Bonhoeffer: Die verborgene Gerechtigkeit

 

Matthäus 6: 

Von der Verborgenheit des christlichen Lebens.

 

Die verborgene Gerechtigkeit.

 

„Habt acht auf eure Gerechtigkeit, daß ihr sie nicht tut vor den Leuten, daß ihr von ihnen gesehen werdet; ihr habt anders keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Wenn du nun Almosen gibst, sollst du nicht lassen vor dir posaunen, wie die Heuchler tun in den Schulen und auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber Almosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf daß dein Almosen verborgen sei; und dein Vater, der in das Ver-borgene sieht, wird dir’s vergelten öffentlich“ (Mt. 6,1-4).

Nachdem das 5. Kapitel von der Sichtbarkeit der Gemeinde der Nachfolgenden gesprochen hat und in dem PERISSON gipfelt, nachdem also das Christliche als das aus der Welt Hinaustretende, die Welt Überragende, Außerordentliche verstanden werden muß, knüpft das nächste Kapitel unmittelbar an dieses PERISSON an und enthüllt es in seiner Zweideutigkeit. Zu groß ist ja die Gefahr eines völligen Mißverständnisses durch die Jünger, als sollten sie nun doch ans Werk gehen, unter Verachtung und Zerstörung der Ordnung der Welt ein himmlisches Reich auf Erden aufzurichten, in schwärmerischer Gleichgültigkeit gegen diesen Äon das Außerordentliche der neuen Welt nunmehr zu vollbringen, sichtbar zu machen, sich mit allem Radikalismus und aller Kompromißlosigkeit von der Welt zu trennen, um das Christliche, das der Nachfolge Gemäße, das Außerordentliche zu erzwingen. Allzu nahe lag die Verwechslung, es werde ihnen hier doch wieder eine – allerdings freie, neue, begeisternde – fromme Lebens-form und Lebensgestaltung gepredigt. Und wie gern wäre das fromme Fleisch bereit, dieses Außerordentliche, Armut, Wahrhaftigkeit, Leiden auf sich zu nehmen, ja zu suchen, wenn nur damit endlich der Begierde des Herzens genug getan würde, etwas zu sehen mit eigenen Augen und nicht nur zu glauben. Die Bereitschaft, hier eine kleine Verschiebung der Grenze vorzunehmen, indem fromme Lebensform und Gehorsam gegen das Wort einander allzu nahe rückten und schließlich gar nicht mehr auseinander zu halten wären, wäre gewiß dage-wesen. Es geschah ja um des einen Zieles willen, daß das Außerordentliche endlich verwirklicht werde.

