Swing low, sweet chariot

Swing low, sweet chariot
Elia wird auf einem feurigen Wagen in den Himmel entführt (2. Kön 2,1ff.)

Elias the Prophet, Nicholas Roerich, Public domain, via Wikimedia Commons

Wenn wir einen Menschen verlieren, ist das kein gutes Gefühl, sondern eine Erfahrung der Ohnmacht. Denn gewöhnlich haben wir viel Mühe und einen großen medizinischen Apparat aufgewandt, um die Trennung zu verhindern. Zuletzt hat aber nichts mehr geholfen. Der Abschied kam, den keiner wollte. Der geliebte Mensch wurde uns entzogen. Und natürlich ist der erster Reflex, dass wir ihn wiederhaben, zurückholen und festhalten wollen. „Dieser Mensch gehört doch zu mir“, denkt man, „ich brauche ihn doch, er soll nach Hause kommen!“ Aber – stimmt das? Sind wir in der Welt wirklich „zu Hause“? Oder sind wir vielleicht von Anfang an fremd in dieser Welt – wie Durchreisende, deren Ziel eigentlich woanders liegt? Wurden wir denn wirklich geboren, um hier zu bleiben? Erst mal kommt es uns so vor. Denn das Leben macht Spaß. Und wenn‘s gut geht, ist es in den eigenen vier Wänden gemütlich. Wir igeln uns ein und tun so, als könnten wir ewig leben. Wir arbeiten an unsrem privaten Glück und wollen nicht hören, es sei begrenzt. Doch – wie ist das? Sind wir tatsächlich Kinder dieser Welt? Oder sind wir in erster Linie Kinder Gottes? Und wenn wir als Christen sagen, dass wir Kinder Gottes sind, sind wir dann nicht eher bei ihm „zu Hause“ – und hier „in der Fremde“? Hat unser Weg nicht bei Gott begonnen, so dass wir sterbend eigentlich nur heimkommen? Oder ist uns etwa verborgen geblieben, dass mit dieser Welt etwas grundlegend nicht stimmt? Kann man übersehen, dass sie sich von ihrem Schöpfer sehr entfremdet hat? Bei Gott ist Liebe, Frieden und Gerechtigkeit – da atmen wir heimatliche Luft und kommen zur Ruhe! Die Welt aber ist voller Falschheit und Streit, voller Gewalt und Tod, Gestank und Gefahr. Wie könnte also unser besserer Teil, der den Frieden liebt, je in dieser Welt heimisch werden? Bei aller Schönheit ist sie doch voller Schmutz und Gier! Wie könnte sich also unser besserer Teil, der Wahrhaftigkeit und Güte sucht, mit dieser Welt arrangieren? Sie ist doch voller Hass und Härte! Wie könnten sich also die Sanftmütigen und Barmherzigen in ihr einrichten? Wer mit Gott in Einklang steht, wird hier nie wirklich Ruhe finden. Wer Gerechtigkeit sucht, wird sie in dieser Welt nicht erlangen. Und sagt er als rechtschaffener Mensch die Wahrheit, wird ihn die Welt dafür strafen. Bleibt er jederzeit ehrlich, ist er hier garantiert der Dumme. Denn für Sanfte und Geduldige ist diese Welt kein guter Ort – für Arme, Alte und Kranke sowieso nicht. Und da sollten wir die Verstorbenen zurückrufen und hier festhalten, als wären sie in der Welt gut aufgehoben? Sollten wir sie nicht im Gegenteil darum beneiden, dass sie den Heimweg bewältigt haben und dem Wahnsinn entkommen sind? Ach, im Reich Gottes ist keine Hektik, keine Lüge, keine Gefahr. Da ist weder Leid noch Geschrei noch Schmerz. Und da wird auch keiner mehr hintergangen, ausgenutzt, verlacht oder gedemütigt. Die Vollendung bei Gott bringt uns Leben in Fülle! Und darum ist es absurd, sich an dieser Erde festzuklammern. Denn die für den Himmel Bestimmten sollen hier gar keine Wurzeln schlagen. Nein – als Christen haben wir was Bessres vor! Und statt die Verstorbenen zurückzurufen, sollten wir uns freuen, dass wir ihnen zu gegebener Zeit folgen dürfen. Denn hier auf Erden finden wir mit unsren Lieben nicht mehr zusammen – dort im Himmel aber schon. Diese Welt mit jener vertauschend machen wir ein gutes