Bonhoeffer: Die Jünger und die Ungläubigen
Matthäus 7:
Die Aussonderung der Jüngergemeinde.
Der Jünger und die Ungläubigen.
„Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge? Oder wie darfst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, – und siehe, ein Balken ist in deinem Auge? Du Heuchler, zieh am ersten den Balken aus deinem Auge; darnach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest! Ihr sollt das Heiligtum nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, auf daß sie dieselben nicht zertreten mit ihren Füßen und sich wenden und euch zerreißen. Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Welcher ist unter euch Menschen, so ihn sein Sohn bittet ums Brot, der ihm einen Stein biete? Oder so er ihn bittet um einen Fisch, der ihm eine Schlange biete? So denn ihr, die ihr doch arg seid, könnt dennoch euren Kindern gute Gaben geben, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten! Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Mt. 7,1-12). Ein notwendiger Zusammenhang führt vom 5. und 6. Kapitel zu diesen Versen und dann zum großen Abschluß der Bergpredigt. Vom Außerordentlichen der Nachfolge war im 5. Kapitel die Rede (PERISSON), von der verborgenen, einfältigen Gerechtigkeit der Jünger im 6. Kapitel (HAPLOUS). Durch beides waren die Nachfolgenden aus der Gemeinschaft, der sie bisher angehörten, herausgenommen und allein mit Jesus verbunden worden. Die Grenze wurde deutlich sichtbar. Das bringt die Frage nach dem Verhältnis der Nachfolgenden zu den Menschen um sie herum mit sich. Ist ihnen durch die Aussonderung, die ihnen zuteil wurde, ein beson-deres, eigenes Recht mitgeteilt worden, sind sie in den Besitz von Kräften, Maßstäben, Begabungen gelangt, die es ihnen ermöglichten, diesen anderen gegenüber eine besondere Autorität für sich in Anspruch zu nehmen? Es hätte ja vor allem nahegelegen, wenn die Nachfolger Jesu sich nun durch ein scharfes, trennendes Urteil von ihrer Umgebung selbst gelöst hätten. Ja, es hätte geradezu die Meinung entstehen können, als sei es der Wille Jesu, daß solches trennende und richtende Urteil von den Jüngern nun auch in ihrem täglichen Umgang mit den Anderen vollzogen würde. Darum muß es Jesus deutlich machen, daß durch solche Mißverständnisse die Nachfolge ernstlich gefährdet würde. Die Jünger sollen nicht richten. Tun sie es, so verfallen sie selbst dem Gericht Gottes. Das Schwert, mit dem sie den Bruder richten, fällt auf sie selbst herab. Der Schnitt, mit dem sie sich vom Anderen absondern als die Gerechten von den Unge-rechten, trennt sie selbst von Jesus.
Warum ist das so? Der Nachfolgende lebt ganz und gar aus der Verbundenheit mit Jesus Christus. Er hat seine Gerechtigkeit nur in dieser Verbundenheit und niemals außerhalb derselben. Sie kann ihm also niemals zum Maßstab werden, den er in Besitz hätte zu beliebiger Verfügung. Was ihn zum Jünger macht, ist nicht ein neuer Maßstab seines Lebens, sondern ist ganz allein Jesus Christus, der Mittler und Sohn Gottes selbst. Seine eigene Gerechtigkeit ist ihm daher verborgen in der Gemeinschaft mit Jesus. Er kann sich selbst nicht mehr sehen, beobachten, beurteilen, er sieht allein Jesus, er ist allein von Jesus gesehen, beurteilt und begnadigt. So steht auch zwischen dem Jünger und den Anderen nicht ein Maßstab gerechten Lebens, sondern abermals allein Jesus Christus selbst; der Jünger sieht den anderen Menschen immer nur als einen, zu dem Jesus kommt. Er begegnet ja dem Anderen nur, weil er mit Jesus zum Anderen geht. Jesus geht ihm voran zum Anderen, und er folgt ihm. So ist die Begegnung des Jüngers mit dem Anderen niemals die freie Begegnung zweier Menschen, die in der Unmittelbarkeit ihre Ansichten, Maßstäbe, Urteile gegeneinander führen. Vielmehr kann der Jünger dem Anderen nur als dem begegnen, zu dem Jesus selbst kommt. Der Kampf um den Anderen, sein Ruf, seine Liebe, seine Gnade, sein Gericht kommt hier allein zur Geltung. Der Jünger hat also nicht eine Position bezogen, von der aus der Andere angegriffen wird, sondern er tritt in der Wahrhaftigkeit der Liebe Jesu zu dem Anderen mit dem bedingungslosen Ange-bot der Gemeinschaft.
