Wurzeln
Ich führe seit Jahren Krieg mit einem Weidenbusch. Und es sieht nicht aus, als ob ich gewinnen könnte. Meine Kinder sprechen schon spöttisch vom „Kampf der Giganten“. Im Oktober schneide ich den Busch radikal herunter und denke: „Davon erholt er sich nie wieder!“ Aber im nächsten Jahr wächst er dann drei Meter in die Höhe, reicht bis an die Regenrinne der Kirche – und versperrt mir die Sicht auf den Eingang des Gemeindehauses. Der Busch stört. Doch scheint er unbesiegbar. Und wenn ich im Herbst mit meiner Astschere komme, lacht er nur. Denn so sehr ich ihn auch niedermache – er bleibt in seinem Lebenswillen völlig unbeirrt und presst im Frühjahr neue Triebe hervor, als wollte er mich und meine Bemühungen verhöhnen. Was aber ist das Geheimnis seiner Vitalität? Warum kann ich ihn nicht umbringen? Die Antwort ist einfach: Er hat tiefe Wurzeln, an die ich nicht herankomme. Er steht am Überlauf des Kirchendaches, wo der Boden auch im Sommer noch feucht ist. Und von dort unten aus der Tiefe zieht er seine Kraft. Egal, wie grausam ich seine Zweige verstümmle, seine Dynamik bleibt ungebrochen. Denn um die Wurzeln auszugraben, bräuchte ich schweres Gerät. So kann ich ihn zwar über der Erde grausam verletzen. Doch selbst wenn ich anschließend mit einem LKW drüber rollte – in seinem Lebenszentrum träfe ihn das nicht. Denn das liegt tiefer. Es ist meinem Auge verborgen, außerhalb meiner Reichweite. Und (man verzeihe den gedanklichen Sprung) – mir ist klar geworden, dass es sich bei uns Christen ähnlich verhält. Auch wir haben eine sichtbare Seite an der Oberfläche, wo wir verwundbar sind und im Laufe des Lebens gestutzt werden. Zugleich haben wir aber ein verborgenes Lebenszentrum in der Tiefe, an das keiner herankommt, weil wir durch unseren Glauben verwurzelt sind in Gott. Das kann man keinem ansehen – wie man auch Pflanzen nicht ansieht, ob ihre Wurzeln flach verlaufen oder tief hinabreichen. Alles, was oben herausschaut, ist äußeren Einflüssen ausgeliefert. Doch als Christen haben wir unser Lebenszentrum im Verborgenen. Gott ist die Quelle unsrer Vitalität. Und sollte uns die Astschere des Schicksals an der Oberfläche verwüsten und aller schönen Äste berauben, so dass wir wie tot erscheinen, sind doch die Wurzeln lebendig. Denn Gott selbst ist unsre Wurzel. Und wenn er einen neuen Frühling schenkt, kann auch ein scheinbar toter Stumpf wieder austreiben. Denn das Leben des Christen ist „verborgen mit Christus in Gott“ (Kol 3,3). Die Welt sieht es nicht. Sie lacht darüber. Doch wenn wir das Sichtbare verlieren, sind wir keineswegs verloren. Wie die Astschere Macht hat über die obere Hälfte des Weidenbuschs, so hat die Welt Macht über unsren Besitz, unsre Freiheit und unsre Gesundheit. Aber der untere Teil, der in Gott geborgen ist, bleibt unangetastet und nährt sich aus dem Ewigen. Einem Christen schenkt das Zuversicht und Gelassenheit. Wo aber die anderen ihre Wurzeln haben – die Frage müssen sie selbst beantworten.
Bild am Seitenanfang: Th. Gerlach privat / 2024