Vergebung

Vergebung

Im Neuen Testament geht es oft um „Vergebung“. Vergebung ist uns geboten, Vergebung sollen wir üben und sollen dabei barmherzig sein, wie Gott auch uns gegenüber barmherzig ist. Denn schließlich hat uns Jesus im Vaterunser gelehrt, das eine mit dem anderen zu verknüpfen: „Vergib uns unsere Schuld...“, beten wir, „...wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Gott ist freudig bereit, uns zu vergeben wie dem verlorenen Sohn, als er nach Hause kam. Aber daraus folgt dann, dass wir solche Freundlichkeit und Milde auch weiterzugeben haben an die, die uns etwas schulden. Denn man kann nicht für die eigene Person von Gottes Vergebung leben – und gleichzeitig anderen genau diese Vergebung verweigern. Versöhnt mich Gott mit ihm, so kann er erwarten, dass ich auch meinem Mitmenschen die Hand zur Versöhnung reiche. Und das verpflichtet Christen, der Weisung Jesu zu folgen, der auf die Frage des Petrus, wie oft er denn seinem Bruder vergeben müsse – ob sieben mal genug sein? – antwortete: Nein, siebzig mal sieben mal solle er vergeben! So könnte man also meinen, wir wären mit dem Thema schnell fertig, weil offenkundig ist, was von uns erwartet wird. Und doch tun sich, Probleme auf. Denn zum einen regen sich moralische Bedenken: Man fragt sich, ob es wirklich eine gute Idee ist, jedem Schuft alles von vornherein zu vergeben. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Und zum anderen kann der Vorgang der Vergebung ganz verschieden aufgefasst werden. Wenn ich nämlich jemand von seiner Schuld befreien will, kann ich das auf zweierlei Weise tun. Ich kann dem Betreffenden entweder die Konfrontation mit seiner Schuld ersparen und großzügig darüber hinwegsehen als wäre nichts gewesen. Oder ich kann ihn mit seiner Tat konfrontieren und sie ihm erst dann, wenn er sie bereut hat, ausdrücklich verzeihen. Und dass das einen großen Unterschied macht, weiß jeder, der sich noch an seine Kindheit erinnert.

