Selbstwertgefühl
A Goat with her Kid, Giovanni Segantini (1858-1899), Public domain via Artvee
Zu den wichtigsten Bedürfnissen des Menschen gehört es, von anderen geschätzt zu werden und sich seines Wertes gewiss zu sein. Denn jeder will was gelten und wenigstens irgendwem etwas bedeuten. Aber – warum ist das so? Selbstwertgefühl ist doch erst mal nur ein Gefühl ohne praktischen Nutzen! Man meint eben gern, dass man etwas darstellt, dass man wertvoll ist und schwer zu ersetzen. Es schmeichelt uns, wenn andere uns für bedeutend halten oder gar für einzigartig. Solche Wertschätzung tut uns gut. Aber warum eigentlich? Vielleicht einfach, weil wir eitel sind? Vielleicht weil wir meinen, dass uns die anderen, wenn sie uns „bedeutend“ finden, besser behandeln? Oder weil wir heimliche so große Angst haben, austauschbar und entbehrlich zu sein? Was nichts wert ist, kann weg! Was nichts darstellt, wird leicht übersehen! Ist es vielleicht darum beruhigend, wenn andere uns wichtig nehmen? Jedenfalls tun Menschen ganz viel, um sich und andere von ihrem Wert zu überzeugen. Sie möchten was „gelten“ und „herausragen“. Und das gelingt am einfachsten im Vergleich mit anderen, die weniger sind und weniger können als man selbst. Man muss ihnen nur überlegen sein durch Geschicklichkeit, Schnelligkeit, Eloquenz und Witz, Charme, Bildung oder gutes Aussehen – und schon stellt sich das gute Gefühl ein, man sei der Konkurrenz voraus. Wir präsentieren unsere Vorzüge und hoffen auf entsprechende Behandlung. Wir machen uns unentbehrlich, um unseren Platz zu sichern. Und sollten wir an uns selbst zweifeln, wird die Anerkennung der anderen umso wichtiger. Denn wenn die mich brauchen, muss mein Dasein doch wohl von Bedeutung sein! Die Aufmerksamkeit der anderen beweist, dass ich wer bin! Und diese Aufmerksamkeit erringe ich durch Leistung. Denn warum sollte ich den anderen etwas wert sein, wenn ich ihnen nichts nütze? An den Schwachen, Alten und Kranken sieht man doch, wie schnell einer aussortiert und vergessen wird! So machen wir uns wichtig und präsentieren unsere Vorzüge. Denn nicht beachtet zu werden, ist ein bedrohlicher Zustand. Wir fürchten, dass wir nur Zuwendung erfahren, solange wir anderen etwas bieten können. Und damit wächst die heimliche Angst. Denn wie könnte ich mich „gut“ fühlen, wenn die anderen mich nicht „gut“ fänden? Wie soll ich mich selbst schätzen, wenn’s sonst keiner tut? Darum wollen sich heute so viele selbst „optimieren“, wollen täglich „besser“ werden und sich beweisen. Sie sind überzeugt, dass sie nur soviel Anerkennung finden, wie sie sich durch Leistung verschaffen. Aber stimmt das? Oder könnte es sein, dass wir schon wichtig sind, bevor wir uns wichtig machen? Ich will von dem Maler Wilhelm Tischbein erzählen, denn ihm widerfuhr diesbezüglich in frühester Kindheit etwas Interessantes. Er schreibt:
„Meiner Existenz ward ich zuerst inne, als ich auf die Nase gefallen war. Meine Mutter hatte mich, da ich noch nicht gehen konnte, einem Burschen zur Wartung übergeben. Der stellte mich vor unserer Tür an eine Ziege, die Apfelschalen fraß. Solange das Tier still stand, konnte ich mich daran halten; aber während ich mich über dasselbe freute, sprach er mit jemand anderm und ließ mich allein. Als nun die Apfelschalen verzehrt waren, ging die Ziege fort; und da ich noch nicht alleine stehen konnte, fiel ich auf die Nase. Über mein Jammergeschrei kam meine Mutter herzugelaufen und schalt den Jungen, dass er mich so habe fallen lassen. Da erfuhr ich, dass ich etwas wert sei, indem so viele um mich bemüht waren und mir das Blut abtrockneten, mich beklagten und jenen Menschen schalten.“
Nun ist das ein ziemlich trivialer Vorfall. Aber Tischbein sagt, erst dadurch sei ihm sein eigenes Dasein so recht bewusst geworden. Er fiel auf die Nase, tat sich weh – und das anschließende Herbeilaufen und Schimpfen der Mutter machte ihm klar, dass er wohl etwas sei, dass möglichst nicht in den Dreck fallen soll. Die Mutter meinte, ihr Kind solle keinen Schaden nehmen. Sie schätze ihren Sohn mehr, als der erwartet hatte – er hatte wohl gar nichts erwartet! Aber so erfuhr er, dass er etwas wert sei. Nicht aus sich selbst gewann er diese Einsicht, nicht „angeboren“ oder „erworben“ war sein Selbstwertgefühl, sondern er entnahm es der Betroffenheit der Mutter. An ihrer Fürsorge konnte er ablesen, dass er zumindest ihr etwas galt. Und diese Wertschätzung war nicht auf Leistungen gegründet, die der Knirps gar nicht vorzuweisen hatte. Sondern sie war schon da, als er noch gar nicht wusste, wie und warum sich Menschen um Wertschätzung bemühen. Seine blutige Nase löst Sorge aus. Und der sie verschuldet hat, wird vom