen haben keine Lust, nach „dem Wind zu haschen“. Und wenn ihr ganzer Lebensinhalt nur sein soll, ein Reihenhaus abzubezahlen, um eines Tages schuldenfrei begraben zu werden, dann haben sie darauf zu Recht keine Lust. Zu Recht fordern sie, das Leben müsse in mehr bestehen als nur in Produktion und Konsum, Geld verdienen und wieder ausgeben. Wenn ihnen aber niemand bessere Ziele zeigen kann, und junge Leute darauf mit Acedia reagieren, mit Mutlosigkeit und Lustlosigkeit bis hin zum Suizid – dann sind nicht die jungen Leute krank, sondern dann ist unsere Gesellschaft krank, die vergessen hat, wofür sich zu leben lohnt, und es darum ihren Kindern nicht mehr sagen kann. Wofür aber lohnt es sich zu leben? Jesus sagt: „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel...“ (Mt 6,19-20). Jesus verweist damit auf ideelle, auf geistliche Werte – letztlich auf den Gewinn der Gemeinschaft mit Gott. Und das stimmt überein mit der Weisheit der Mönche, die auch schon wussten, dass Acedia nicht mit Druck oder Zweckoptimismus überwunden wird, sondern nur durch neue Freude an göttlichen Gütern. Denn jenes andere, allzu Irdische, wäre für unsere Seele auch dann noch zu wenig, wenn wir ganz viel davon hätten. Der Mensch ist nun mal zu mehr berufen, als nur Produzent und Konsument zu sein. Er ist berufen, ein Kind und Ebenbild Gottes zu sein. Und fehlt ihm dies, so fehlt ihm die Hauptsache. Denn er soll mehr sein als ein Tier unter Tieren, dass sich wie die übrigen mit seinem Stoffwechsel beschäftigt. Der Mensch soll Gott entgegenwachsen, um einst – in den Himmel aufgenommen – den Engeln zu gleichen! Sein Lebensziel ist nicht die Rente oder das Reihengrab, sondern das Wachstum im Glauben, das auf himmlische Vollendung zielt. Des Menschen höchste Autorität ist nicht sein Arbeitgeber, sondern Jesus Christus! Und nach dessen Weisung soll er nicht bloß einen Beruf lernen, sondern vor allem die Weisheit Gottes! Wenn sich der Mensch aber um seine eigentliche Berufung nicht kümmert, weil er sie gar nicht kennt – wenn er die Würde nicht begreift, für die er bestimmt ist, sondern bloß nach irdischen Freuden und Ehren strebt: lebt er dann nicht unter Niveau, weil er vom Leben nicht etwa zu viel, sondern zu wenig erwartet? Bringt er sich nicht selbst um das, was sein stärkster Antrieb sein sollte? Völlig zu Recht hat er das Gefühl, sein Leben zu vergeuden. Zu Recht ist er deprimiert und antriebslos. Die Ursache ist aber nicht, dass sich die Menschen permanent überforderten, sondern dass sie sich permanent unterfordern – und dort ihre Kraft vergeuden, wo sie dafür nur Geld und warme Worte bekommen. Sie erwarten vom Leben keineswegs zu viel, sondern zu wenig. Eben das ist ihr Problem. Sie sind nicht etwa unbescheiden, sondern zu bescheiden. Sie werfen sich auf Ziele, die der Mühe nicht wert sind. Und wenn sie darüber jede Lust verlieren, so ist diese Lustlosigkeit keine Charakterschwäche, sondern Ausweis eines wachen Verstandes! Der Philosoph Josef Pieper findet die Ursache der Acedia darin, dass der Mensch sich dem hohen Anspruch versagt, der mit seiner eigenen Würde gegeben ist, dass er in sich selbst weniger sieht, als er nach Gottes Willen sein soll – und an diesem wenigen dann verständlicherweise die Lust verliert. Er gerät in einen traurigen Mangel an Mut und Motivation, weil er sich das Große nicht zumutet, dass seiner menschlichen Natur gemäß wäre. Er verweigert sich der Höhe, zur der ihn Gott erheben will, und