Äpfel und Birnen
Stellen sie sich vor, sie wären kein Mensch, sondern ein Baum. Wären sie dann eine jener kräftigen Eichen, denen man ansieht, welchen Stürmen sie standgehalten haben? Wären sie eine schlanke Birke, die es versteht, dem Wind nachzugeben? Oder sehen sie sich eher als Krüppelkiefer, die sich mit ihren Wurzeln in den Fels krallt? Wären sie ein Obstbaum mit weit ausladenden Ästen, der schon viele Früchte getragen hat? Oder sind sie eher eine Tanne, die kerzengrade nach oben strebt – immer dem Licht entgegen? Stehen sie einzeln auf freiem Feld? Oder sind sie (wie ein Baum im Wald) eng von Freunden umringt? Sehen sie sich auch im Alter noch als blühenden Baum? Oder haben sie morsche Zweige und Risse in der Rinde? Sind Verletzungen an ihnen sichtbar, wo der Blitz in den Stamm geschlagen hat? Oder gibt es Äste, die unter der Last des Schnees abgebrochen sind? Ja, die Gestalt der Bäume ist so vielfältig wie die der Menschen. Doch wirft das Gedankenspiel Fragen auf. Denn in der Jugend träumen viele davon, etwas Imposantes zu werden – eine Kastanie oder Linde vielleicht. Und wenn sie dann nur eine kleine und schiefe Buche wurden, grämen sie sich. Aber weiß man, ob sie, wenn sie höher hinauf gewachsen wären, nicht viel eher der Blitz getroffen hätte? Andere Bäume mögen reichere Frucht tragen. Aber vielleicht nisten in diesen Ästen besonders viele Vögel? Manch einer ist neidisch, weil andere Lebensbäume auf fettem Boden wachsen, seiner dagegen auf Stein und Geröll. Aber kann man nicht auch stolz sein, aus schlechten Bedingungen das Beste zu machen? Vielleicht fühlt sich einer vom Sturm des Lebens zerzaust. Aber vielleicht hat er zarten Pflanzen Schutz geboten, die in seinem Windschatten gedeihen konnten? Am Ende erkennt man, dass es keinen Sinn hat, das eigene Leben an dem eines anderen zu messen. Denn Äpfel und Birnen lassen sich nicht vergleichen. Und es kann auch keiner in die Haut eines anderen schlüpfen, um zu prüfen, ob es ihm darin besser ginge. Jeder hat seinen eigenen Lebensbaum. Und entscheidend ist nicht, ob der unseren Jugendträumen entspricht oder den Nachbarn gefällt, sondern wie es um seine Wurzeln bestellt ist. Denn Bäume sind da wie Menschen. Ihre Kraft sitzt nicht oben in der weithin sichtbaren Krone, sondern unten in den verborgenen Wurzeln. In der Seele nämlich (wo keiner hineinschaut), hat der Mensch Anschluss an die Quelle des Lebens – oder er hat keinen Anschluss. Er ist mit Gott im Reinen – oder ist es nicht. Die Bibel sagt, wer sich auf Gott verlässt, ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hin streckt (Jer 17,8). Auch dem bleiben Dürrephasen nicht erspart. Doch fließt ihm die Kraft zu, die er braucht. Und so ist es ziemlich albern, wenn die Weide mit dem Ahorn um die schöneren Blätter konkurrieren will. Nur darauf, dass beide in Gott verwurzelt bleiben – nur darauf kommt es an!
Bild am Seitenanfang: Einsamer Baum
Caspar David Friedrich, Public domain, via Wikimedia Commons