Beharrlichkeit
Der Mensch wird im Allgemeinen gerne gelobt. Er freut sich, wenn man ihm nachsagt, er sei ehrlich und hilfsbereit, gerecht und fleißig. Denn das sind Tugenden. Und wenn man sie uns zuschreibt, fühlen wir uns geschmeichelt. Aber wie ist das eigentlich mit der „Beharrlichkeit“? Ist das auch ein Lob, wenn die Leute sagen: „Der ist beharrlich in allem, was er tut – der lässt so schnell nicht locker“? Es klingt erst mal nach Entschlossenheit, Willenskraft und Durchhaltevermögen. Denn der Beharrliche hält unbeirrt und ausdauernd an seinen Plänen fest. Er lässt sich von Rückschlägen nicht beeindrucken. Er zieht das durch, was er sich vorgenommen hat. Aber ist das in jedem Fall eine Tugend? Grenzt „Beharrlichkeit“ nicht auch an „Sturheit“ und „Starrsinn“? Wenn einer „unbelehrbar“ ist, kann das ganz ähnlich wirken wie „Beharrlichkeit“. Aber vielleicht ist er bloß ein Dickschädel, der allen Widerständen und Warnungen zum Trotz wie ein Panzer durchs Leben geht, der großen Schaden anrichtet – und dennoch ohne Rücksicht seinen Kurs beibehält! Vielleicht ist der Beharrliche auch einfach nur dumm, so dass er nicht sieht, dass es bessere Alternativen gäbe! Und vielleicht ist er sogar beharrlich im Bösen, weil man doch zweifellos auch böse Pläne beharrlich verfolgen kann! So einer hält sich selbst für „standhaft“ und „zielstrebig“, „unbeugsam“, „unermüdlich“ und „konsequent“. Aber die anderen nennen ihn einfach nur „verbissen“, „vernagelt“ und „verbohrt“. Er denkt, er zeige Stehvermögen, weil er sich treu bleibt und einen so festen Charakter hat. Die anderen aber sagen, er habe sich nur komplett verrannt und sei nicht in der Lage, seinen Irrtum einzusehen. Wie ist das also? Ist Beharrlichkeit eine Tugend? Kann man sie immer loben? Offenbar muss man es an Bedingungen knüpfen. Zum Ersten müssen wir festhalten, dass Beharrlichkeit keine Tugend ist, wenn sie lediglich auf einem Mangel an Alternativen beruht. Denn die Fliege, die im Sommer hinter einer Fensterscheibe gefangen ist und tausendmal dagegen fliegt, bevor sie zugrunde geht, ist eigentlich nicht beharrlich, sondern hat einfach nur keinen „Plan B“ – und versucht darum immer wieder dasselbe. Und zum Zweiten ist natürlich auch Beharrlichkeit im Bösen nicht lobenswert. Denn beharrliches Lügen und Betrügen ist nicht besonders gut, sondern besonders schlecht. Argumenten gegenüber uneinsichtig zu sein und trotzdem Recht haben zu wollen, ist nicht Charakterstärke, sondern Sturheit. Und so ist Beharrlichkeit nur dort wirklich eine Tugend, wo der Mensch vom Ziel ablassen und ausweichen könnte (weil er Alternativen hat), wo er es aber (allen Rückschlägen und Schmerzen zum Trotz) nicht tut, weil das gute Ziel seinen Einsatz wert ist. Der zeigt verständige Beharrlichkeit, der seine Kraft in einen guten Plan investiert und sich um der Sache willen nicht davon abbringen lässt. Und doppelten Lobes ist es wert, wenn er dabei Gutes nicht für sich selbst, sondern für andere erstrebt. Denn dann stellt sich die Beharrlichkeit in den Dienst der Liebe, die nicht den eigenen Vorteil sucht, sondern darauf aus ist, dem Nächsten zu helfen. Ja, das wegzuräumen, was dem Heil anderer im Wege steht – das ist rechte Beharrlichkeit, darin sollte man hartnäckig sein! Und wenn wir dafür ein gutes Beispiel suchen, müssen wir nur auf Jesus schauen. Denn der ging von Anfang an zielstrebig den Weg, der ihm am Ende den Tod und uns das Leben brachte, schaute dabei nicht links und nicht rechts – und ließ sich von seiner Sendung durch nichts ablenken. Gottes Sohn wurde aller Menschen Bruder, obwohl er schon vorher wusste, dass wir ihn am Ende kreuzigen würden (Mk 8,31; 9,31; 10,32-34). Und obwohl ihm das klar war, blieb er auf Kurs. Der Satan selbst führte ihn in Versuchung, um ihn von seinem Weg abzubringen. Jesus aber widerstand ihm