Suchbewegungen

Suchbewegungen

In monastic silence, Kazimierz Stabrowski, Public domain, via Artvee

Viele Menschen zweifeln an vielem. Aber die wenigsten zweifeln daran, dass sie da sind. Und „da sein“ heißt, in einer Welt zu leben, zu der man sich verhalten muss. Vielleicht ist mir nicht klar, wer ich bin – und was ich von der Welt zu halten habe. Aber der eigene Körper, den ich von innen fühle und den ich (etwa beim Anschauen meiner Hand) auch von außen sehe, ist doch eine Gegebenheit in der Welt. Er steht dort in Beziehung zu anderen Gegenständen, die ich nicht ebenso von innen und von außen, sondern nur von außen erlebe. Und es ist mir unmöglich, mich nicht zu meiner Situation zu verhalten, weil auch jegliches Nicht-Verhalten ein Verhalten, und selbst Schweigen noch ein Statement wäre. Muss ich mich aber verhalten – wie soll ich mich dann verhalten, wenn ich doch nicht weiß, wer ich bin? Manche Gefühle sind mir lieber als andere, weil ich z.B. lieber satt bin als hungrig. Aber nicht alles, was sich zunächst gut anfühlt, tut mir langfristig gut. Wenn ich einfach spontanen Impulsen folge, bereue ich das bald. Und so bin ich durchaus gewillt, meinen Vorteil zu suchen. Doch wie kann ich wissen, was mein Vorteil ist, wenn ich weder mich noch die Welt verstehe? Warum ist sie da? Warum bin ich in ihr drin? Oder genauer gesagt: wozu? Mein Verhalten hat Folgen für mich und andere – so viel ist sicher. Und der Gebrauch von Mitteln befähigt mich, Ziele anzustreben. Aber welche Ziele sind wert, dass ich sie erstrebe? Welches Bemühen macht Sinn? Und worauf bin ich aus? Der Tod der anderen führt mir vor Augen, dass auch ich nicht unendlich Zeit habe. Aber Zeit wofür? Was muss geschehen, damit mein Leben am Ende als „gelungen“ gelten kann? Und wer ist kompetent, das zu beurteilen? Ich jedenfalls verstehe nicht genug vom Leben, um mir diesbezüglich ein Zeugnis auszustellen. Ich will zwar nicht scheitern, weil ich mich doch irgendwie liebe. Aber welches Verhalten fordert diese Liebe? J. G. Hamann sagt: „Solange es dem Menschen nicht möglich ist, sich selbst zu kennen, so lange bleibt es eine Unmöglichkeit für ihn, sich selbst zu lieben“. Das leuchtet ein: Damit sich einer Gutes tun kann, muss er zuvor wissen, was für ihn gut ist. Um sich ans Ziel zu befördern, wie es ihm die Selbstliebe gebietet, muss er ein Ziel kennen, das der Mühe wert ist. Er muss das eigene Wesen ergründet haben, um zu wissen, worauf es sich lohnt, aus zu sein. Anschließend kann er seinem Ziel dann die Zeiten und Kräfte widmen, die er nur einmal zu investieren vermag. Wozu sonst wären diese Zeiten und Kräfte auch gut? Er braucht einen Gegenstand oder ein Ideal, dem er sie hingeben kann – und das wird sein Leben prägen. Doch wie soll er unter den vielen möglichen Gegenständen und Idealen das richtige wählen, wenn er nicht weiß, wozu er da ist? Wie spielt man ein Spiel, dessen Regeln man weder kennt noch selbst bestimmt? Der Mensch versteht seine Situation nicht, weil er diese Situation nicht schuf, sondern vorfand. Und noch weniger als über ihre Voraussetzungen weiß er, worauf sie hinausläuft. Um die Voraussetzungen zu ergründen, hätte er da sein müssen, bevor er da war. Es muss aber wohl einer dagewesen sein – ein Verursacher eben dieser Wirkung, dass ich nun da bin. Und es wäre wichtig zu erfahren, was der sich dabei dachte. Natürlich wäre es auch wichtig zu erfahren, wenn sich keiner etwas dabei dachte. Doch im anderen Fall (wenn mich einer schuf) – muss ich dann nicht annehmen, dass er mir weit überlegen ist? Schwerlich hat jemand meinen Geist geschaffen, ohne selbst Geist zu besitzen. Der das Ohr schuf, konnte sicherlich hören. Der das Auge schuf, war sicherlich sehend. Kein Künstler oder Konstrukteur kann sich mit ihm messen. Und wäre er mein Feind, wäre ich vermutlich nicht da. Man schafft ja nicht, was man nicht leiden kann! Ist er aber mein Freund und gönnt mir ein paar Lebensjahre – darf ich dann nicht annehmen, dass er Pläne mit mir hat, und dass diese Pläne bei der Ausstattung meiner Person mit Begabungen, Gliedern und Sinnen eine Rolle spielten? Sollte die Gestalt einer Uhr nicht etwas über die Absichten des Uhrmachers verraten? Dass ich mich nicht selbst gemacht habe, halte ich für sicher. Es hat mich auch keiner gefragt, ob ich sein wollte, was ich nun bin. Und Selbsterkenntnis will mir nicht gelingen