Spott und Hohn

Spott und Hohn

Elisha Mocked by Boys, Roeloff van Zijl, Public domain via Artvee

Es heißt immer, Kinder seien „unschuldig“ und „niedlich“. Doch der Maler dieses Bildes wusste es besser. Er zeigt uns eine Horde von mindestens sieben Jungen, die sich über einen Erwachsenen lustig machen, der – ohne sie zu beachten – nach links aus dem Bild geht. Sie strecken ihm die Zunge heraus und zeigen mit dem Finger auf ihn, sie lachen ihn aus und rufen ihm Beleidigungen hinterher. Die Dummheit steht den Kindern ins Gesicht geschrieben. Und was sie tun, wagen sie auch nur in der Gruppe. Denn da fühlen sie sich stark. Vor ihren teils nackten Füßen liegen Steine – und man fürchtet, sie würden sie gleich aufheben und dem Mann hinterherwerfen. Auch ein Hund ist dabei. Und es scheint, als wollte einer den Hund auf den Mann hetzen. Doch niemand weist diese Jungen zurecht. Nur im entfernten Hintergrund sehen wir jemand über eine kleine Brücke gehen, der die Sache beobachtet. Doch auch der scheint zu beschäftigt und greift nicht ein. Der Unbekannte im roten Mantel aber – was kann der schon tun gegen das Gejohle dieser Rotznasen? Er ist offenbar gewillt, es zu ignorieren. Das soll ja in solchen Fällen das Klügste sein. Und doch ärgert es mich als Betrachter. Denn was ist das für eine Welt, in der die Dummen das Maul aufreißen, und die Klugen dazu schweigen müssen? Die primitive Lust einen Menschen zu beschämen kann sich durchsetzen, sobald die Mehrheit Freude dran hat. Und das Opfer, dem, wenn schon nicht „Ehre“, so doch ein Mindestmaß an Respekt gebührt, kann nicht mit gleicher Münze heimzahlen, ohne auf das Niveau der Spötter zu sinken. Vielleicht hat der Mann alles Recht und alle Wahrheit auf seiner Seite! Aber die ihn schmähen machen das größere Geschrei. Und „richtigstellen“ kann er hier gar nichts, weil Argumente gegen lautstarke Bosheit nichts ausrichten. Die Schreihälse würden ihm nicht zuhören. Der Mann kann sich der Situation nur entziehen. Und so erfahren die kleinen Kröten einmal mehr, dass sie Macht haben, wenn sie zusammenhalten. Nur – warum malt jemand etwas so Deprimierendes wie schlecht erzogene, boshafte Kinder? Wir verstehen das Bild erst besser, wenn wir begreifen, dass es sich um eine biblische Szene handelt. Denn der Mann im roten Mantel ist der Prophet Elisa. Die Stadt im Hintergrund ist Bethel. Und die Kinder waren noch um einiges zahlreicher. Der Anlass aber, dass sie Elisa verspotten, ist einfach, dass er eine Glatze hat. Denn im 2. Buch der Könige steht, als Elisa den Weg nach Bethel ging, „kamen kleine Knaben zur Stadt heraus und verspotteten ihn und sprachen zu ihm: Kahlkopf, komm herauf! Kahlkopf, komm herauf!“ (2. Kön 2,23). Kein Wunder, dass sie sich überlegen fühlen, denn – wie der Maler es zeigt – verfügt jeder von ihnen über blonde oder dunkle Locken. Sie tragen Stirnbänder, Hüte und Mützen. Aber einen kräftigen Haarwuchs haben sie alle. Und wenn das auch wahrlich nicht ihr Verdienst ist, nehmen sie‘s doch zum Anlass, den fremden Mann zu verspotten und zu demütigen. Sie sind jung und gesund. Und das genügt ihnen, um sich dem Alten überlegen zu fühlen, von dem sie weiter nichts wissen. Allerdings – im nächsten Moment wird sich das Blatt wenden. Denn der Prophet ist genervt und reagiert ein wenig humorlos. Während die Kinder noch auf seine Kosten lachen, dreht er sich um. Er verflucht sie im Namen Gottes. Und bevor sie recht verstehen, was geschieht, kommen zwei Bären aus dem Wald und zerreißen 42 dieser Kinder (2. Kön 2,24). „Hm…“ sagt sich der Leser, „…das ist schon heftig“. Plötzlich sind in der Grundschule von