beharrlich und wich nicht einen Millimeter (Mt 4,1-11). Er musste erleben, wie Johannes der Täufer gefangen genommen und hingerichtet wurde (Mt 11,1-15; 14,1-12). Aber er tat nichts, um so einem Schicksal zu entgehen. Jesus war ständigen Anfeindungen der Pharisäer ausgesetzt. Er wurde verdächtigt, einen politischen Umsturz zu planen. Man unterstellte ihm, mit dem Satan im Bunde zu sein (Mt 12,24). Und bald wusste er, dass man ihm nach dem Leben trachtet. Doch hat er nicht versucht, seine Haut zu retten, und mit seinen Gegnern keinen faulen Frieden geschlossen. Jeder wusste, wie sehr ihn das in Gefahr bringt. Und doch provoziert er die Schriftgelehrten und die Hohepriester (Mt 23,1-36; 21,12-17). Viele werden ihn gewarnt haben: „Sei doch nicht immer so ehrlich, so direkt und kompromisslos – du redest dich ja um Kopf und Kragen!“ Aber Jesus zögert und zaudert nicht. In der Provinz wäre er sicherer gewesen als in der Hauptstadt Jerusalem. Jesus treibt aber den Konflikt auf die Spitze und geht mitten hinein in die Höhle des Löwen. Petrus will Einwände erheben, damit Jesus nicht in sein Unglück läuft, der aber weist ihn streng zurecht (Mt 16,22-23). Unter Jubel zieht Jesus nach Jerusalem hinein, weiß aber längst, dass ihn die Mehrheit des Volkes missversteht, und der aufgewiegelte Mob ihn bald hassen wird. Er rechnet damit, dass man falsche Zeugen gegen ihn aufstellt, weicht aber nicht aus. Er erkennt Judas als den Verräter, hindert ihn aber nicht an seinem Tun (Mt 26,20-25). Im Garten Gethsemane spürt er sehr reale Todesangst, nimmt aber den Kelch des Leides an, weil das um unsertwillen nötig war. Als Judas mit den Soldaten kommt, hätte sich Jesus immernoch der Verhaftung entziehen können (Mt 26,51-54). Er bleibt aber bei seinem Plan. Er sieht all seine Jünger davonlaufen und weiß auch, dass Petrus ihn bald verleugnen wird. Er bleibt seiner Sendung aber treu. Jesus hätte sich Pilatus gegenüber viel geschickter verteidigen können, will das aber nicht und schweigt (Mt 27,11-14). Statt die römischen Soldaten zu verfluchen, betet er für sie. Und obwohl er noch zuletzt die Macht gehabt hätte, vom Kreuz herabzusteigen, sehen wir kein Schwanken und kein Abweichen von dem bewusst gewählten Weg. Ja, das ist „Beharrlichkeit“! Denn Jesus war nicht wie die Fliege hinter der Fensterscheibe. Er hätte jederzeit Alternativen gehabt und hätte sagen können: „Nein danke, ihr Sünder, tragt euren Fluch mal bitte alleine! Löffelt selbst aus, was ihr euch eingebrockt habt!“ Doch nichts davon. Jesus verfolgt zielstrebig den Weg, der ihm den Tod und uns das Leben bringt – ja zum eigenen Nachteil sucht er beharrlich unseren Vorteil. Er stellt sicher, dass auf seine Kosten alles erfüllt wird, was zu unsrer Erlösung nötig ist. Er trinkt den Kelch des Leides bis zur Neige und erspart sich nichts, will selbst verworfen werden, damit wir erwählt werden können. Wer von uns aber könnte sich da hineinversetzen? Ach, wir sind vielleicht zielstrebig darin, uns einen Traum zu erfüllen! Beharrlichkeit im eigenen Interesse kennen wir schon! Jesus aber geht beharrlich den Weg in den Tod. Den Jüngern wär’s lieber gewesen, er hätte sich geschont. Er aber darf das nicht wollen – und will es um unsertwillen nicht, denn die Schrift und die Propheten müssen erfüllt werden (Mt 21,42; 26,54; Mk 14,49; Lk 24,25-27). Es muss ein Lamm geben, das sich opfert, um die Sünde der Welt zu tragen, sonst kann das Reich Gottes nicht kommen (Joh 1,29.36; Offb 7,14; 12,11; 14,1-5). Und so gerät Christus nicht aus der Spur. Sollten sie nun aber erschrecken und denken, ähnliches werde auch von ihnen erwartet, so kann ich sie beruhigen. Denn nicht diese Beharrlichkeit wird von uns erwartet, mit der Christus auf sein Kreuz zusteuert – die war einzigartig. Aber die umgekehrte Beharrlichkeit, von Christi Kreuz und von seiner