Volkszählung zu Bethlehem
Volkszählung in Bethlehem, Pieter Brueghel der Jüngere, Public domain, via Wikimedia Commons
Dieses Bild kann den Betrachter in mehr als einer Hinsicht enttäuschen. Denn einerseits ist es so vollgestopft mit kleinen Figuren, dass man sich eine Lupe wünscht, um Einzelnes besser erkennen zu können. Und andererseits erwartet man zu Weihnachten ein weihnachtliches Motiv – und nicht bloß ein Bauerndorf im Schnee. Wo ist denn da der Stall von Bethlehem? Wo sind die Engel und die Könige? Wo stecken Maria und Joseph? Auf anderen Weihnachtsbilder fällt uns sofort die Krippe ins Auge – mit einem hell leuchtenden Christuskind mittendrin. Da findet man sich zurecht und kennt sich aus! Aber diese Landschaft hier gleicht einem Wimmelbild ohne rechten Mittelpunkt. Das Auge kommt nirgends zur Ruhe, sondern springt hin und her. Und überhaupt ist das (der Vegetation und den Häusern nach) nicht Palästina und nicht Bethlehem, sondern ein flämisches Dorf im Mittelalter. Das ist nun zwar ganz hübsch gemalt. Aber wir könnten es lange betrachten, ohne drauf zu kommen, dass es hier um Weihnachten geht.
Trotzdem heißt das Bild „Volkszählung zu Bethlehem“. Und der Maler, Pieter Breugel der Ältere, hat sich offenbar etwas dabei gedacht. Denn er kannte natürlich die üblichen Weihnachtsmotive – und hat sich doch mit Absicht der Tradition entzogen. Er hat keine Madonna mit Kind auf Goldgrund gemalt, nicht Ochs und Esel, Engelchen und Hirten. Und statt sich selbst in den vorderen Orient zu versetzen, versetzt er das weihnachtliche Geschehen in seine eigene Gegenwart der Niederlande um 1566. Schon darin können wir eine wichtige Botschaft finden! Denn der Maler sagt damit: Was nützte mir Weihnachten in unerreichbarer Ferne? Was nützte mir die Menschwerdung Gottes in der fernen Vergangenheit, wenn sie nicht hier bei mir stattfände in meinem Alltag? Offenbar will Breugel nicht von einem Mirakel vergangener Tage erzählen, sondern will Weihnachten in seine Gegenwart hineinholen! Wir als Betrachter sind aber trotzdem abgelenkt von den vielen Figuren und den verschiedenen Schauplätzen und wissen nicht recht, was wir hier suchen sollen. Hinten am Horizont, hinter einem kahlen Baum, sehen wir die untergehende Abendsonne, die trotz der Kälte alles in ein warmes Licht taucht. Und davor liegt der zugefrorene Fluss, über den allerhand Menschen wandern. Einige haben schwere Lasten auf dem Rücken und Stäbe, auf die sie sich stützen. In Ufernähe liegt ein flaches Boot. Und rechts davon sind Kinder mit einer Schneeballschlacht beschäftigt. Hinter ihnen ist unter dem roten Schild ein Wirtshaus zu erkennen, wo man offenbar heiße Getränke bekommen kann. Rechts davon errichten Handwerker das Gerüst für einen kleinen Schuppen. Und am rechten Rand wird ein Fuhrwerk entladen. Aus dem kleinen Strohhaus mit dem Kreuz auf dem Dach schaut ein Mann mit Hut heraus, während auf der Eisfläche davor Kinder mit Kreiseln spielen und mit Schlitten fahren. Überall werden alltägliche Geschäfte getätigt. Manche arbeiten – und andere sind faul. Links unten wird ein Schwein zu dem Schlachter gezerrt, der schon über einem anderen kniet. Die Frau mit der langstieligen Pfanne will das Blut auffangen. Und Stroh liegt bereit, um damit die Schweineborsten abzuflämmen. Holz wird gesammelt, Geld gezählt, und Hühner picken im Schnee. An dem Wirtshaus links hängt ein grüner Kranz. Und dort gibt es einen Menschenauflauf. Denn vor dem Haus ist ein Tisch aufgestellt, und viele drängen sich zu dem Amtmann, der sie dort in Listen einträgt und dafür Geld entgegennimmt. Das ist offenbar die Meldestelle zur Volkszählung in Bethlehem! Denn Kaiser Augustus ließ ein Gebot ausgehen, dass alle Welt geschätzet würde. Und Breugel überträgt den biblischen Bericht umstandslos in die ländliche Szenerie seiner Heimat. Neben den fassartigen Wagen rechts entdecken wir dann aber endlich Maria und Joseph, die mit ihrem Esel auch zur Meldestelle wandern. Und haben wir sie erst mal gesehen, können wir sie auch eindeutig identifizieren. Denn der vorangehende Joseph trägt als Zeichen seines Handwerks die Säge eines Zimmermanns über der Schulter und einen Holzbohrer am Gürtel. Und Maria auf dem Esel hüllt sich