Versuchung
Adam and Eve./ Franz Von Stuck, Public domain, via Wikimedia Commons
Es gibt in der Kunstgeschichte zahllose Darstellungen von Adam und Eva. Warum bin ich also gerade bei dieser hängengeblieben, die Franz von Stuck um 1920 gemalt hat? An einer reichhaltigen Szenerie kann es kaum liegen. Denn vom Garten des Paradieses wird wenig gezeigt. Wir sehen nicht mal den Baum der Erkenntnis, von dem die Frucht stammt. Der Maler beschränkt sich auf das Allernötigste. Das aber ist in subtiler Weise angeordnet. Denn die süße Frucht, die Adam in Versuchung führt, steckt im Maul der Schlange. Von dort soll Adam sie nehmen. Und Evas Hand sieht aus als bildete sie den Unterkiefer der Schlange. Doch streckt sie ihre Hand dem Adam mit einer so beiläufigen Bewegung hin als reichte sie ihm nur eben eine Schachtel Pralinen. Das sieht gar nicht aus wie ein Frontalangriff auf seine moralische Integrität. Eva wendet sich ihrem Mann ja nicht mal richtig zu. Sie reicht ihm die Frucht, als wär‘s keine große und gefährliche Sache, sondern bloß ein Snack zwischendurch: „Probier‘ doch mal!“ Das verhängnisvolle Angebot kommt ganz locker aus der Hüfte. Von Adam weiß man aber nicht, ob er den Ernst der Lage überhaupt begreift. Denn seine unentschlossen halb erhobene Hand könnte im nächsten Moment genauso gut abwehren wie zugreifen. Ist er verblüfft von diesem unmoralischen Angebot? Oder verwirrt ihn die hübsche Eva, die ihren abgründigen Vorschlag mit einem freundlichen Lächeln verbindet? „Du kannst die süße Frucht haben“, scheint sie zu sagen, „Du musst sie mir nur aus der Hand und der Schlange aus dem Maul nehmen. Du kannst bekommen, was du willst. Aber, nun ja, ich und die Schlange und die süße Frucht – wir gehören zusammen: Du bekommst die Frucht nicht ganz ohne Sünde, aber die Sünde auch nicht ohne süßen Lohn. Das ist nur im Paket zu haben. Also nimm schon. Denn anders als von der Schlange bekommst du die Frucht nicht. Und da es meine Hand ist, die sie dir bietet, kannst du auch kaum ablehnen, ohne mich zu kränken...“ Was soll Adam also tun? Soll er Evas Hand wegstoßen und auf die Frucht verzichten, bloß weil ihn die Schlange stört? Oder soll er das böse Tier in Kauf nehmen und drüber hinwegsehen, weil ihm doch etwas Gutes gereicht wird? Wär‘s nicht undankbar, dies Gute zu verwerfen und zu verschmähen, nur weil es mit ein wenig Bösem verknüpft ist? Adam scheint nachzudenken. Aber darf er überhaupt Vor- und Nachteile abwägen? Oder folgt aus Gottes klarem Verbot, dass hier Abwägung gar nicht in Frage kommt, sondern nur schlichter Gehorsam? Natürlich könnte sich Adam entrüstet gegen Evas Vorschlag wenden. Aber würde ihn das nicht zugleich von der Frau trennen, die ihm Gott selbst zur Seite gestellt hat? Durch Ablehnung der Frucht verwirft er nicht nur Evas Vorschlag, sondern verurteilt zugleich ihr Handeln und geht ihren künftigen Weg nicht mit – denn Eva hat sich bereits auf die Schlange eingelassen. Und was nützt dem Adam eine überlegene Moralität, wenn sie ihn von Eva trennt? Muss er nicht schon aus Solidarität von der verbotenen Frucht naschen? Ist es nicht besser, mit der Frucht und der Schlange auch die Frau zu haben, statt alle drei wegzustoßen und auf Distanz zu gehen – um Gottes willen? Es scheint doch so, als habe Eva die Schlange im Griff! Oder ist es umgekehrt? Hat die Schlange Eva im Griff? Evas Hand trägt den Kopf der Schlange. Aber der Körper der Schlange umschlingt Evas Bein. Wer von beiden führt oder geführt wird, bleibt unklar. Doch die Frau und das Tier scheinen sich einig zu sein. Und sie sagen: „Hab‘ dich nicht so, Adam! Nimm schon! Die Frucht ist lecker! Alles hat seinen Preis, und dein Glück ist doch wohl eine kleine Sünde wert. Tue nicht so tugendhaft, als ob du’s nicht wolltest! Schließlich hat Gott auch diese schöne Frucht geschaffen. Zugleich schuf er deinen Appetit – und schuf sogar die Schlange. Wie schlimm kann‘s also sein? Wer Gutes will, muss dafür Böses in Kauf nehmen. Weißt du das etwa nicht? Hat dir Gott nicht Hände gegeben, damit du zugreifst? Hat er dir nicht Freiheiten gelassen, damit du sie nutzt? Oder bist du etwa zum Verzichten geboren, lieber Adam? Willst du am Ende etwas Besseres sein als deine Frau und das Tier? Oder willst du uns gar böse Absicht unterstellen, wo wir dir doch eine so süße Frucht reichen?