Bethel ganz viele Plätze frei. Und gern würde man mehr erfahren. Doch die Bibel hält es nicht für nötig, mehr zu berichten, als wir gehört haben. Der Kahlkopf Elisa übt sich heute nicht in Geduld. Er hat keine Lust, sich wegen eines körperlichen Makels beschämen zu lassen, für den er nichts kann. Er bringt für die Kinder ebensowenig Mitgefühl auf, wie sie für ihn. Er demonstriert ihnen kurzerhand, dass ein Gottesmann nicht nur segnen, sondern auch fluchen kann. Und Gott ist offenbar einverstanden, dem dummen Spott auf diese drastische Weise Einhalt zu gebieten. Wer aber meint, Gott dürfe so etwas nicht tun, hat nicht verstanden, wer Gott ist. Immerhin – unser Maler hielt es für klug, die Szene darzustellen, bevor es blutig wird. Im Moment haben sie noch ihren Spaß, die „lieben Kleinen“. Aber der informierte Betrachter weiß, was kommt, und schaut schon mal, aus welchem Gebüsch die Bären wohl hervorbrechen. Unübersehbar will das Bild eine Warnung sein. Doch „Warnung“ – in welchem Sinne? Etwa so, dass wir, bevor wir Hohn und Spott über jemandem ausgießen, uns vergewissern sollten, ob er nicht etwa gute Beziehungen zum Himmel unterhält? Nein. Wohl eher in dem Sinne, dass wir vom Lästern und Beleidigen grundsätzlich Abstand nehmen sollten. Und der Hinweis ist nicht überflüssig. Denn wenn wir ehrlich sind, haben nicht bloß Kinder Spaß daran, jemand lächerlich zu machen, herabzuwürdigen und bloßzustellen, sondern auch Erwachsene trösten sich gern mit Schadenfreude über eigene Fehlleistungen hinweg. Auch wenn wir der Grundschule entwachsen sind, hören wir damit keineswegs auf, sondern verkneifen uns nur das hämische Grinsen. Wir verfeinern unsre Methode und behaupten, der Hinweis auf fremde Mängel sei als konstruktive Kritik gemeint – oder wir scherzten nur. Es sind halt Neckereien – man muss doch Spaß verstehen! Es bleibt aber dabei, dass wir Freude an den Schwächen anderer Leute haben und gern den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf ihre Defizite lenken. Denn solange die Meute über ein fremdes Versagen lacht, lacht sie ja nicht über meins. Je mehr Peinliches an anderen zu Tage tritt, umso besser stehe ich da. Und irgendwie sind die ja auch selbst schuld, wenn sie sich eine Blöße geben. Soll der Elisa doch einen Hut aufsetzen oder eine Perücke tragen! Ja, überhaupt – warum kann der als Erwachsener denn die Wahrheit nicht vertragen? Haben die Kinder etwa gelogen, als sie ihn „Kahlkopf“ nannten? Wenn ihm die Wahrheit aber peinlich ist, was können die lieben Kleinen für ihren Mangel an Empathie? Man wird‘s doch wohl noch sagen dürfen, wenn einer keine Haare hat! So rühmen sich alle Spötter, sie redeten ja nur frei heraus. Doch was nützt der Anschein von Wahrhaftigkeit, wenn das Ziel doch nicht in der Aufklärung liegt, sondern in der Demütigung eines Menschen? Gewiss ist die Wahrheit ein hohes Gut! Aber wie bei einem scharfen Messer hängt viel davon ab, mit welcher Absicht und wozu man das Werkzeug gebraucht. Und wer Wahrheit nur als Waffe verwendet, um andere zu verletzen und bloßzustellen, der macht aus der guten Gabe der Erkenntnis ein Mittel des Verderbens. Er zerrt ans Licht, was den Mitmenschen erröten lässt. Er will ihn blamieren. Und dieser böse Wille ist offenkundig, wenn man dem anderen sagt, dass er hässlich sei, abstoßend, dumm, dick, lächerlich, wertlos, peinlich oder missgebildet. Sollte wirklich etwas dran sein, hat er’s bestimmt schon selbst gemerkt. Und so hat es mit Wahrhaftigkeit nichts zu tun, wenn ich ihn klein mache, um mich groß zu fühlen. Vielmehr nehme ich in Kauf, dass alle, die mich spotten hören, künftig