Ehrfurcht vor dem Leben
The Sick Chicken

Ehrfurcht vor dem Leben

Albert Schweitzer, der berühmte Theologe, Konzert-Organist und Urwalddoktor, konnte seine wichtigste Einsicht in einem einzigen Satz zusammenfassen: „Ich bin Leben, das Leben will, inmitten von Leben, das auch leben will.“ Aus dieser schlichten Erkenntnis, dass ein gemeinsamer Lebensimpuls alle Geschöpfe verbindet, folgerte Schweitzer, dass der Mensch fremdem Leben dieselbe Achtung entgegenbringen sollte, die er für sein eigenes Leben beansprucht. Denn schließlich ist das Leben des Regenwurmes genau wie das des Menschen vom Schöpfer gewollt und bejaht. Alles Leben kommt von Gott. Darum sollten wir auch in der geringsten Kreatur den ehren, der sie gemacht hat! Doch freilich: Wo findet sich in unserer Gesellschaft die von Schweitzer geforderte „Ehrfurcht vor dem Leben“? Ist sie nicht zu einer seltenen Tugend geworden? Denken wir an die Tierversuche in den Laboren. Oder an die Massentierhaltung in der Landwirtschaft. Denken wir an die Military-Reitwettbewerbe, denen immer wieder Pferde zum Opfer fallen. Und vergessen wir nicht die hohe Abtreibungsquote in unserem Land!

Hat sich unsere Gesellschaft nicht längst daran gewöhnt, Leben als einen „Produktionsfaktor“ zu betrachten, Leben zu züchten, zu manipulieren, zu patentieren, es auszubeuten und bei Nichtgefallen wegzuwerfen? Für „Ehrfurcht“, die das Leben als Geschenk Gottes achtet und schützt, bleibt da wenig Platz. Und es herrscht ein Ungeist, der Lebendiges den menschlichen Verwertungsinteressen nach Belieben unterwirft. Denn wer sich daran gewöhnt hat, rein wirtschaftlich zu denken, wird kaum Hemmungen haben, Leben auszulöschen, wenn es seinen Gebrauchswert verliert. Dass das nicht richtig ist, wissen viele. Und solange es um Wale oder Robben geht, protestieren sie auch. Doch wenn wir auf uns selbst schauen, sind wir dann so unschuldig, wie wir uns gerne geben? Müssen wir dann nicht gestehen, dass auch uns der Respekt vor fremdem Leben nicht angeboren ist?

Ich zumindest muss gestehen, dass mir das Töten und Quälen nicht immer Probleme bereitet hat. Als ich 11 oder 12 war, entdeckte ich im Garten eine Ameisenstraße. Und weil ich nichts Besseres zu tun hatte, machte ich mir ein Vergnügen daraus, Plastikabfälle anzuzünden und die Ameisen mit Tropfen von brennendem Plastik zu bombardieren. Ich beobachtete, wie einige Ameisen ganz in den Tropfen verschwanden, andere knapp davonkamen und wiederum andere mit einem Teil ihres Körpers in der glühenden Masse steckenblieben, während der Rest des Körpers weiter zappelte. Inzwischen denke ich mit Abscheu an dieses böse „Spiel“. Und doch gibt es auch heute Kinder, die mit großer Gleichgültigkeit Spinnen die Beine ausreißen.

Ganz offenkundig ist die „Ehrfurcht vor dem Leben“ dem Menschen nicht angeboren. Sie muss erlernt werden – und kann erlernt werden, wenn sich ein Geschöpf im anderen wiedererkennt. Albert Schweitzers Satz kann uns diesbezüglich die Augen öffnen: „Wir sind Leben, das leben will, inmitten von Leben, das auch leben will.“ Aus dieser Einsicht dann aber Konsequenzen zu ziehen und einen „geschwisterlichen“ Umgang mit allen Geschöpfen zu pflegen, ist schon deshalb schwer, weil uns die Natur ein denkbar schlechtes Vorbild gibt: „Warum so sentimental?“ rufen die Darwinisten. Ist es nicht ein Grundgesetz der Natur, dass der Wille zum Leben ständig mit sich selbst in Konflikt gerät, weil der Lebenswille der einen Kreatur dem der anderen widerspricht? Muss es nicht so sein? Die Katze lebt schließlich auf Kosten der Mäuse. Der Vogel lebt auf Kosten der Würmer. Der Hecht lebt auf Kosten der kleinen Fische. Und wir Menschen? Können wir uns dem etwa entziehen?