Umgekehrt mußten ja diejenigen sogleich auf dem Plan sein, die auf das Wort Jesu von dem Außerordentlichen nur gewartet hatten, um ihn nun um so wütender anzugreifen. Hier war ja der Schwärmer, der revolutionäre Enthusiast endlich entlarvt, der die Welt aus den Angeln heben will, der seine Jünger die Welt verlassen und eine neue Welt aufbauen heißt. Ist das noch Gehorsam gegen das Wort des Alten Testaments? Ist das nicht die vollendete selbstge-wählte, eigene Gerechtigkeit, die hier aufgerichtet wird? Weiß Jesus nichts von der Sünde der Welt, an der alles, was er gebietet, scheitern muß? Weiß er nichts von den offenbaren Geboten Gottes, die die Sünde zu bannen gegeben wurden? Ist dieses Außerordentliche, das da gefordert ist, nicht der Erweis des geistlichen Hochmuts, der der Anfang aller Schwärmerei gewesen ist? Nein, gerade nicht das Außerordentliche, sondern das ganz Alltägliche, das Reguläre, das Ver-borgene ist das Zeichen echten Gehorsams und echter Demut. Wiese Jesus seine Jünger hinein in ihr Volk, in ihren Beruf, ihre Verantwortung, in den Gehorsam gegen das Gesetz, wie es die Schriftgelehrten dem Volk auslegten, dann hätte er sich als ein Frommer, ein wahrhaftiger Demütiger, ein Gehorsamer gezeigt. Er hätte einen kräftigen Antrieb zu ernsterer Frömmigkeit, strengerem Gehorsam gegeben. Er hätte gelehrt, was die Schriftgelehrten auch wußten, aber gewiß gern mit Nachdruck gepredigt hörten, daß wahre Frömmigkeit und Gerechtigkeit nicht nur in der äußeren Tat, sondern auch in der Gesinnung des Herzens, aber auch nicht nur in der Gesinnung des Herzens, sondern eben auch in der Tat bestehe. Das wäre wirklich „bessere Gerechtigkeit“ gewesen, wie sie das Volk brauchte, wie sich ihr keiner hätte entziehen können. Aber nun war das alles zerbrochen. Statt des demütigen Lehrers des Gesetzes erkannte man den hochmütigen Schwärmer. Gewiß hatte zu allen Zeiten die Predigt der Schwärmer das menschliche Herz zu begeistern verstanden, ja gerade das edle menschliche Herz. Aber wußten die Lehrer des Gesetzes nicht, daß aus diesem Herzen in allem Guten und Edlen eben doch die Stimme des Fleisches sprach, kannten sie nicht selbst diese Gewalt des frommen Fleisches über den Menschen? Jesus opferte die besten Söhne des Landes, die aufrichtig Frommen nutzlos in einem Kampf um eine Chimäre. Das Außerordentliche – das war ja das schlechthin freiwillige, dem eignen Herzen entsprungene Werk des frommen Menschen. Es war das Auftrumpfen der menschlichen Freiheit gegen den schlichten Gehorsam gegen das Gebot Gottes. Es war die unerlaubte Selbstrechtfertigung des Menschen, die das Gesetz niemals zuläßt. Es war die gesetzlose Selbstheili-gung, die vom Gesetz verworfen werden mußte. Es war das freie Werk, das sich dem unfreien Gehorsam entgegenstellte. Es war die Zerstörung der Gemeinde Gottes, die Verleugnung des Glaubens, es war Lästerung des Gesetzes, Gottes-lästerung. Das Außerordentliche, das Jesus lehrte, war vor dem Gesetz der Todesstrafe würdig.

Was sagt Jesus zu dem allen? Er sagt: „Habt acht auf eure Gerechtigkeit, daß ihr sie nicht tut vor den Menschen, um von ihnen gesehen zu werden.“ Der Ruf zum Außerordentlichen ist die große, unvermeidliche Gefahr der Nachfolge. Darum: habt acht auf dieses Außerordentliche, auf dieses Sichtbarwerden der Nachfolge. Jesus setzt der unbedachten, ungebrochenen, geradlinigen Freude an diesem Sichtbaren ein Halt! entgegen. Er gibt dem Außerordentlichen einen Stachel. Jesus ruft zur Reflexion. Die Jünger sollen dieses Außerordentliche nur in der Reflexion haben. Sie sollen darauf achthaben. Das Außerordentliche soll nämlich nicht geschehen, damit es gesehen werde, also das Außerordentliche soll nicht um des Außerordentlichen willen getan werden, das Sichtbarwerden soll nicht um des Sichtbarwerdens willen geschehen. Diese bessere Gerechtigkeit der Jünger soll nicht Selbstzweck sein. Zwar muß es sichtbar werden, muß das Außer-ordentliche geschehen, aber – habt acht, daß es nicht geschieht, damit es sichtbar werde. Zwar hat die Sichtbarkeit der Nachfolge einen notwendigen Grund, nämlich den Ruf Jesu Christi, aber sie ist niemals selbst ein Ziel; denn dann wäre ja die Nachfolge selbst wieder aus dem Auge verloren, dann wäre da ein Augenblick Ruhe eingetreten, die Nachfolge wäre unterbrochen, und sie wäre jedenfalls nicht mehr an der Stelle, an der wir ausruhen wollten, fortzusetzen, sondern im selben Augenblick wären wir zurückversetzt an den ersten Anfang. Wir müßten merken, daß wir gar nicht mehr Nachfolgende sind. Also, es muß etwas sichtbar werden, aber – paradox: Habt acht, daß es nicht geschehe, damit es die Leute sehen. „Laßt euer Licht leuchten vor den Leuten…“(5,16), aber: Habt acht auf die Verborgenheit! Kapitel 5 und 6 prallen hart aufeinander. Das Sichtbare soll zugleich das Verborgene sein; das Sichtbare soll zugleich nicht gesehen werden können. Die Reflexion, von der gesprochen wurde, ist also gerade darauf zu richten, daß wir nicht in die Reflexion über unser Außer-ordentliches geraten. Das Achthaben auf unsere Gerechtigkeit soll gerade dem dienen, daß wir nicht auf sie achthaben. Sonst ist das Außerordentliche nicht mehr das Außerordentliche der Nachfolge, sondern das Außerordentliche eines eigenen Wollens und Gelüstens.