Im Richten treten wir dem Anderen gegenüber in dem Abstand der Beobachtung, der Reflexion. Die Liebe aber läßt dazu keinen Raum und keine Zeit. Der Andere kann dem Liebenden niemals Gegenstand zuschauerischer Betrachtung sein, sondern er ist jederzeit der lebendige Anspruch auf meine Liebe und meinen Dienst. Aber zwingt mich nicht das Böse des Anderen notwendig zur Verurtei-lung, gerade um des Anderen, um der Liebe zu ihm willen? Wir erkennen, wie scharf hier die Grenze gezogen ist. Eine mißverstandene Liebe zum Sünder ist der Liebe zur Sünde unheimlich nahe. Aber die Liebe Christi zum Sünder ist ja selbst die Verurteilung der Sünde, sie ist der schärfste Ausdruck des Hasses gegen die Sünde. Gerade die bedingungslose Liebe, in der Jesu Jünger leben sollen in seiner Nachfolge, bewirkt das, was sie mit geteilter und nach eigenem Ermessen und eigenen Bedingungen geschenkter Liebe niemals bewirken könnten, nämlich die radikale Verurteilung des Bösen.
Richten die Jünger, so richten sie Maßstäbe auf über Gut und Böse. Jesus Christus aber ist kein Maßstab, den ich auf andere anwenden könnte. Er ist es, der mich selbst richtet und mir mein Gutes als ganz und gar Böses enthüllt. Damit aber ist mir verboten, auf den Anderen anzuwenden, was mir nicht gilt. Ja, mit dem Richten nach Gut und Böse bestätige ich den Anderen gerade in seinem Bösen; denn auch er richtet nach Gut und Böse. Aber er weiß nicht um die Bosheit seines Guten, sondern rechtfertigt sich darin. Wird er von mir in seinem Bösen gerichtet, so wird er in seinem Guten bestätigt, das doch niemals das Gute Jesu Christi ist, und so gerade wird er dem Gericht Christi entzogen und einem menschlichen Gericht unterstellt. Ich selbst aber ziehe das Gericht Gottes über mich herbei, denn ich lebe nun nicht mehr aus Gnade Jesu Christi, sondern aus der Erkenntnis des Guten und Bösen und verfalle dem Urteil, an das ich mich halte. Gott ist einem jeglichen der Gott, als den er ihn glaubt.
Richten ist die unerlaubte Reflexion auf den Anderen. Es zersetzt die einfältige Liebe. Diese verbietet mir zwar nicht meine Gedanken über den Anderen, meine Wahrnehmung seiner Sünde, aber beides wird dadurch aus der Reflexion befreit, daß es mir allein Anlaß zur Vergebung und zur bedingungslosen Liebe wird, die Jesus mir beweist. Durch die Zurückhaltung meines Urteils über den Anderen wird nicht das tout comprendre c’est tout pardonner in Kraft gesetzt, wird nicht dem Anderen doch wieder irgendwie rechtgegeben. Weder ich bekomme hier Recht noch der Andere, sondern Gott allein wird Recht gegeben, seine Gnade und sein Gericht werden verkündigt.