Nehmen wir an, ein Kind hätte beim wilden Ballspielen im Garten ein Blumenbeet zertrampelt. Nehmen wir an, es sei ihm vorher verboten worden, gerade dort beim Blumenbeet Fußball zu spielen. Wenn die Eltern nun entdecken, dass das Kind die getroffene Vereinbarung ignoriert und das Beet ruiniert hat, was sollen sie dann tun? Sollen sie beide Augen zudrücken und das Ganze mit Schweigen übergehen, um dem Kind die Peinlichkeit des Ertapptwerdens zu ersparen? Ist es das, was christliche Milde und Vergebungsbereitschaft von uns fordert, ist das Barmherzigkeit, den Schaden großzügig zu ignorieren? Oder sollen die Eltern das Kind zur Rede stellen, ihm den angerichteten Schaden vorhalten, Einsicht, Schuldbewusstsein und Reue wecken, um dem Kind erst danach zu verzeihen? Entspricht also das eher der christlichen Milde und Vergebungsbereitschaft, wenn ich jemandem das Eingeständnis seines Fehlers erspare oder wenn ich seine Entschuldigung abwarte, um sie dann bereitwillig anzunehmen? Dass der Schuldige die erste Variante angenehmer findet, dürfte klar sein. Aber es besagt nicht viel. Denn habe ich etwas angestellt, ist es mir natürlich lieber, wenn der Geschädigte die Sache gar nicht erst anspricht. Ich komme dann um eine peinliche Situation herum, ich komme ungeschoren davon! Doch bleibt die Sache immer ein wenig unklar, weil ich ja nicht weiß, ob der Geschädigte meine Schandtat wirklich aus Freundlichkeit „übersehen“ hat, oder einfach weil er zerstreut ist! Hat er’s aber gemerkt und schweigt trotzdem, so kann das entweder bedeuten, dass der Geschädigte tolerant und milde sein will, oder dass mein Verhalten in Wirklichkeit gar nicht so schlimm war, wie ich dachte. Ja: Wird mein Fehler mit Schweigen übergangen, war es vielleicht gar kein Fehler, oder der Geschädigte war zu dumm, um ihn zu bemerken, oder er wollte mich nicht bloßstellen, oder das Donnerwetter kommt erst später, oder auch gar nicht – viele Erklärungen sind möglich! Wenn ich aber nicht weiß, welche zutrifft, und nur dies erfahre, dass ich nicht zur Rechenschaft gezogen werde, so kann mich das ermutigen, die Untat zu wiederholen. Stoße ich immer wieder auf Nachsicht, wird mein Unrechtsbewusstsein bald schwinden! Verfährt der Geschädigte hingegen anders und konfrontiert mich mit den Folgen meines Tuns, um mir erst dann zu verzeihen, wenn ich Einsicht zeige und Besserung gelobe, so ist das im ersten Moment zwar unangenehmer, zugleich aber klarer und von höherem erzieherischen Wert. Denn es ist zwar peinlich, wenn mir der Geschädigte die zertretenen Blumen zeigt, wenn ich seine Traurigkeit, seinen Zorn und seine Enttäuschung aushalten muss! Aber zumindest habe ich dann die Gewissheit, dass der Andere die geltenden Regeln ernst nimmt. Ich gewinne Klarheit über seine Motive und Klarheit über die künftige Beziehung, denn nach erfolgter Versöhnung ist die Sache ja wirklich erledigt und ausgeräumt. So macht es einen gewaltigen Unterschied, ob ich das Gefühl habe, ich sei mit einem Fehlverhalten bloß irgendwie ungeschoren davongekommen, oder ob ich ertappt, überführt und nach reinigendem Gewitter begnadigt wurde. Es macht einen Unterschied, ob mein Handeln einfach „folgenlos“ bleibt, oder ob es mir ausdrücklich verziehen wird. Und ich glaube, man muss nicht lange überlegen, um zu erkennen, dass Letzteres die sinnvollere Variante ist. Ja, allein das zweite Verfahren kann uns als Muster dienen für Vergebung im christlichen Sinne. Denn wenn man stillschweigend über die Dinge hinwegsieht und Fünfe gerade sein lässt, mag das zwar bequemer sein – es erspart beiden Seiten die Auseinandersetzung. Aber es läuft darauf hinaus, dass die vereinbarte Norm relativiert und faktisch außer Kraft gesetzt wird. Einfach Wegzuschauen, wenn jemand falsch handelt, und sein Unrecht damit still zu dulden, hat in Wahrheit nichts mit Nächstenliebe zu tun – auch nicht mit Barmherzigkeit, Milde oder Toleranz –, sondern viel eher mit Bequemlichkeit. Ja, wenn wir Regelverletzungen einfach hinnehmen und lieber wegschauen als zu protestieren, dann sind wir nicht liberal oder großherzig, sondern demonstrieren bloß, dass wir zu gleichgültig sind, um die Einhaltung der Regeln einzufordern. Wir scheuen den Konflikt und nennen das vielleicht „Milde“. Doch mit Vergebung im christlichen Sinne hat solche Nachgiebigkeit nicht das Geringste zu tun. Denn Vergebung im christlichen Sinne setzt voraus, dass es etwas zu vergeben gibt – und dass beide Seiten darum wissen.

Oder ist es etwa zwischen Gott und den Menschen anders? Besteht etwa Gottes Liebe und Vergebungsbereitschaft darin, dass er wegschaut und beide Augen zudrückt, Fünfe gerade sein lässt und so tut, als wäre nichts gewesen? Oder meinen sie, dass Gott denen Vergebung nachwirft, die ihn um diese Vergebung gar nicht bitten? Meinen sie, es könnte jemand vergeben werden, was er gar nicht für Schuld hält, sondern für sein gutes Recht? Meinen sie, das große Angebot der Sündenvergebung sollte den Ernst menschlicher Schuld überspielen oder Gottes Gesetz relativieren? Wahrlich, nein – so ist das nicht! Und es ist wichtig, sich das klar zu machen. Denn was wir von Gott erwarten dürfen ist Liebe, was wir aber nicht von ihm erwarten sollten ist Nachgiebigkeit. Und beides zu unterscheiden, ist fundamental wichtig. Denn wenn wir Gottes Vergebungsbereitschaft an diesem Punkt missverstehen, als ein Wegschauen oder als eine Schwäche, so als ob Gott „das mit den Zehn Geboten“ mal nicht so „eng“ sehen wollte, dann werden wir Gott selbst missverstehen. Wenn das Neue Testament sagt, dass Gott Liebe ist, dann heißt das beileibe nicht, er sei nachgiebig. Und wenn das Neue Testament sagt, dass Gott „Barmherzigkeit“ übt, heißt das nicht, er nehme Sünde auf die leichte Schulter. Vielmehr ist Gottes Gnade niemals Gnade ohne Gericht, sondern immer Gnade im Gericht. Seine Liebe ist niemals Liebe ohne Strenge, sondern immer Liebe inmitten der Strenge. Und Gottes Normen werden dadurch, dass er vergibt, auch nicht ermäßigt, sondern werden gerade durch diese Vergebung unterstrichen und bekräftigt, weil Vergebung ja nur dort nötig und möglich ist, wo Normen in Geltung stehen.