mütterlichen Zorn getroffen. „Da muss ich wohl etwas sein“, denkt das Kind. Und so sollte es auch denken – sowohl als Kind, als auch später. Denn ein seelisch gesunder Mensch meint nicht, er müsse erst durch Selbstoptimierung etwas aus sich machen. Er ist schon etwas von Geburt an. Denn obwohl Gott im Voraus wusste, dass er ein Sünder sein würde, hat er ihn trotzdem geschaffen. Und somit ist jeder Mensch eine Idee, die Gott nicht verwarf. Derselbe Gott, der sich für ihn entschied, hat auch keine Mühe gescheut, schon vor seiner Geburt alles zu tun, was zu seiner Erlösung nötig war. Der Mensch war noch gar nicht auf der Welt, da hat Christus schon den Preis bezahlt, um seine Seele freizukaufen. Und diese Wertschätzung ist erstaunlich, denn nichts ist denkbar, worin wir Gott nützen könnten. Er braucht uns nicht. Und „liebenswert“ sind wir schon gar nicht. Trotzdem ist aber Gottes Liebe da, bevor wir da sind. Und sie misst uns einen Wert bei. Denn so wie jene Mutter ihren kleinen Jungen aus dem Dreck aufhebt und ihm das Blut abwischt, so macht es Gott mit jedem Christen. Er ist sich dafür nicht zu schade. Er setzt uns davon auch in Kenntnis. Er gibt es uns im Evangelium schriftlich. Und darum muss ich sagen: Wenn wir anschließend unser Selbstwertgefühl immer noch auf Leistungen stützen, dann steht das in direktem Widerspruch zum christlichen Glauben. Ja, der Optimierungswahn ist ein sicheres Zeichen für die erbärmliche und ganz unchristliche Angst, man gälte nur so viel, wie man sich Geltung verschafft. Und wenn wir auch durchaus etwas leisten dürfen, dann doch bitte nicht mit dieser Absicht und nicht aus diesem falschen Ehrgeiz. Denn dem Evangelium zufolge sind wir Gott ganz viel wert, was wir nicht verdienen. Und wenn wir uns Zuwendung trotzdem noch erarbeiten wollen, zeigt das nur, dass wir dem Evangelium nicht glauben. Das ist die Signatur einer ungläubigen Welt, dass die Menschen Angst haben nichts zu bedeuten, und einander übertreffen wollen, um sich Bedeutung zu verschaffen. Das ist der Ungeist einer glaubenslosen Welt, dass so viele sich selbst ausbeuten, sich korrumpieren und prostituieren, um ihren Wert zu beweisen. Denn glaubten sie Gott, dass sie ihm wichtig sind, könnten sie sich die Mühe sparen. Glaubten sie ihm, müssten sie nicht ständig Aufmerksamkeit und Bestätigung suchen. Das beruht allein auf der Vorstellung, ein Mensch wäre nicht mehr, als was er aus sich macht. Das ist eine Heidenangst, die wirklich nur zu Heiden passt. Und die Folge ist, dass sie ihr Leben komplett missverstehen und sich damit plagen, als wär‘s eine einzige „Casting-Show“. Ständig müssen sie beweisen, dass sie toll sind, wackeln über irgendeinen Laufsteg und warten, ob die Jury den Daumen hebt oder senkt. Nicht etwa Gottes Meinung, nein – die Meinung der anderen Narren ist der Gerichtshof, vor dem sie bestehen wollen, um ihres Wertes gewiss zu sein. Täglich möchten sie sich neu erfinden. Und immer müssen sie jemand in den Schatten stellen, um bloß nie selbst im Schatten zu stehen. Sie brauchen den Applaus, weil sie fürchten, ein „nichts“ zu sein, wenn er ausbleibt. Aber finden sie so etwa Frieden? Besser lässt man sich auf dieses kranke Denken gar nicht erst ein. Denn ein Christ muss nichts „aus sich machen“ – er ist schon etwas. Er ist Gottes Kind. Und das Heil war ihm schon zugedacht, bevor er das Licht der Welt erblickte. Einen höheren Adel, als getauft zu sein, gibt es auf dieser Erde nicht. Und die großartige Bestimmung, Gottes Ebenbild zu sein, ist unverlierbar. Ein Christ ist nicht auf der Welt, weil er für dies oder das nützlich wäre, sondern weil ihn Gott hier haben wollte. Und wer dafür eine nähere Begründung verlangt, muss sie bei Gott selbst erfragen – wenn er sich das traut. Der Christ jedenfalls legitimiert sein Dasein nicht durch Schön-Sein und Toll-Sein. Sondern (wie der kleine Tischbein) lebt er von einer Liebe, die schon da ist, bevor er sie bemerken oder nach ihr fragen kann. Wir alle fielen in den Dreck – das war der Sündenfall. Und Gott eilte herbei, um uns aufzuheben und uns das Blut abzuwischen – das war Jesu Lebenswerk. Wir sind mehr für Gott, als wir ahnen oder verstehen können. Eine andere Rechtfertigung unserer Existenz brauchen wir nicht. Gottes Gnade ist keineswegs das Ergebnis, sondern die Voraussetzung unseres Lebens. Und ehrlich gesagt: Die das nicht wissen, tun mir von Herzen leid. Denn vergeblich wollen sie beweisen, was zu beweisen gar nicht ihre Aufgabe ist. Sie wären der Mühe sofort enthoben, wenn sie nur Gottes Zusagen trauten. Doch statt ganz entspannt zu leben, stöhnen sie unter Lasten, die sie sich selbst auferlegen. Vielleicht sollte es ihnen mal jemand sagen?