Wie ist dieser Widerspruch zu verstehen? Wir fragen erstens: Wem soll das Sichtbare der Nachfolge verborgen sein? nicht den anderen Menschen, sie sollen vielmehr das Licht des Jüngers Jesu leuchten sehen, wohl aber dem, der das Sichtbare tut, soll es verborgen sein. Er soll in der Nachfolge bleiben und auf den sehen, der ihm vorangeht, nicht aber auf sich selbst und das was er tut. Der Nachfolgende ist sich selbst verborgen in seiner Gerechtigkeit. Natürlich sieht er das Außerordentliche auch, aber er bleibt sich selbst darin verborgen; er sieht es nur, indem er auf Jesus sieht, und hier eben sieht er es nicht mehr als das Außerordentliche, sondern als das Selbstverständliche, Reguläre. So ist ihm das Sichtbare in der Tat verborgen, nämlich im Gehorsam gegen das Wort Jesu. Wäre ihm das Außerordentliche als Außerordentliches wichtig, so handelte er schwärmerisch aus eigner Gewalt, aus dem Fleisch heraus. Weil aber der Jünger Jesu im schlichten Gehorsam gegen seinen Herrn handelt, darum kann er das Außerordentliche nur als die selbstverständliche Tat des Gehorsams sehen. Es kann ja nach dem Wort Jesu nicht anders sein, als daß der Nachfolgende das Licht ist, das leuchtet, er tut gar nichts dazu, er ist es eben in der Nachfolge, die nur auf den Herrn sieht. Also gerade weil das Christliche notwendig, d.h. indikativisch, das Außerordentliche ist, darum ist es zugleich das Reguläre, Verborgene. Es ist eben sonst nicht das Christliche, der Gehorsam gegen den Willen Jesu Christi.

Wir fragen zweitens: Worin besteht denn nun im Inhalt des Handelns in der Nachfolge die Einheit von Sichtbarem und Verborgenem? Wie kann denn das-selbe Ding zugleich sichtbar und verborgen sein? Wir brauchen bei der Antwort nur auf das zurückgreifen, was sich im 5. Kapitel ergab. Das Außerordentliche, das Sichtbare ist das Kreuz Christi, unter dem die Jünger stehen. Das Kreuz ist zugleich das Notwendige, Verborgene und das Sichtbare, Außerordentliche.

Wir fragen drittens: Wie löst sich also die Paradoxie zwischen dem 5. und dem 6. Kapitel? Der Begriff der Nachfolge selbst löst sie. Sie ist die alleinige Bindung an Jesus Christus. So sieht der Nachfolgende immer nur seinen Herrn und folgt ihm. Sähe er das Außerordentliche selbst, so stünde er schon nicht mehr in der Nachfolge. Der Nachfolgende tut im schlichten Gehorsam den Willen des Herrn als das Außerordentliche und weiß in allem nur darum, daß er nicht anders kann, daß er also das schlechthin Selbstverständliche tut.