in den sehr weiten blauen Mantel, mit dem sie traditionell dargestellt wird. Sonst ist an den beiden aber nur das besonders, dass sie so gar nicht besonders sind, sondern überaus normal und gewöhnlich. Denn anderenfalls hätten wir sie nicht so lange übersehen. An Maria und Joseph ist rein gar nichts, wodurch sie aus der Menge der übrigen hervorstechen. Sie sind nicht heller und nicht dunkler, nicht größer und nicht kleiner dargestellt als der Rest. Da ist auch kein goldener Glanz und kein Heiligenschein. Da sind nirgends Engel zu sehen. Und am Himmel leuchtet kein Stern von Bethlehem, der das Wunder verriete, das sich hier anbahnt. Alles ist Alltag, und gar nichts daran wirkt „feierlich“ – sondern wir sehen einfach nur einen Zimmermann, der mit seiner Verlobten unterwegs ist, um einer bürokratischen Vorschrift zu genügen. Natürlich ist die winterliche Reise für die Schwangere eine arge Belastung. Aber das kümmert hier keinen. Und gleich müssen sie sich auch noch in die Schlange einreihen und warten, um die unnütze Formalie zu erledigen. Bis die beiden zu dem Amtmann vordringen, ist die Sonne wahrscheinlich untergegangen. Dann wird es im Dorf rasch kälter. Die Einheimischen verkriechen sich in den Häusern. Und es wird sich herausstellen, dass in dem überfüllten Ort keine vernünftige Unterkunft mehr zu bekommen ist. Das Paar mit dem Esel wird improvisieren müssen. Denn da ist eben kein Glockenklang und kein Weihrauchduft. Eine Niederkunft im Schmutz eines Stalles kann sich keine Frau wünschen. Die Geburt kommt scheinbar ganz zur falschen Zeit am falschen Ort. Und so sehen wir da kein Idyll und noch nicht mal ein richtiges Drama, sondern nur ärgerlichen Alltag und den normalen Wahnsinn der Bürokratie. Wo bleibt aber der „Zauber der Weihnacht“? „Ja, was denn für ein Zauber?“ – hätte Breugel wohl geantwortet. Absichtlich verbirgt sein Bild die Hauptsache in einer Unmenge von Nebensächlichkeiten. Denn wie die Bibel sagt, wurde das Wort Fleisch, Gott wurde ein richtiger Mensch, und die himmlische Herkunft war dem Kind durchaus nicht anzusehen! Gottes Sohn entäußerte sich all seines Glanzes und nahm Knechtsgestalt an, so dass äußerlich an diesem Wunder rein gar nichts nach einem „Wunder“ aussah. Jesu Windeln waren ganz gewöhnliche Windeln, wie Josephs Familie eine gewöhnliche Familie war. Gott war hier „inkognito“ unterwegs. Er hat sich fast unbemerkt in die Welt hineingeschlichen. Er trat dabei wahrlich bescheiden auf. Und so ist es nur sachgemäß, dass unser Maler die Menschwerdung Gottes nicht spektakulärer darstellt. Denn Gott konnte uns nicht nahe kommen, ohne uns dabei ähnlich zu werden. Und aufgrund dieser Ähnlichkeit ist er nun leicht zu übersehen. Breugel zeigt also nur, wie es tatsächlich war. Sein Bild lässt die Ankunft des Gottessohnes im Alltäglichen untergehen. Denn Jesus Christus als Menschenkind ist so verwechselbar wie jedes andere Kind. Auch seine Mutter ist nur eine unter vielen. Und fürs erste erkennt niemand, dass da auf verborgene Weise weltbewegend Großes geschieht. Man sieht es nicht auf den ersten Blick, sondern staunt nachträglich, dass es Gott gefallen hat, mitten im Gewöhnlichen und durch das Gewöhnliche zu wirken! Und obwohl das nicht nach großer Erkenntnis klingt, ist doch zentral wichtig, dass wir merken, wie dieser himmlische Gast nicht das Besondere, sondern das Normale sucht. Das hört sich zunächst nicht nach einer aufregenden, guten Nachricht an. Tatsächlich ist es aber eine. Denn all die „Durchschnittsmenschen“ auf unserem Bild – das sind genau solche Leute wie wir. Wir denken zwar zunächst, das Bild sei ärgerlich – denn wozu zeigt uns Breugel Alltägliches, wo wir doch Alltägliches genug haben und selbst alltäglich sind? Aber dass Breugel die heilige Familie mitten in das hineinmalt, was wir sind: das ist dann doch wichtig und beglückend! Denn manch einer meint ja, dass seinem Leben aller Glanz fehlt. Und wenn bei ihm keine Engel singen und keine Wunder geschehen, denkt er, Gott sei fern von ihm. Viele stellen sich vor, das Göttliche sei immer mit sensationellen Erscheinungen verknüpft – und sie folgern darum, Gott käme in ihrem Leben nicht vor. Aber eben das ist der Trugschluss. Denn schon damals in Bethlehem trat Gott so bescheiden auf, so unspektakulär und alltäglich wie der Zimmermannssohn von nebenan. Um uns nahe zu sein, musste er uns ähnlich werden – und ist nun wegen dieser Ähnlichkeit leicht zu übersehen. Er geht in der Menge unter, ist aber trotzdem da! Wenn ein Mensch also sagt: „Ach, mein Glaube ist nur ein gewöhnlicher, nicht gerade starker Glaube. Meine Gebete sind selten, sind konventionell und unkonzentriert. Meine Bibel verstehe ich immer nur zur Hälfte. Und nicht mal beim Abendmahl fühle ich etwas Heiliges oder Erhebendes“ – dann darf man ihm antworten „das macht nichts!