Richten macht blind, aber die Liebe macht sehend. Im Richten bin ich blind gegen mein eignes Böses und gegen die Gnade, die dem Anderen gilt. In der Liebe Christi aber weiß der Jünger um alle denkbare Schuld und Sünde, denn er weiß um das Leiden Jesu Christi, zugleich aber erkennt die Liebe den Anderen als den, dem unter dem Kreuz vergeben ist. Die Liebe sieht den Anderen unter dem Kreuz, und eben darin ist sie in Wahrheit sehend. Ginge es mir beim Richten wirklich um die Vernichtung des Bösen, so würde ich das Böse dort suchen, wo es mich eigentlich bedroht, nämlich bei mir selbst. Suche ich aber das Böse beim Andern, so wird gerade darin offenbar, daß ich auch in solchem Richten mein eigenes Recht suche, daß ich in meinem Bösen ungestraft bleiben will, indem ich den Anderen richte. So ist die Voraussetzung alles Richtens der gefährlichste Selbstbetrug, daß nämlich mir das Wort Gottes anders gelte als meinem Nächsten. Ich mache ein Sonderrecht geltend, indem ich sage: mir gelte die Vergebung, dem Anderen aber das richtende Urteil. Weil aber die Jünger von Jesus kein eigenes Recht bekommen, das sie einem Anderen gegenüber geltend zu machen hätten, weil sie nichts empfangen als seine Gemeinschaft, darum ist das Richten als die Anmaßung eines falschen Rechtes über den Nächsten dem Jünger ganz und gar verwehrt. Aber nicht nur das richtende Wort ist dem Jünger verboten, sondern auch das verkündigende Heilswort der Vergebung an den Anderen hat seine Grenze. Der Jünger Jesu hat nicht Macht und Recht, dieses jedem zu jeder Zeit aufzunötigen. Alles Drängen, Nachlaufen, Proselytenmachen, jeder Versuch, mit eigner Macht etwas am Anderen auszurichten, ist vergeblich und gefährlich. Vergeblich – denn die Säue erkennen die Perlen nicht, die man vor sie hinwirft; gefährlich – denn nicht nur wird so das Wort der Vergebung entheiligt, nicht nur wird hier der Andere, dem ich dienen will, zum Sünder am Heiligtum gemacht, sondern auch die predigenden Jünger kommen in Gefahr, von der blinden Wut der Verstockten und Verfinsterten ohne Not und ohne Nutzen Schaden zu leiden. Die Verschleuderung der billigen Gnade wird der Welt zum Überdruß. So wendet sie sich schließlich gewaltsam gegen die, die ihr aufdrängen wollen, was sie nicht begehrt. Das bedeutet für die Jünger eine ernste Beschränkung ihres Wirkens, die der Weisung von Mt. 10 entspricht, den Staub von den Füßen zu schütteln, wo das Wort des Friedens nicht gehört wird. Die treibende Unruhe der Jüngerschar, die keine Grenzen ihrer Wirksamkeit kennen will, der Eifer, der den Widerstand nicht achtet, verwechselt das Wort des Evangeliums mit einer siegreichen Idee. Die Idee fordert Fanatiker, die keinen Widerstand kennen und achten. Die Idee ist stark. Das Wort Gottes aber ist so schwach, daß es sich von Menschen verachten und verwerfen läßt. Es gibt für das Wort verstockte Herzen und verschlossene Türen, und das Wort anerkennt den Widerstand, auf den es stößt, und erleidet ihn. Es ist eine harte Erkenntnis: für die Idee gibt es nichts Unmögliches, für das Evangelium aber gibt es Unmöglichkeiten. Das Wort ist schwächer als die Idee. So sind auch die Zeugen des Wortes mit diesem Wort schwächer als die Propagandisten einer Idee. Aber in dieser Schwäche sind sie frei von der kranken Unruhe der Fanatiker, sie leiden ja mit dem Wort. Die Jünger können auch weichen, können auch fliehen, wenn sie nur mit dem Wort weichen und fliehen, wenn nur ihre Schwäche die Schwä-che des Wortes selbst ist, wenn sie nur das Wort nicht im Stiche lassen auf ihrer Flucht. Sie sind ja nichts als Diener und Werkzeuge des Wortes und wollen nicht stark sein, wo das Wort schwach sein will. Wollten sie das Wort unter allen Umständen, mit allen Mitteln der Welt aufzwingen, so machten sie aus dem lebendigen Wort Gottes eine Idee, und die Welt wird sich mit Recht gegen eine Idee zur Wehr setzen, die ihr nichts helfen kann. Gerade als die schwachen Zeugen aber sind sie von denen, die nicht weichen, sondern die bleiben – freilich allein dort, wo das Wort ist. Die Jünger, die von dieser Schwäche des Wortes nichts wissen, hätten das Geheimnis der Niedrigkeit Gottes nicht erkannt. Dieses schwache Wort, das den Widerspruch der Sünder erleidet, ist ja allein das starke, barmherzige Wort, das Sünder bekehrt von Grund ihres Herzens. Seine Kraft ist verhüllt in der Schwachheit; käme das Wort in unverhüllter Kraft, so wäre der Gerichtstag da. Es ist eine große Aufgabe, die den Jüngern gestellt ist, die Grenzen ihres Auftrages zu erkennen. Das mißbrauchte Wort aber wird sich gegen sie kehren.