Die einzige und gebotene Reflexion des Nachfolgenden geht darauf, ganz unwissend, ganz unreflektiert zu sein im Gehorsam, in der Nachfolge, in der Liebe. Tust du Gutes, so laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut. Du sollst dein eigenes Gutes nicht wissen. Sonst ist es wirklich dein Gutes, aber nicht das Gute Christi. Das Gute Christi, das Gute in der Nachfolge geschieht ohne Wissen. Das echte Werk der Liebe ist immer das mir verborgene Werk. Habt acht darauf, daß ihr es nicht wißt! Nur so ist es das Gute Gottes. Will ich mein Gutes, meine Liebe kennen, so ist es schon nicht mehr Liebe. Auch die außerordentliche Liebe zum Feind bleibt dem Nachfolgenden verborgen. Er sieht den Feind ja nicht mehr als Feind, wenn er liebt. Diese Blindheit oder vielmehr dieser durch Christus erleuchtete Blick des Nachfolgenden ist seine Gewißheit. Die Verborgenheit seines Lebens vor sich selbst ist seine Verheißung.

Der Verborgenheit entspricht die Öffentlichkeit. Es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde. Das ist von Gott her so, vor dem alles Verborgene schon offen-bar ist. Gott will uns das Verborgene zeigen, sichtbar machen. Die Öffentlichkeit ist der von Gott geordnete Lohn der Verborgenheit. Die Frage ist nur, wo und von wem der Mensch diesen Lohn der Öffentlichkeit empfängt. Begehrt er diese Öffentlichkeit vor Menschen, so hat er mit ihr seinen Lohn dahin. Es ist dabei kein Unterschied, ob er sie in der groben Form der Öffentlichkeit vor anderen Menschen oder in der feineren Form der Öffentlichkeit vor sich selbst sucht. Wo die linke Hand weiß, was die rechte tut, wo ich mein verborgenes Gutes vor mir selbst ans Licht bringe, wo ich um mein eigenes Gutes wissen will, dort bereite ich mir selbst schon den öffentlichen Lohn, den Gott mir vorbehalten wollte. Ich bin es, der sich das eigene Verborgene zeigt. Ich warte nicht, bis es Gott selbst mir zeigt. So habe ich meinen Lohn dahin. Wer aber in der Verborgenheit vor sich selbst beharrt bis ans Ende, der wird den Lohn des Offenbarwerdens von Gott empfangen. Wer aber kann so leben, daß er das Außerordentliche in der Verborgenheit tut? daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut? Was für eine Liebe ist das, die nicht um sich selbst weiß, sondern verborgen bleiben kann vor sich selbst bis zum jüngsten Tag? Es ist deutlich: Weil sie verborgene Liebe ist, kann sie nicht eine sichtbare Tugend, ein Habitus des Menschen sein. Habt acht – heißt es –, daß ihr die wahre Liebe nicht verwechselt mit einer liebens-würdigen Tugend, mit einer menschlichen „Qualität“! Sie ist ja die selbstver-gessene Liebe im echten Sinne des Wortes. In dieser selbstvergessenen Liebe aber muß der alte Mensch mit allen seinen Tugenden und Qualitäten sterben. In der selbstvergessenen, an Christus allein gebundenen Liebe des Jüngers stirbt der alte Adam. In dem Satz: laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, ist der Tod des alten Menschen verkündigt. Also noch einmal: Wer kann so leben, daß er Kapitel 5 und 6 vereint? Keiner als der, der nach seinem alten Menschen gestorben ist durch Christus und in seiner Gemeinschaft der Nach-folge ein neues Leben gefunden hat. Liebe als Tat des schlichten Gehorsams ist das Sterben am alten Menschen, der sich wiedergefunden hat in der Gerechtig-keit Christi und im Bruder. Nun lebt nicht mehr er, sondern Christus lebt in ihm. Die Liebe Christi des Gekreuzigten, der den alten Menschen in den Tod gibt, ist es, die in dem Nachfolgenden lebt. Nun findet er sich nur noch in Christus und im Bruder.

 

- FORTSETZUNG -