ohne Kenntnis des Gegenübers, dem ich mich verdanke. Denn kein Möbel, Instrument oder Kunstwerk verleiht sich selbst seine Bestimmung. Die Idee zum Werk war immer schon gegeben, bevor das Werk entstand, weil dem Meister etwas „vorschwebte“. Gedanklich ist das Werk schon da, bevor man es realisiert, wie die Idee zum Buch dem gedruckten Buch vorausgeht. Man darf aber später die Vollkommenheit des Werkes daran messen, wie sehr es der Intention des Meisters entspricht. Und so wäre des Schöpfers Intention der Maßstab dafür, ob ich der bin, der ich sein soll. Weil aber alles Sollen ein Subjekt voraussetzt, das Intentionen hat (Dinge haben ja keine), und ich selbst nichts intendieren konnte, bevor ich da war, sind wir entweder zu zweit, so dass meine Selbsterkenntnis mit dem Verstehen meiner Gottesbeziehung zusammenfällt – oder ich bin ein Nebenprodukt nicht-intentionaler Prozesse. Dann bilden wir alle miteinander eine Gesellschaft von Nicht-Gewollten. Und daran gibt es dann nichts weiter zu verstehen als nur die Absurdität der Situation. Was nun aber der Fall ist – wie soll ich darüber entscheiden? Die Vernunft beweist mir weder dies noch das. Läge es in ihrer Macht, das zu tun, gäbe es entweder keine Gläubigen oder keine Atheisten mehr. Sicher ist aber, dass ich ohne Entscheidung in diesem Punkt mein „Selbst“ nicht bestimmen kann – das ich doch liebe und verstehen muss, um wirklich meinen Vorteil suchen zu können. Ich weiß nicht, wer ich bin, solange ich nicht weiß, ob ich von Gott bin. Aber kann ich wirklich annehmen, ich sei ein Buch ohne Autor, ein Satz ohne Subjekt, ein Werk ohne Bestimmung, ein Denkender, bei dessen Entstehung sich keiner etwas dachte? Das fällt mir schwer. Sollte sich der Schöpfer aber etwas gedacht haben – ist dann nicht zu erwarten, dass er sich auch mitteilt und seine Geschöpfe aufklärt, die sich doch offenbar über das Schauspiel, in dem sie mitwirken, nicht selbst aufklären können? Ist nicht zu erwarten, dass ein schaffender Geist den geschaffenen Geist wissen lässt, was er in der Welt soll? An Mitteln fehlt‘s ihm sicher nicht. Der die Zunge schuf, kann sicher auch sprechen. Sollte also nicht ein Wort Gottes in der Welt zu finden sein? Und sollte ich es nicht suchen, da doch immerhin die Chance besteht, dass ich durch Gottes Wort zu mir finde? Was etwas bedeutet, ergibt sich aus dem Zusammenhang, in dem es steht. Ist aber Gottes Geschichte mit der Welt der umfassendste Zusammenhang, der sich denken lässt, muss ich vielleicht diese Geschichte kennen, um zu ergründen, was ich darin bedeute. Und – gibt es nicht ein Buch, das beansprucht, eben diese Geschichte zu erzählen? Schon klar: vom Lesen allein weiß ich noch nicht, ob es wahr ist. Aber wenn ich es nicht lese, weiß ich nicht mal, was wahr sein könnte! Schon klar: wenn‘s mir lieber wäre, dass Gott existiert, spricht das nicht für sein Dasein. Es spricht aber auch nicht im Geringsten dagegen. Mein Wünschen oder Nicht-Wünschen ist in Wahrheitsfragen einfach irrelevant. Doch erfährt man beim Gehen, wohin ein Weg führt. Und wenn nichts hilft als Empirie, ist der Versuch erlaubt. Denn es ist doch zu seltsam, als das mein Verstand drüber wegkäme: Die Natur kann sich nicht selbst geschaffen haben, denn um sich selbst zu erschaffen, müsste sie schon da gewesen sein, bevor sie da war. Keine Wirkung kann ihre eigene Ursache sein. Und doch muss jede Wirkung eine Ursache haben. Wir finden in der Welt kein Ding, das von dieser Regel auszunehmen wäre. Und doch – gäbe es überhaupt nur verursachte Wirklichkeit, so könnte in der Kausalkette kein Glied das erste sein. Es wäre kein Glied denkbar, mit dem die Kette anfängt. Und eine Kette, die nicht anfängt, dürfte nicht da sein. Nun ist sie aber da. Meine Existenz beweist es. Und so ist es notwendig, dass es außer der verursachten Wirklichkeit, die wir kennen, auch eine unverursachte gibt, die nicht erst werden musste, weil sie schon immer war. Dies unverursachte Ewige nennen viele Menschen „Gott“. Und wenn er unser Herz und unsren Verstand so geformt hat, dass wir fast notwendig nach ihm suchen – erklärt sich das nicht am einfachsten daraus, dass er von uns gefunden werden will? Er als der Überlegene würde schwerlich etwas davon haben. Wir aber sehr viel. Und so könnte er, der selbst die Antwort ist, aus Liebe die Notwendigkeit des Fragens auch in meinem Herz verankert haben.