Näher zu Gott?

Näher zu Gott?

 Daniel Stylites. Menologion of Basil II, Anonymous / unknown author, 

Public domain, via Wikimedia Commons. Foto: Wikipedia user Shakko

Was mag das für einer sein, der da auf der Säule sitzt? Und was macht der da? Nun, es ist ein „Säulenheiliger“. Ein Aussteiger, oder genauer gesagt: die christliche Variante eines Aussteigers. So einer nämlich, der von der Welt die Nase voll hat und die Nähe Gottes so sehr ersehnt, dass er auf eine Säule steigt und für Jahre nicht mehr herunterkommt, sondern dort oben den Rest seines Lebens verbringt. Was für ein Spinner, würde mancher sagen – was für ein Freak! Doch ich bekunde mein Verständnis und meine Sympathie für diese Art des Aussteigertums. Denn den Überdruss am alltäglichen Wahnsinn dieser Welt teile ich. Und ich vermute, dass es vielen ähnlich geht. „Fluchttendenzen“ haben wir wohl alle – und leben sie wahrscheinlich bloß in verschiedener Weise aus. Manche fahren im Urlaub ganz weit weg, um ihrem Alltag zu entfliehen. Die wollen dann von den Sorgen und Nöten zuhause nichts mehr wissen. Andere tauchen in der Tiefsee oder besteigen hohe Berge, um ihrem Alltag zu entkommen. Manche betrinken sich oder nehmen Drogen mit demselben Ziel – möglichst alles hinter sich zu lassen. Und wieder andere pflegen obskure Hobbys, schreiben Phantasy-Romane oder verlieren sich nächtelang in Computerspielen. Alles nur, um kurzfristig in eine andere Welt einzutauchen. Zu Karneval verkleiden sie sich, um endlich jemand anders zu sein. Und wenn sie frei haben, gehen sie nicht mal mehr an die Tür. Ja, abtauchen, unerreichbar sein oder überhaupt ein neues Leben beginnen – solche Fluchtstrategien gibt es in großer Zahl. Und als gemeinsame Erfahrung steht dahinter, dass unser ganz normales Berufs- und Familienleben mit seinen vielen Routinen, Verwicklungen und Sorgen nur schwer auszuhalten ist. Der Mensch erträgt die Gesellschaft des Menschen nur mit Unterbrechungen. Er stört die anderen und wird von ihnen gestört. Er tut anderen Unrecht und wird Opfer solchen Unrechts. Er ärgert und wird geärgert. Der Eremit aber, der asketisch lebende Mönch, zieht daraus den Schluss, dass er dieser Welt mit ihren vielen Ärgernissen und Versuchungen besser den Rücken kehrt, den Schmutz hinter sich lässt, sich Gott zuwendet – und dann für die höheren Dinge da ist. So ein Säulenheiliger ist ein Aussteiger der christlichen Sorte, der von der Welt nicht mehr viel erwartet, der aber von Gott umso mehr erwartet, der darum zwischen sich und die Welt eine Distanz legt – und mit seiner Säule auch räumlich auf Abstand geht. Die tausend Nichtigkeiten dieser Welt sollen ihn nicht länger von Gott ablenken. Er sagt: „Ich bin dann mal weg!“ Und seine Säule hilft ihm dabei. Natürlich muss er ab und zu mit einem langen Seil Wasser und Brot nach oben ziehen. Aber da oben ist auch keiner, der ihn in Versuchung führen könnte, und keiner, dem er seinerseits Unrecht täte. Da gibt es keinen Luxus und kein böses Gerede, da gibt es weder Macht noch Geld, es gibt da oben keine Gewalt, keine schlechten Nachrichten – und erst recht keinen Stress mit Frauen, die ihn verlocken könnten. Da gibt es nur den Himmel, die Zwiesprache mit Gott, Regen, Sonnenschein, Wind, viel Stille, gute Gedanken und einen großen inneren Frieden. Freilich kann es sein, dass man den Säulenheiligen für einen Spinner hält! Aber stimmt es etwa nicht, was er erkannt hat? All die glänzenden Güter und Verlockungen dieser Welt sind vergänglich. Klugheit, Ruhm und Schönheit blenden nur das Auge. Und auf Menschen ist sowieso kein Verlass. Die nach irdischem Glück streben, laufen wie im Hamsterrad. Sie strengen sich maßlos an, finden aber keinen wahren Frieden dabei, sondern drehen sich nur im Kreis – und ernten am Ende den Tod. Das macht wirklich wenig Sinn! Und darum sind Fluchttendenzen gerade bei nachdenklichen Menschen so häufig. Wenn aber einige in den Rausch hinein fliehen, und manche in gefährliche Abenteuer bis hin zum Suizid – gehört dann so eine Säule nicht zu den besseren Alternativen? Sich konsequent dem Himmel zuwenden, ist das nicht besser, als das Leben abzusitzen wie