“ Denn Gott kann dir sehr nahe sein, ohne dass es dazu spektakulärer Auftritte, mitreißender Gefühle, einer heftigen Bekehrung oder sonstwie „sprühender Funken“ bedürfte. Gottes Sohn war sich nicht zu schade, in einem Stall geboren zu werden. Seine Gegenwart braucht weder Pomp noch Getöse! Und so kann er auch unmerklich und leise in deinem Leben Einzug halten. Er rümpft nicht die Nase, weil du so „durchschnittlich“ bist. Denn das zeigt unser Bild überdeutlich und sachgemäß, dass Gottes Sohn nicht zu den Reichen und Vornehmen kam, nicht zu den Superschlauen, Wichtigen, Mächtigen oder Heiligen, sondern zu den „kleinen Leuten“ und zum „gemeinen Fußvolk“, wie es jedes beliebige Dorf bevölkert. Auch Jesu Jünger waren einfache Leute ohne Titel und Würden. Viel eher hatten sie Schwielen an den Händen und Dreck an den Schuhen! Es scheint sogar, als habe Gott um die großen Paläste, Bankhäuser und Universitäten bewusst einen Bogen gemacht. Er ging in die Provinz, wo schmutzige Kinder auf der Straße spielen, wo man eine deftige Mahlzeit nicht verachtet und keiner die Nase allzu hoch trägt. Gott mischte sich bewusst unters Volk, um diesem Volk nah zu sein. Und – sofern wir „normale Leute“ sind – ist das eine tolle Nachricht für uns. Denn wir müssen nicht erst aus der Masse herausragen, um von Gott gesehen zu werden. Und wir müssen auch nicht aus unserem Alltag ausbrechen. Denn Gott selbst kommt in diesem Alltag vor. Er will bei uns wohnen! Und so sieht das Wasser, mit dem wir taufen, nur wie Wasser aus, und das Brot beim Abendmahl nur wie ein Stück Brot. Die Worte, mit denen wir beten, sind nicht immer passend. Und der Pfarrer, der uns den Segen spricht, kann’s auch nicht besser als irgendein anderer. Aber Christus will dennoch bei uns wohnen! Niemand wird uns für besonders „heilig“ halten – und manchmal glauben wir uns unseren Glauben selbst nicht. Mit unsrem bisschen Tugend würden wir keinen Preis gewinnen. Und besondere Frömmigkeit sagt uns auch keiner nach. Aber Christus will bei uns wohnen! Und wir sollten ihn nicht übersehen, nur weil‘s in unserem Alltag so alltäglich zugeht. Denn eben das ist der Clou und die Botschaft dieses Bildes, dass es Gottes Sohn nicht auf „Ausnahmemenschen“ abgesehen hat, sondern dass er gewöhnlich wurde, um auch bei den Gewöhnlichen zu sein. Breugel zeigt uns Maria und Joseph als Menschen, an denen das Besondere ist, dass sie nichts Besonderes sind. Ihr Dorf ist ein Allerweltsdorf und eigentlich nicht der Rede wert. Aber für Gott hat Bethlehem gereicht. Dem Höchsten war das Niedrige gerade recht. Und dass es ihm für seinen Zweck geeignet schien, leuchtet auch ein. Denn was sollte er uns Gnade bringen, wenn wir sie schon besäßen oder dieses Geschenk verdienten? Was sollte er uns Leben und Gerechtigkeit, Heiligkeit und Ewigkeit schenken, wenn wir bereits drüber verfügten? Nur in leere Hände kann man Reichtum legen. Nur Kranke bedürfen des Arztes. Wer nicht schuldig ist, dem kann man nichts vergeben. Und wer sich schon selbst für weise hält, der kann auch nicht erleuchtet werden. Die Mühseligen und Beladenen hingegen – die brauchen einen, der ihre Lasten auf sich nimmt! Und die gefallen sind, brauchen jemand, der ihnen auf die Füße hilft. Zu denen kommt Gott auf unspektakuläre Weise – und kommt doch sehr real. Denn die ihm nichts zu bieten haben, sind ihm gerade recht. Er selbst bringt genug Glanz in unsere Hütten. Wir Gastgeber können da ruhig „gewöhnlich“ sein, denn unser Gast ist „besonders“ genug! Dass er aber kommt – und unsere Gemeinschaft tatsächlich nicht verschmäht – dafür sei ihm gedankt in Zeit und Ewigkeit.