Gott ist nicht der gute Onkel, dem die Kinder sein Blumenbeet verwüsten, und der aus lauter Nettigkeit darüber hinwegsieht, damit sie ihn weiter für einen guten Onkel halten. Gott hat nicht die Absicht, uns Einsicht und Reue zu ersparen – und er will gewiss nicht vergeben, wo wir uns ihm gegenüber im Recht wähnen. Er wird nicht vergeben, wo das nicht erbeten wird. Und er wird nicht den Spöttern eine Vergebung hinterherwerfen, die sie gar nicht für nötig halten. Gott leidet nicht unter dem Zwang, allem und jedem ungefragt und pauschal vergeben zu müssen. Sondern seine Gnade besteht darin, dass er die, die zerbrochenen Herzens und schuldbewusst nach Hause kommen wie der verlorene Sohn, mit Freuden aufnimmt und ihnen inneren Frieden schenkt durch sein herzliches Verzeihen. Gottes Gnade gilt denen, die wissen, dass sie der Gnade bedürfen, nämlich den Mühseligen und Beladenen. Seine Gnade geht die Stolzen nichts an, sondern nur die Gescheiterten. Und allein darin liegt dann auch die Norm und das Vorbild für die Vergebung, die wir praktizieren sollen. Denn auch wir müssen nicht im Voraus denen vergeben, die an uns schuldig werden und sich dabei noch im Recht fühlen. Auch wir müssen niemandem Vergebung hinterherwerfen, der sie gar nicht haben will und der sich darüber totlacht. Es ist nicht prinzipiell christlich, nachgiebig zu sein! Aber dem freilich, der Vergebung ehrlichen Herzens erbittet, dem können wir sie als Christen nicht verweigern – auch wenn er sieben mal siebzig mal, uns gegenüber schuldig wird. Wehe uns, wenn wir dem nicht verzeihen wollten wie Christus uns verziehen hat! Der Spötter aber, der von uns verlangt, im Namen der Liebe seine freches Treiben zu übersehen oder mit Nachsicht zu bemänteln, hat das Evangelium schlicht nicht verstanden. Wenn so einer meint, Jesus habe Gottes Gebote locker genommen, dann kennt er einfach Jesus nicht, und muss auf seinen Irrtum hingewiesen werden! Doch wo ein Mensch sein Scheitern erkennt und bekennt, da haben wir ihm freudig zu vergeben, und haben ihn anzunehmen, wie Christus auch uns angenommen hat. Wo es einem Leid tut, haben wir kein Recht nachtragend zu sein, sondern sollten uns beeilen, diese Last der Schuld von seinen Schultern zu nehmen und ihn als unseren Bruder zu umarmen. Doch seiner Einsicht vorzugreifen, indem wir eilfertig etwas vergeben, worin der Schuldige gar keine Schuld sieht – das ist Unfug und wird ihn bloß ermutigen, so weiter zu machen.

Es gibt also zweierlei Vergebung. Es gibt eine Vergebung, durch die die verletzte Norm vergleichgültigt wird, weil Opfer und Täter gemeinsam so tun, als wäre nichts passiert. Es gibt aber auch eine Vergebung, die die verletzte Norm bekräftigt und ihre Gültigkeit bestätigt, weil die Verfehlung beim Namen genannt und nach schmerzlicher Klärung verziehen wird. Nur dies letzte verdient, Vergebung genannt zu werden. Und nur dies ist christlich. Denn nur dies entspricht der Vergebung, die wir von Gott erfahren. Es gibt nämlich auch bei Gott keine Gnade am Gericht vorbei, sondern nur Gnade im Gericht. Es gibt auch bei ihm keine Versöhnung auf Kosten der Wahrheit, sondern immer nur Versöhnung auf der Grundlage der Wahrheit. Es gibt bei Gott keinen Frieden auf Kosten der Gerechtigkeit, sondern nur Frieden in Gerechtigkeit. Dass wir es aber darin genauso halten wie er – dazu helfe uns unser Gott...

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Prodigal Son

Honoré Daumier / National Gallery of Art, CC0, via Wikimedia Commons