Entschlossenheit zu profitieren, die Beharrlichkeit nämlich, im Maße seines Gebens auch zu nehmen – die wird von uns in der Tat erwartet. Denn wie anders sollte die Gnade, die Christus durch seine Beharrlichkeit im Leiden für uns erworben hat, uns zugute kommen, wenn wir nicht beharrlich wären in dem Glauben, der diese Gnade empfängt? Wer so reichlich geben will wie Christus, braucht auch einen, der nimmt. Wer erlösen will, braucht Menschen, die sich erlösen lassen – sonst ist seine Mühe vergeblich! Und so fordert das Neue Testament von uns Beharrlichkeit im Glauben. Denn wenn wir’s daran fehlen ließen, zögen wir aus Christi Hingabe keinen Nutzen und machten damit seine Mühe zunichte. Ja, sein Erbarmen wäre (was meine eigene Person betrifft) vergeblich gewesen, wenn ich mich dem entzöge, was er an mir tun will. Christus kann nur mein Fürsprecher sein, wenn ich ihm dabei nicht im Wege stehe. Das ganze Evangelium nützt nur dem Gläubigen, der es dankbar für sich in Anspruch nimmt. Und so fordert das Neue Testament von uns zwar nicht die Beharrlichkeit Christi, mit der er auf seine Kosten unseren Vorteil sucht. Es fordert von uns aber die dem entsprechende Beharrlichkeit im Glauben, die zum eigenen Vorteil an Christus festhält. Wir lesen: „Wer bis an das Ende beharrt, der wird selig werden“ (Mt 10,22; 24,13). Und: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“ (Offb 2,10; vgl. Jak 1,12). Der Hebräerbrief sagt: „…es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade“ (Hebr 13,9). Und Paulus mahnt: „Wer meint, er stehe, mag zusehen, dass er nicht falle“ (1. Kor 10,12). Es werden uns auch viele Vorbilder der Beharrlichkeit vor Augen gestellt. Denn da ist die kanaanäische Frau, die von Jesus hart zurückgewiesen wird und doch nicht locker lässt (Mt 15,21-28). Da sind zwei Blinde, die das Volk zum Schweigen bringen will, die aber Jesus so lange nachschreien, bis er ihnen hilft (Mt 20,29-34). Und da ist die Witwe, die einem Richter so lange auf die Nerven geht, bis er ihr Recht verschafft (Lk 18,1-8). Nicht umsonst lesen wir auch von Glaubenszeugen, die wegen ihrer Beharrlichkeit einen gewaltsamen Tod finden, wie Jakobus und Stephanus, Petrus und Paulus (Apg 12,2; 7,59-60). Und gerade die zeigen, woher christliche Beharrlichkeit kommt. Denn die Zeugen, die für ihren Glauben starben, waren eben nicht der Meinung, dass dies an der Wahrheit ihres Glaubens irgendetwas änderte – oder dass es auch nur ein Rückschlag wäre. Nein, würden sie sagen: Was bedeutet das schon, wenn man unsren Leib tötet und doch keine Macht hat über unsre Seele? Glaubenszeugen sind so beharrlich und tapfer, weil sich die Erde am Ende ja doch dem Himmel beugen muss. Und ganz gleich, wie lange sich das Geschaffene dem Schöpfer widersetzen mag, hat der doch immer den längeren Atem. Es sieht zwar oft so aus, als könnte das Böse triumphieren – und das ist es, was die Kurzsichtigen dann entmutigt. Doch langfristig sind die Kräfte anders verteilt. Denn seit Christus auferstand, ist der Ausgang der Geschichte nicht mehr offen. Seitdem ist klar, was Gott will. Was Gott will, das kann er auch. Und solange er nicht schwankt, müssen es auch die Gläubigen nicht, weil der zeitliche Widerstand dem ewigen Willen gegenüber immer den Kürzeren zieht. Es ist nicht denkbar, dass das Vergängliche dem Unvergänglichen gegenüber das letzte Wort behält. Und so muss alles Streben, das mit Gottes Streben übereinstimmt, am Ende erfolgreich sein. Alle Düsternis und Bitternis kann nichts daran ändern, dass über den Ausgang der Geschichte längst entschieden ist. Und so wird auch das Geringste, das wir im Namen Christi tun, nicht vergeblich sein. Selbst unser Scheitern ist noch umgriffen von Christi großem Sieg. Warum also nicht beharrlich sein? Es ist egal, wie lange die Wahrheit verdunkelt wird, denn sie kommt ja