Was sollen die Jünger tun angesichts der verschlossenen Herzen? Dort wo der Zugang zum Anderen nicht gelingt? Sie sollen anerkennen, daß sie in keiner Weise Recht oder Macht über die Anderen besitzen, daß sie auch keinerlei unmittelbaren Zugang zu ihnen haben, so daß ihnen allein der Weg zu dem bleibt, in dessen Hand sie selbst stehen wie auch jene Anderen. Hiervon redet das folgende. Die Jünger werden ins Gebet geführt. Es wird ihnen gesagt, daß kein anderer Weg zum Nächsten führt als das Gebet zu Gott. Gericht und Ver-gebung bleiben in Gottes Hand. Er schließt zu und er schließt auf. Die Jünger aber sollen bitten, suchen, anklopfen, so wird er sie erhören. Das sollen die Jünger wissen, daß ihre Sorge und Unruhe um die Anderen sie ins Gebet führen muß. Die Verheißung, die ihrem Gebet gegeben ist, ist die größte Macht, die sie haben.
Das unterscheidet das Suchen der Jünger von dem Gottsuchen der Heiden, daß jene wissen, was sie suchen. Gott suchen kann nur, wer ihn schon kennt. Wie könnte er suchen, was er nicht kennt? Wie sollte er finden, wenn er nicht weiß, was er sucht? So suchen die Jünger Gott, den sie gefunden haben in der Ver-heißung, die Jesus Christus ihnen gab.
Zusammenfassend ist hier deutlich geworden, daß dem Jünger im Verkehr mit dem Anderen kein eigenes Recht, keine eigene Macht gehört. Er lebt ganz und gar von der Kraft der Gemeinschaft Jesu Christi. Eine einfache Regel gibt Jesus dem Jünger, an der selbst der Einfältigste prüfen kann, ob sein Umgang mit dem Anderen recht ist oder unrecht; er braucht nur das Verhältnis von Ich und Du umzukehren, er braucht sich nur an die Stelle des Anderen und diesen an seine Stelle zu setzen. „Was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das tut ihr ihnen auch.“ Im selben Augenblick verliert der Jünger jegliches Sonderrecht vor dem Anderen, er kann nicht bei sich entschuldigen, was er beim Anderen anklagt. Er ist nun gegen das Böse in sich so hart, wie er gegen das Böse des Anderen zu sein pflegte, und gegen das Böse des Anderen so nachsichtig, wie er gegen sich selbst ist. Denn unser Böses ist nichts anderes als das Böse des Anderen. Es ist ein Gericht, ein Gesetz, eine Gnade. So wird der Jünger dem Anderen immer nur begegnen als der, dem seine Sünden vergeben sind und der von nun an allein von der Liebe Gottes lebt. „Das ist das Gesetz und die Propheten“ – denn es ist nichts anderes als das höchste Gebot selbst: Gott lieben über alle Dinge und deinen Nächsten als dich selbst.