eine quälende Schulstunde und bloß auf das erlösende Klingeln zu warten? Der bekannteste Säulenheilige hieß Simeon Stylites, und lebte im 5. Jahrhundert in Syrien. Simeon pflegte schon in jungen Jahren eine extreme Askese. Er übte sich im Verzicht auf Schlaf und Nahrung und suchte dazu die Einsamkeit. Doch geriet er bald in den Ruf, ein Heiliger zu sein, und wurde daraufhin ständig von Pilgern und Ratsuchenden bedrängt. In diesem Sinne populär zu sein, war genau das, was er am wenigsten wollte. Und um dem zu entgehen, kletterte er zunächst auf eine Steinsäule, die 3 m hoch war, und lebte darauf 7 Jahre lang, wobei ihn natürlich andere Mönche und Freunde mit Nahrung versorgten. Doch begeisterte Pilger zogen ihm immer wieder Fäden aus seinem Gewand, um sie als Andenken an den heiligen Mann mit nach Hause zu nehmen. Und so halfen ihm kaiserliche Bauleute, seine Säule auf 18 Meter zu erhöhen. Obendrauf war eine kleine Plattform von etwa 2 x 2 Metern. Und dort lebte Simeon noch 30 Jahre lang in luftiger Höhe, betete ohne Unterlass und nahm nur einmal in der Woche Nahrung zu sich, die er in einem Korb hinaufzog. Er soll dabei aber bester Laune gewesen sein und predigte zweimal täglich den Pilgern, die sich unten versammelten. Ja, rund um seine Säule gab es so etwas wie einen permanenten Kirchentag, und der stets von Freude erfüllte Simeon beantwortete auch Fragen, die Besucher ihm hochriefen. 459 nach Christus ist er dann oben auf seiner Säule gestorben – und es dauerte drei Tage, bis es die Leute unten merkten. Simeon fand aber viele Nachahmer, die es ihm gleichtaten. Und bis heute gibt es in der Ostkirche Eremiten, die zwar nicht auf Säulen, aber doch auf hohen, unzugänglichen Felsen sehr einsam und abgeschieden wohnen. Sie leben ganz bewusst zwischen Himmel und Erde, kehren aber der Erde den Rücken zu und wenden ihre Konzentration ganz auf Gott. Sie wollen der Verstrickung in die Begehrlichkeiten dieser Welt entfliehen. Sie wollen ihren Geist von allem befreien, was niedrig ist. Und an diesem Ehrgeiz kann ich nichts Schlechtes finden. Sondern von allen Fluchtversuchen, die es gibt, finde ich die Flucht zu Gott bei weitem am besten. Nur bleibt die Frage, ob man Gott wirklich in dieser Richtung – fern der Erde in luftigen Höhen – suchen sollte. Denn seltsamerweise ist Gott ja seinerseits in der entgegengesetzten Richtung unterwegs. Er verlässt die Höhe des Himmels und wird auf Erden ein Mensch. Er erniedrigt sich selbst und wird geboren als Wickelkind zu Bethlehem. Und dieses Sich-Herablassen Gottes ist sozusagen die Gegenbewegung zu dem Heiligen, der auf eine Säule steigt, um der Welt möglichst fern zu sein. Denn eben das so mühsame und fragwürdige Erdenleben, dem viele entfliehen möchten, genau das macht Gott zum Ziel seiner Reise, indem er Mensch wird und Zimmermann zu Nazareth. Während Simeon hoch hinauf strebt auf seine Säule, um dem sündigen Erdenleben ferner und dem Himmel näher zu sein, kommt Gott von genau diesem Himmel herunter, um der Erde näher zu sein. Das sind gegenläufige Bewegungen! Und so muss man fragen, ob sich Gott und Mensch dabei nicht eventuell verfehlen und sozusagen aneinander vorbeilaufen. Denn während der Mensch nach Höherem strebt, strebt Gott hinab, wird niedrig und gering. Gott sucht uns gerade in dem Alltag auf, aus dem wir so gerne aussteigen würden. In die enge Zelle, aus der wir ausbrechen wollen, bricht Gott von außen hinein! Und während Simeon eine Säule von 18 Metern braucht, um sich von der Erde möglichst weit zu entfernen, kommt Gottes Sohn just auf diese Erde hinab und setzt seinen Fuß in den irdischen Schlamm. Simeon will mit den Menschen möglichst wenig zu tun haben, Gott aber will so viel mit ihnen zu tun haben, dass er sogar selbst Mensch wird. Und das stellt unsere Fluchttendenzen in Frage. Denn der eine flieht regelmäßig in den Urlaub, und der andere in den Alkohol, einige flüchten in private Scheinwelten, in die Arbeit, in den Schrebergarten – oder sie stürzen sich von einer Liebesaffäre in die nächste. Manche werfen sich dem Leben an den Hals, und andere sogar dem Tod – nur um dem zu entrinnen, was sie nicht aushalten