schlecht von ihm denken. Und das ist das Gegenteil von dem, was wir unsren Mitmenschen schuldig sind. Denn als Christen sollten wir die Ehre und den guten Ruf des Anderen nach Kräften schützen gegen alle Verleumdung und üble Nachrede. Wenn uns zugetragen wird, was er angeblich getan hat, sollen wir‘s zum Besten wenden, indem wir ihm erst mal immer gute Absichten unterstellen und uns bis zum Beweis des Gegenteils weigern, etwas Übles von ihm zu denken. Wir selbst empören uns schließlich, wenn wir verdächtigt oder verleumdet werden. Und dementsprechend sollen wir auch keine Gerüchte zum Nachteil unsres Nachbarn weitertragen und herumposaunen. Denn was würde davon besser? Die Spötter haben kurzfristig ihren Spaß. Sie vergiften aber ihr Herz. Der Betroffene wird nur verbittert. Und die Gemeinschaft geht in die Brüche. Wenn einer aber ruft: „Es stimmt doch trotzdem! Der Elisa hat ‘ne Glatze! Lisa ist untreu, Stefan säuft, Willi lügt – und Harry ist nicht auf ehrliche Weise reich geworden!“ Dann sollten wir für solche Botschaften keine dankbaren Abnehmer sein, sondern sollten zurückfragen: „Wer hat dich eigentlich zum Richter erhoben über deinen Bruder? Hast du entdeckt, dass die anderen Sünder sind – und sagst dasselbe nicht auch von dir?“ Das ist der erste Grund, der uns Zurückhaltung auferlegt. Als Sünder unter Sündern sind wir nicht in der Position, hämisch mit dem Finger auf jemand zu zeigen. Der tiefere Grund der Zurückhaltung muss aber sein, dass jeder Mensch von Gott geschaffen wurde, um Gottes Ebenbild zu sein – und ich somit, wenn ich über meinen Bruder herziehe, immer auch den treffe, der ihn geschaffen hat. Oder könnte ich mich über die Bilder eines Malers lustig machen und dann sagen, ich wollte den Maler nicht kränken, es beträfe ja nur seine Bilder? Kann ich die Musik eines Musiker verhöhnen und sagen, das ginge nicht gegen den Musiker persönlich, sondern nur gegen seine grässlichen Lieder? Kann ich Kinder runtermachen und dann behaupten, ich hätte die Gefühle der Eltern durchaus nicht verletzen wollen? Wenn das aber nicht geht – kann ich dann über ein Geschöpf spotten, ohne den zu beleidigen, der es geschaffen hat? Ja, noch mehr: Wenn derselbe Gott, der unsre Defizite nur zu gut kennt, dennoch seinen Sohn dahingegeben hat, um unsere Rettung möglich zu machen – kann ich dann über Menschen spotten, die Gott dieses größten Opfers für würdig hält? Kann ich die verächtlich machen, die er so hoch geachtet hat? Kann ich die niedertreten, die er aus dem Staub erheben will? Kann ich sie verwerfen, während Gott sie zum Heil erwählt? Wie denn? Ich beschäme Leute, die Gott zu Ehren bringen möchte? Ich verlache die, deren Schuld Christus bedecken will? Er weint um sie – und ich bewerfe sie mit Dreck? Das kann ich nicht tun, ohne mit Gott in Konflikt zu geraten. Denn er weiß viel besser als ich, was an meinen Mitmenschen krumm und schief ist, lächerlich, schändlich und gemein. Und doch hat er entschieden, all diesen Menschen – so gut wie mir – das Leben zu schenken. Er verwirft sie nicht, wie ich sie spottend verwerfe, sondern will sie schützen und bewahren. Was ich verdamme (der ich doch selber verdammlich bin), verdammt Gott nicht, sondern lässt es sich sein Bestes kosten! Und obwohl ich das weiß, kann ich dennoch mein Lästermaul nicht halten, sondern zeige mit dem Finger auf die Fehler meines Bruders, zerre seine Schande ans Licht und mache ihn zum Gespött? Kann ich anschließend wohl sagen: „Hey Gott, das geht ja nicht gegen dich, sondern nur gegen den Abschaum, den du geschaffen hast? Nein, nein, Gott, ich lache nicht auf deine Kosten, sondern nur wegen dem Versager, den du gemacht hast? Ich verhöhne nicht dich, Herr, sondern nur dein missratenes Kind?