kriecht stattdessen auf dem Bauch herum. Er nimmt die Herausforderung nicht an, die es lohnen würde, das Leben hinein zu investieren. Er hat nicht den Mut, so groß zu sein, wie er von Gott gemeint ist, sondern denkt allzu gering von sich. Er sieht sich bloß als ein Stück denkender Biomasse – und als Opfer der Umstände. So verhallt der Ruf Gottes ungehört. Und das rächt sich bitter. Denn über sein Dasein, dem er selbst die tiefere Bedeutung entzog, denkt der Mensch anschließend verächtlich. Er hat ja wirklich recht! Das Laufen im Hamsterrad ist der Mühe nicht wert! Der Verdruss aber ist nicht gottgegeben, sondern hausgemacht, weil sich dieser Mensch nicht zu viel, sondern zu wenig vornimmt. Er will sich nicht zumuten, eine Geschichte mit Gott zu haben. Er reduziert sich auf Funktionen, die er mit den Tieren teilt. Doch so lebt er unter dem Niveau, das der Schöpfer für ihn vorgesehen hat – und fühlt sehr zu Recht, dass dieses Dasein keinen Sinn macht. Dagegen helfen kein Motivationstraining und kein Zweckoptimismus, sondern nur ein geistlich „anspruchsvolleres“ Leben. Der Mensch muss ernst nehmen, dass Gott ihn zum Gegenüber haben will. Er muss anfangen, sich als Gottes Mitarbeiter und Gesprächspartner zu begreifen. Und obendrein darf er wissen, dass Christus ihn teuer erkauft und dazu auserwählt hat, ein Tempel des Heiligen Geistes zu werden. Der Lohn aber, um dessentwillen sich dies Leben lohnt, ist Gott selbst, der ganz unser werden will, wie wir ganz die Seinen sind. Die Gemeinschaft mit Gott adelt dann. Und Adel verpflichtet! Doch wer sein Herz in Gott investiert hat, muss keine Inflation mehr fürchten – und schon gar keine Langeweile. Wer hingegen Gott aus seinem Leben streicht: hat der nicht allen Grund zur Depression? Und ist es nicht gerecht, wenn der, der es nicht auf mehr abgesehen hat als auf ein bisschen Spaß vor seinem Tod, auch nicht mehr bekommt als ein bisschen Spaß – und dann den Tod? Wenn man nach Freude sucht, wo wahre Freude nicht zu finden ist, muss Verdrossenheit folgen. Aber die ist dann hausgemacht. Denn das menschliche Leben lohnt nun mal nicht um der irdischen, sondern um der himmlischen Güter willen. Und wer von denen nichts wissen will, dessen Leben wird zu einem Geschäft, das seine Kosten nicht deckt. Er steigt nur auf, um wieder zu fallen. Er blüht nur, um wieder zu verwelken. Er gewinnt nur etwas, um es wieder zu verlieren. Bei ihm ist „Acedia“ die ungute Ahnung, dass dies „nichts bringt“! Durchschaut er aber sein „Haschen nach Wind“, so muss und soll es ihn verdrießen, damit er‘s endlich begreift: Dieses Leben lohnt nicht um der irdischen, sondern nur um der himmlischen Güter willen. Und von denen abgesehen ist es ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, auf dem die innere Leere mit lautem Getöse überdeckt werden muss. Die Alternative, auf die Jesus verweist, bleibt aber immer bestehen. Er vergleicht das Himmelreich mit einem Schatz im Acker und mit einer kostbaren Perle, die jeden Einsatz wert sind (Mt 13,44-46). Schatz und Perle stehen für unsere Berufung zur Gemeinschaft mit Gott! Und wer da auf den Geschmack kommt, wird seine Lethargie überwinden. Er muss zwar von sich und seinem Leben deutlich mehr erwarten, als heute üblich ist. Aber das eine hat er begriffen: dass ihm mit weniger nicht gedient wäre. Denn wer für Gott geschaffen ist, wird in den Armen der Welt sein Glück nicht finden, sondern letztlich nur Acedia – den großen Überdruss.