Geschäft. Und die sich danach sehnen, sind weder lebensmüde noch undankbar. Sondern sie spüren einfach nur, dass diese Welt mit all ihrem Unrecht schwer auszuhalten ist. Genau wie wir selbst, ist sie unvollendet. Und genau wie wir selbst, kann sie nicht so bleiben. Diese Welt ist nicht nur oberflächlich krank, sondern in der Tiefe. Und wer bei klarem Verstand ist, wird darum über sie hinaus fragen. Momentan ist sie genauso verdreht, wie der gierige und grausame Mensch, der ihr seinen Stempel aufdrückt. Nur jener kann sie heilen, der Mensch und Welt einmal gut geschaffen hat. Und in seine Hände fallen wir, wenn wir sterbend unsre Augen schließen. Bei Gott wird’s dann besser sein. Und die es wissen, dürfen sich drauf freuen. Denn gerade die Besten von uns kommen mit den Gegebenheiten dieser Welt am schlechtesten zurecht. Solange sie leben, reiben sie sich wund an dieser verkehrten Welt, wie sich schon Christus an ihr wund gerieben hat. Und sie sind außerstande, sich der herrschenden Eitelkeit und Bosheit anzupassen. Gerade die Guten können mit diesem Strom nicht schwimmen. Und sie haben darum niemals richtig Oberwasser, sondern wirken immer wie schief ins Leben hineingebaut. Denn sie sehnen sich nach der Vollkommenheit, von der die anderen gar nichts wissen, und fühlen eine Leere, die sich mit Konsum und Zerstreuung nicht füllen lässt. Gottes Kinder sind hier nicht auf heimatlichem Boden. Sie suchen ein Glück, das man im Geschäft nicht kaufen kann. Die Welt bescheinigt ihnen auch ständig, sie seien fehl am Platz. Und so erleben sie dieses Paradox, dass sie in den eigenen vier Wänden sitzen – und dennoch Heimweh haben. Denn, bitte: wo ist man denn wirklich „zu Hause“? Bin ich da zu Hause, wo ich herkomme? Bin ich da zu Hause, wo man mich kennt? Bin ich da zu Hause, wo ich Ruhe finde? So würden wir das doch beschreiben! Wenden wir‘s aber auf den Ort an, wo neben der Klingel unser Name steht, dann ist das der falsche Ort. Denn wenn „zu Hause“ da ist, wo einer herkommt, dann sind wir alle bei unsrem Schöpfer zu Hause, von dem wir kommen. Sind wir „zu Hause“, wo man uns kennt, dann sind wir erst recht bei Gott zu Hause, weil uns niemand so gut kennt wie er. Und sind wir „zu Hause“, wo wir Ruhe finden, sind wir auch erst im Himmel zu Hause, wo die irdischen Nöte hinter uns liegen. Nennen wir den Ort „zu Hause“, wo wir nichts mehr fürchten müssen, dann passt diese Beschreibung am besten auf Gottes Reich. Und sind wir „zu Hause“, wo unsre Lieben auf uns warten, so finden jedenfalls die, die jemand begraben mussten, ihr wahres Zuhause bei Gott. Ist es da ein Wunder, dass schon so viele mit einem Anflug von Neid an Elia dachten? Von Elia berichtet die Bibel, er sei quicklebendig und auf direktem Wege in den Himmel gelangt (2. Kön 2,1ff.). Als seine Zeit gekommen war, und Gott den Prophet nach einem bewegten Leben nach Hause holen wollte, sandte er ihm vom Himmel einen Wagen mit feurigen Rossen herunter, den Elia bestieg, und der ihn dann triumphal in den Himmel hinauf entführte. Elia hat gerade noch Zeit, seinem Nachfolger einen Mantel dazulassen und einen Teil seines prophetischen Geistes. Dann wird er mit dem feurigen Wagen in den Himmel entrückt. Und ich glaube nicht, dass er sich noch viel umgedreht hat. Denn Elia wusste, wohin es ihn zog. Und als Gott ihm das Taxi vorbeischickte, ist er bestimmt gerne eingestiegen, um die Zeit mit der Ewigkeit zu vertauschen. Seither haben sich aber so viele Menschen dasselbe gewünscht, dass daraus ein Lied wurde, das heißt: „Swing low, sweet chariot…“. „Schwing dich herab, süßer Wagen!