“ Ich fürchte, Gott wird das nicht gelten lassen. Sondern er wird sich erinnert fühlen an den Spott, den sein Sohn erdulden musste, als ihn die Soldaten anspuckten, schlugen und verhöhnten (Mt 27,27-30). Und dementsprechend wird Gott reagieren. Denn er findet es überhaupt nicht lustig, wenn man seine Leute bloßstellt und beschämt. Noahs Sohn Ham fand seinen betrunkenen Vater nackt in peinlicher Lage, belustigte sich darüber und zog sich damit den Fluch des Vaters zu (1. Mose 9,18-29). Der Pharao spottet über Israel und über den fremden Gott der Hebräer, den er nicht kannte. Es sollte ihm aber nicht gut bekommen (2. Mose 5,2). Goliath verspottete Israels Heer ebenso wie Israels Glauben und bezahlte dafür mit seinem Leben (1. Sam 17). Belsazar hielt es für eine lustige Idee, die heiligen Geräte aus dem Jerusalemer Tempel bei einer Party zu benutzen, starb aber noch in derselben Nacht (Dan 5). Und von den kleinen Quälgeistern des Elisa haben wir gerade gehört. Darum sagt es der erste Psalm ganz allgemein: Wohl dem, der nicht sitzt, wo die Spötter sitzen (Ps 1,1). Gott wird der Spötter spotten, aber den Demütigen wird er Gnade geben (Spr 3,34). Und nur dort geht in der Bibel Spott in Ordnung, wo er Götzen und fremden Göttern gilt. Denn die entlarvt der Spott als nichtig (Jes 44,13-20; 1. Kön 18,27). Im Übrigen gilt das Auftreten der Spötter aber als ein Zeichen des Verfalls am Ende der Zeit (2. Petr 3,3-4; Jud 17-19). Und es gehört zu den großen endzeitlichen Verheißungen der Bibel, dass die, die auf Gott sehen, nicht ewig Schande tragen müssen, sondern dass sie zuletzt, statt schamrot zu werden, vor Freude strahlen dürfen (Ps 34,5-6; Jes 45,16-17). Denken wir also bitte an das, was Paulus über die Körperteile sagt. Obwohl sie alle verschieden sind, schauen die Augen nicht verächtlich auf die Füße, und die Hände verspotten nicht den Magen. Sondern alle Glieder achten aufeinander, alle leiden mit, wenn ein Glied leidet, und gerade jene, „die uns am wenigsten ehrbar zu sein scheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und bei den unanständigen achten wir besonders auf Anstand; denn die anständigen brauchen‘s nicht“ (1. Kor 12,23-24). Was meint Paulus? Na, er erinnert uns daran, dass wir wohl ohne Mantel aus dem Haus gehen, aber vermutlich nicht ohne Hose! Unsre Ellenbogen darf jeder sehen, aber keineswegs den ganzen Rest! An unserer Nasenspitze ist nichts Unanständiges, darum müssen wir sie nicht verstecken. Aber bei den Teilen unter der Gürtellinie genieren wir uns doch und verhüllen sie, um keinen Anstoß zu erregen. Dasselbe sollen wir Menschen aber auch füreinander tun, indem wir gerade die mit Ehre umkleiden, die von Spott bedroht sind, und ihre Blößen sorgsam bedecken, damit keiner über sie lacht. Die Tüchtigen haben das nicht nötig. Die gelten ja als „vorzeigbar“! Aber es gibt eben auch die Unansehnlichen und Gebrechlichen. Und die bedürfen unsrer Fürsorge. Keiner soll sie verlachen, denn auch sie hat Gott gemacht. Und wenn Christus sich nicht zu schade war, unsere Blößen zu bedecken – können wir dann nicht für andere dasselbe tun und uns schützend vor jene stellen, die verhöhnt und gedemütigt werden? Unser Gott, der sich gerade für die Mühseligen und Beladenen zuständig fühlt, will nicht, dass sie schamrot werden müssen. Darum – passen wir gut auf, dass wir keine Lästerzungen sind, sondern uns zu der anderen Fraktion halten, die Selbstachtung nicht raubt, sondern schützt, und über Blamables auch mal zu schweigen versteht.