“ Ja, in der Versuchung kommt das Böse keineswegs plump und hässlich daher, sondern locker, elegant und beiläufig. Es fordert auch nicht, dass man sich direkt gegen Gott stellt, was ja Wahnsinn wäre. Vielmehr beginnt die Versuchung mit dem leichten Zweifel, ob Gottes Gebot denn so „eng“ ausgelegt werden muss. Wird der himmlische Vater nicht zu gutmütig sein, um mit irgendwelchen Strafen ernst zu machen? Man ist geneigt, sich auf die Schlange einzulassen, weil sie doch immerhin ein Geschenk bringt. Man will nicht unhöflich sein. Und während Adams Verstand noch zaudert, macht seine Hüfte doch schon die Hüftbewegung Evas mit. „Sei kein Spielverderber“, sagt die Versuchung, „ergreife dein Glück. Es steckt in der Frucht! Oder bist du nicht Manns genug, einer Schlange ins Maul zu greifen? Fürchtest du etwa das schöne Tier? Wenn aber nicht – und wenn dein Glück nicht anders zu haben ist –, warum stehst du noch unschlüssig herum?“
Wenn Adam zu lange zögert, könnte Evas Lächeln leicht zu einem spöttischen werden. Und das fürchtet er vielleicht mehr als die Schlange, die doch zu schlafen scheint. Aber schläft auch Adams Gewissen? Die Bewegung der Eva ist nicht aggressiv, sondern beiläufig und spielerisch. Doch eben darin liegt der Betrug. Denn sie lädt eben nicht ein zum Spiel, sondern zu etwas sehr Ernstem. Man fasst dieser Schlange nicht ungestraft ins Maul. Und jeder Trottel kann sehen, dass die Frucht ein Köder ist. Wer danach greift, wird ergriffen. Wer die Frucht besitzen will, geht in den Besitz der Schlange über. Der Fehltritt bereitet kurz Vergnügen. Aber die verlorene Unschuld kehrt so schnell nicht wieder. Denn ist das Vertrauensverhältnis zu Gott erst mal zerstört, wird jeder Kontakt mit ihm problematisch. Wer Sünde tut, ist der Sünde Knecht. Sein Lohn ist der Tod (Joh 8,34; Röm 6,23). Und das ist es eigentlich nicht wert. Adam ahnt wohl auch schon, dass er die Tat bereuen wird. Aber zugleich kann man Eva verstehen. Denn sie hat ja bereits gegessen. Und wenn schon, dann will sie wenigstens nicht allein von Gott getrennt sein. Sie will nur getan haben, was alle Menschen tun. Das fühlt sich besser an. Und steht man unter einem verdienten Fluch, will man dort zumindest nicht alleine stehen. Ist man Gott gegenüber nicht im Recht, will man doch wenigstens in der Mehrheit sein. Eva möchte sagen können, dass Adam auch nicht besser ist. Denn warum sonst sollte sie ihn in Versuchung führen – und ihn dadurch in ihr Unglück mit hineinziehen? Sie hat sich bereits auf das Böse eingelassen. Und ihr Mann soll nicht unbefleckt danebenstehen. Eva hat ein Interesse daran, dass Adam ihr Schicksal teilt – und, kaum auf die Seite der Schlange getreten, verfolgt sie auch schon deren Ziele. Kaum, dass sie Sünderin ist, wird Eva zum Werkzeug der Sünde, indem sie Adam verleitet, es ihr gleich zu tun. Damit geht der Plan der Schlange auf. Die Folgen sind bekannt. Und seither geschieht Versuchung immer in dieser Weise, dass sie den Menschen, der ihr nachgeben will, mit guten Gründen ausstattet, die es ihm erleichtern. Regelmäßig überredet sich der Mensch, er tue das Böse gar nicht, weil er böse sei, sondern tue es bloß zu einem guten Zweck. Er will glauben, er nehme das Böse nur in Kauf, ohne es wirklich zu wollen. Er versucht stets, das Böse im Namen des Guten zu tun – und will dadurch entschuldigt sein. Weil die Schlange Geschenke bringt, will er ihr vertrauen – und anschließend vergessen, wem er den genossenen Vorteil verdankt. Er findet für sein Unrecht stets einen schöneren Namen. Und in pubertärem Aufbegehren will er beweisen, dass er von Gott unabhängig entscheiden kann. Er will Mut und Stärke zeigen, indem er der Schlange ins Maul greift, wundert sich dann aber, dass ihre Zähne beißen, und er das Tier nicht mehr loswird. Er will davon dann nichts geahnt haben. Er behauptet, Gut und Böse seien gar nicht deutlich zu unterscheiden gewesen. Er staunt, dass unmoralische Angebote tatsächlich einen Haken haben. Und er empört sich darüber, dass Gott seine menschlichen Entscheidungen so furchtbar ernst nimmt. Am erstaunlichsten ist aber, dass er sich trotzdem „homo sapiens“ nennt – der ach so „kluge“ Mensch. Denn als „klug“ erweist sich in dieser Sache nur die Schlange.