können. Wenn aber Gott beschlossen hat, das gewöhnliche Leben durch seine Gegenwart zu adeln – sind unsere Fluchten dann noch nötig? Muss so ein Simeon wirklich auf die Säule hinauf, wenn man Gott auch zu ebener Erde begegnen kann? Muss man in die Ferne schweifen, wenn Gott hier und jetzt bei uns sein will? Der Aufstieg mag verlockend scheinen, und die Aussicht von der Säule war bestimmt schön! Aber besteht nicht die größere Herausforderung darin, unten zu bleiben, bei den Menschen, und gerade das normale Tagesgeschäft Gott zu widmen? Sollten wir dem Alltag entfliehen, um unseren Glauben zu leben, oder sollten wir ihn nicht gerade im Alltag bewähren? Dürfen wir uns von der Welt wegwenden, wenn sich doch Gott so entschlossen der Welt zugewandt hat? Letztlich geht es um die Frage, ob wir Gott in Grenzerfahrungen suchen oder im Alltag. Und da Gott selbst das Irdische so wenig scheute, erscheinen Fluchtversuche eher überflüssig. Denn wer flieht, lässt ja immer etwas zurück. Und was er zurücklässt, gibt er damit auf. Wer aus seiner Familie flieht, gibt die Menschen auf, die dazugehören. Wer aus seinem Beruf flieht, lässt die Aufgabe liegen, die ihm anvertraut war. Wer aus der Haut fahren will, verliert dabei das ihm anerschaffene Gesicht. Gott aber in der Gestalt Jesu ging aus gar nichts heraus, als nur aus seiner Herrlichkeit, und ging hinein in das gewöhnliche Leben einer Handwerkerfamilie in Nazareth. Gott überließ das Fragwürdige und Schwache nicht sich selbst und wandte sich nicht angeekelt von den Menschen ab. Sondern er, der eigentlich unangreifbar über den Dingen hätte schweben können, machte sich die menschliche Natur zu Eigen. Gott flieht nicht vor unseren Problemen, sondern stürzt sich hinein. Er lädt sich unsere Last auf seine Schultern. Er erscheint mitten in seiner Schöpfung in der Gestalt eines Geschöpfes. Und das ist gerade nicht Ausstieg, Flucht und Defensive, sondern es ist der Einstieg und die Offensive, mit der Gott seinen Anspruch auf diese Erde unterstreicht. Wenn Gott aber nicht aussteigt, sondern einsteigt in diese Welt, dann sind wohl auch wir aufgefordert, der Erde treu zu bleiben. So sollten wir nicht meinen, wir hätten mit Simeon, diesem heilige Spinner, nichts zu tun. Nein. Ich vermute, dass jeder von uns gern so eine Säule hätte, um sich zeitweise dem Leben zu entziehen. Der Wunsch, auf Abstand zu gehen, ist nur zu verständlich, weil die Welt ja tatsächlich im Argen liegt! Christus ist der Letzte, der das bestreiten würde! Aber sein Auftrag an uns ist doch nicht, das Gute und Wahre irgendwo „jenseits“ in Sonderwelten zu suchen, sondern es im „Diesseits“ zu realisieren. Dort nämlich, wo Gott uns hingestellt hat. Hier ist Gottes Land, hier ist sein Anspruch auch zur Geltung zu bringen – nicht über den Wolken! Und weglaufen gilt darum nicht. Gott hat jeden von uns an seinem Platz verortet und hat damit jeden auf einen konkreten Posten gestellt. Just zu dieser Zeit, in diesem Land, in dieser Familie und mit diesem Gesicht. Weglaufen gilt darum nicht, und hierbleiben ist zumutbar. Denn als unsre Not am größten war, ist auch Gottes Sohn nicht weggelaufen, sondern ist herzugelaufen, um einer von uns zu sein. Wie dürften wir da vor uns selbst fliehen – und vor der Aufgabe, im Alltag Christ zu sein? Ich weiß, wie schlecht uns das gelingt. Jeder für sich (und wir alle zusammen) sind ungenügend. Im großen Geschwätz dieser Welt können wir uns kaum noch auf Gott konzentrieren. Ständig verstricken wir uns in Händel, die ihm nicht gefallen. Und doch will Gott inmitten des Fragwürdigen wohnen. Er sucht nicht Vollkommenheit, denn vollkommen ist er selber. Aber er sucht Sünder, die gerne Gerechte wären. Und da sollten wir nicht zu schüchtern sein, um die Hand zu heben und „hier“ zu rufen. Denn kein Leben ist wertlos, wenn es Christus mit einschließt. Wir müssen auf keine Säule hinauf, denn der Höchste kam zu uns herab. Er sucht nicht weltflüchtige Heilige, sondern gut geerdete Menschen. Darum machen wir‘s nicht unnötig kompliziert, sondern öffnen wir Christus die Tür. Denn dann wird er am Fuße der Säule nicht weniger zuhause sein als obendrauf.