Es scheint tatsächlich, als müsse immer einer untergehen, damit ein anderer leben kann. Mittlere Betriebe schlucken kleine, und werden selbst von Großkonzernen kaputtgemacht. Realschüler verdrängen Hauptschüler vom Arbeitsmarkt, und müssen selbst den Abiturienten weichen. Es scheint, als hätten wir nur die Wahl, zu unterdrücken oder unterdrückt zu werden, zu verdrängen oder verdrängt zu werden, zu fressen oder gefressen zu werden. Und wenn es denn so mit der Welt steht, dass ein Mensch entweder Hammer oder Amboss sein muss, so wollen die meisten doch lieber Hammer sein. Wenn man diesen Entschluss aber erst einmal gefasst hat – wo bleibt dann die Ehrfurcht vor dem Leben der anderen Geschöpfe, die Gott doch genauso gewollt und geschaffen hat wie mich? Wird diese Ehrfurcht nicht das erste Opfer sein im großen Verdrängungskrieg aller gegen alle?

Es hilft hier alles nichts: Will der Mensch wahrhaft menschlich leben, so kann er dem Beispiel der Natur nicht einfach folgen, sondern muss sich der Logik des „Fressen und gefressen werden“ so weit wie möglich entziehen. Als Mensch mit Kultur (und erst recht als Christ!) kann er mit fremden Leben nicht rücksichtslos umgehen. Denn wenn der Schöpfungsglaube keine leere Floskel sein soll, und Gottes Kreaturen wirklich unsere Geschwister und Mitgeschöpfe sind, dann dürfen wir sie nicht zu bloßen Verbrauchsmitteln degradieren. Vielmehr müssen schon die Kinder lernen, dass wer sich an Lebendigem vergreift, sich an Gottes Eigentum vergreift. Und die Erwachsenen müssen vorleben, wie man den Schöpfer achtet, indem man seine Geschöpfe schont und achtet.

Christliche Ethik tritt hier in offenen Gegensatz zu den Gesetzen der Ökonomie und auch der Biologie, weil sie den traurigen Normalzustand dieser Welt, nicht als einen legitimen (und schon gar nicht als einen „gottgegebenen“) Zustand akzeptiert. Denn das leidige „Fressen und gefressen werden“ ist eine Hausordnung, die erst mit dem Sündenfall in diese Welt eingeführt wurde. Wir sind zwar leider nicht in der Lage, diese Ordnung ganz außer Kraft zu setzen. Aber immerhin können wir im Rahmen unserer Möglichkeiten dagegen angehen, indem wir Verhältnisse schaffen, in denen keiner auf Kosten anderer lebt.

Gott will nämlich nicht, dass wir Hammer sind. Und er will auch nicht, dass wir Amboss sind. Sondern er will, dass alle seine Geschöpfe einander Helfer und Freunde sind. Weil das aber nicht durch große Sprüche Wirklichkeit wird, sondern durch kleine Taten, will ich an dieser Stelle visionäre Worte Albert Schweitzers zitieren. Mancher einer wird sie lächerlich und weltfremd finden. Ich aber meine, dass sie eine Achtsamkeit beschreiben, um die wir uns dringend bemühen sollten. Albert Schweitzer schreibt:

„Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgend etwas Lebendigem Schaden zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig. Er reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat acht, dass er kein Insekt zertritt. Wenn er im Sommer nachts bei der Lampe arbeitet, hält er lieber das Fenster geschlossen und atmet dumpfe Luft, als dass er Insekt um Insekt mit versengten Flügeln auf seinen Tisch fallen sieht. Geht er nach dem Regen auf der Straße und erblickt den Regenwurm, der sich darauf verirrt hat, so bedenkt er, dass er in der Sonne vertrocknen muss, wenn er nicht rechtzeitig auf Erde kommt, in der er sich verkriechen kann, und befördert ihn von dem todbringenden Steinigen hinunter ins Gras. Kommt er an einem Insekt vorbei, das in einen Tümpel gefallen ist, so nimmt er sich die Zeit, ihm ein Blatt oder einen Halm zur Rettung hinzuhalten. Er fürchtet sich nicht, als sentimental belächelt zu werden. Es ist das Schicksal jeder Wahrheit, vor ihrer Anerkennung ein Gegenstand des Lächelns zu sein. Einst galt es als eine Torheit, anzunehmen, dass die farbigen Menschen wahrhaft Menschen seien und menschlich behandelt werden müssten. Die Torheit ist zur Wahrheit geworden. Heute gilt es als übertrieben, die stete Rücksichtnahme auf alles Lebendige bis zu seinen niedersten Erscheinungen herab als Forderung einer vernunftgemäßen Ethik auszugeben. Es kommt aber die Zeit, wo man staunen wird, dass die Menschheit so lange brauchte, um gedankenlose Schädigung von Leben als mit Ethik unvereinbar einzusehen.“

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Sick Chicken

Winslow Homer, Public domain, via Wikimedia Commons