“ heißt es darin. „Du kommst, um mich nach Hause zu bringen. Ich habe über den Jordan geschaut – und was habe ich gesehen? Eine Gruppe von Engeln, die kommen, um mich nach Hause zu bringen.“ Also, ja: „Schwinge dich herab, süßer Wagen!“ „Swing low, sweet chariot!“ Amerikanische Sklaven haben dieses Lied gesungen. Und viele, die ein bequemeres Leben führen, meinen, das sei auch schon die Erklärung. Sie denken, nur Sklaven wären hinreichend unglücklich, um sich aus dieser Welt hinauszusehnen. Aber haben die wohl verstanden, was ein Bürgerrecht im Himmel wert ist? Ich meine, zum christlichen Glauben gehört es, dass der Mensch irgendwann seiner selbst überdrüssig wird und sich nach Gottes Nähe sehnt, um bei ihm (lieber heute als morgen) vollendet zu werden. Denn wir suchen einen bessren Frieden, als die Welt ihn bieten kann. Unser Leib wird mit den Jahren nicht schöner – und der Kopf nicht mehr klüger. Wenn also das himmlische Taxi vor unsrer Tür hält, sollten wir dann zögern hineinzuspringen? Ich gebe zu, dass bei uns kein feuriger Wagen erscheint. Anders als Elia kommen wir um den Tod nicht herum, sondern müssen hindurch. Das Ziel der Reise ist aber dasselbe – und niemand wird davon enttäuscht sein. Denn was anders ist die Sendung Jesu Christi in die Welt als ein einziges Heimholen der Gläubigen in den Himmel? Christus kam nicht in die Welt und sammelte seine Jünger, um sie anschließend in der Welt zurückzulassen. Sondern bevor er gen Himmel fuhr, versprach er, die Seinen nach sich zu ziehen (Joh 12,32). Keiner Christ bleibt also zurück, und keiner wird vergessen. Jesus Christus ist selbst das himmlische Sammeltaxi, das zur Erde kam, um die Kinder Gottes heimzubringen. Er wird all denen, die Gottes Nähe ersehnen, ihren Wunsch erfüllen. Und darum muss niemand in Sorge sein. Gottes Familie wird nicht dauerhaft in der Zerstreuung leben! Wir sind zwar jetzt noch hier – und unsre Verstorbenen sind schon dort. Vorübergehend sind wir getrennt. Doch am Ende wird keiner zurückgelassen, sondern alle werden wohlbehalten dort ankommen, wo sie durch ihren Glauben Heimatrecht haben. Christus selbst ist der himmlische Wagen, der sich herniederschwingt, um den Transport sicherzustellen. Und er wird keinen abweisen, der zu ihm kommt. Darum denke niemand, „Swing low, sweet chariot“ sei bloß ein Wunsch unglücklicher Sklaven. Denn wir alle sind hier in der Fremde. Und der Transport zu unsrer Rückholung ist längst unterwegs. Ständig werden Christen aus der diesseitigen Gemeinschaft in die jenseitige versetzt. Sie darum aber schrecklich zu beklagen, wäre nicht angebracht. Denn nach Jahrzehnten in der Fremde darf man sich freuen, wenn das Vaterhaus am Horizont erscheint. Und nur die werden nicht dabei sein, die ihr jetziges Leben zu sehr lieben – oder Gott zu sehr hassen. Wir aber, die wir Gott suchen, werden ihn nicht verfehlen, sondern dürfen gelassen darauf warten, dass uns der Vater den Wagen schickt, der uns nach Hause holt. Diese Welt voller Blut, Schweiß und Tränen muss einmal enden, um Platz zu machen für einen neuen Himmel und eine neue Erde. Und auch wir selbst müssen gründlich überarbeitet werden, um dort Bürger sein zu können. Doch ist diese Perspektive viel erfreulicher, als wenn wir in den jetzt gegebenen Umständen ewig steckenblieben. Und so sitzen wir als Christen auf gepackten Koffern. Auch die schönste Reise ist nicht mehr schön, wenn man nie nach Hause kommt. Jeder Film braucht ein Finale, das seine Geschichte zu Ende erzählt. Und so darf sich jeder die Bitte zu Eigen machen, in der so großer Trost liegt: „Swing low, sweet chariot!“