letztlich doch ans Licht! Es spielt keine Rolle, wie lange die Gerechtigkeit am Boden liegt, denn sie wird ja doch nicht liegen bleiben! Keiner kann auf die Dauer „nein“ sagen, wenn Gott „ja“ sagt. Und so gilt in Glaubensdingen eine ganz andere Logik als bei menschlichen Plänen, die wir für uns selbst aushecken. Menschlichen Pläne können natürlich scheitern! Und nach ein paar Fehlversuchen wird es vernünftig sein, davon abzulassen. Doch ist ein Christ ja gar nicht beharrlich im Blick auf seine eigenen, sondern auf Gottes Pläne. Und was die betrifft, wäre es ganz irrational, sich von Rückschlägen zermürben zu lassen. Denn da ist egal, wie lange etwas dauert. Ist es bei Gott beschlossen, so muss es am Ende gelingen. Und solange wir dasselbe wollen wie Gott, führt uns jede Stunde dem Erfolg entgegen. Da mag jeder Tag Enttäuschungen bringen – zuletzt arbeitet die Zeit doch für uns. Denn das Reich Gottes ist nicht aufzuhalten. Und sind wir im Konsens mit Gott, schwimmen nicht uns, sondern unsrem Feind die Felle davon. Ja, so gesehen ist Beharrlichkeit bei Christen nicht mal eine Tugend, sondern eigentlich nur angewandte Logik. Denn unser Gott kann, was immer er will. Was er will, steht im Evangelium. Und es ist für ihn „Ehrensache“, dass er es auch durchsetzt (4. Mose 23,19; Röm 11,29). Wenn ein Christ aber dasselbe will, was Gott will, wenn er bezeugt, was Gott von sich selbst bezeugt, und seine kleine Kraft in Gottes große Pläne investiert – wie könnte er dann scheitern in dem, was er gemeinsam mit Gott erstrebt? Das ist ausgeschlossen! Natürlich kann man den Christen selbst mit der Zeit zermürben, aufreiben, frustrieren und kann ihn müde machen, bis er stirbt. Aber kann man ihn auf diese Weise besiegen? Nein, weit gefehlt! Wenn er beharrlich seinen Glauben lebt, wird er durch seinen Niedergang auf Erden nur umso schneller in den Himmel befördert. Ist der Glaubende aber in dem, was ihn mit Christus verbindet, unbesiegbar – warum soll er dann in seinem Glauben nicht trotzig sein, fröhlich und ungebeugten Geistes? Warum soll er nicht dem Teufel eine Nase drehen und sagen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Ich will und muss auch gar nicht anders, denn hier ist Gottes Wahrheit und Gottes Wille! Mich kannst du beiseiteschieben und zum Schweigen bringen – aber versuch‘s doch mal mit Gott! Er wird dir zeigen, wo der Hammer hängt!“ Ja, recht verstanden macht uns der Glaube frech und mutig. Er verleiht uns Beharrlichkeit als das Vermögen, vom zeitlichen Eindruck schwankender oder schlechter Erfolgsaussichten zu abstrahieren und das Ergebnis des großen Streites gedanklich so vorwegzunehmen, dass man den heute noch hin- und herwogenden Prozess im Lichte des Resultats betrachtet, das er am Ende der Geschichte haben wird – und so vom all dem zeitlichen Schwanken unbeeindruckt bleibt. Christliche Beharrlichkeit ist das Vermögen, das zeitlich Wandelbare stets zum ewig Unwandelbaren in Beziehung zu setzen und das eigene Verhalten dann nicht am aktuellen Augenschein zu orientieren, sondern an dem Ergebnis, das der Glaube vorausweiß. Beharrlichkeit ist die Teilhabe des Gläubigen an der Stabilität Gottes, die infolge des vertrauten Umgangs mit Gott auf den Gläubigen abfärbt. Sie ist der Mut, an der eigenen Überzeugung festzuhalten, auch wenn alle Welt etwas anderes glaubt, und einfach abzuwarten, bis die Welt ihren Irrtum einsehen muss und der Wahrheit die Ehre gibt. Beharrlichkeit ist der Mut, an der Wahrheit des eigenen Glaubens selbst dann festzuhalten, wenn man sein Leben damit nicht wirklich zur Deckung bringt und das Gelächter der anderen aushalten muss. Es ist der ungebeugte Mut, alles auf diese eine Karte zu setzen, dass Gott Wort hält, sich daraufhin wie ein Terrier in Gottes Wahrheit zu verbeißen – und das Gewonnene nie mehr loszulassen. Eben solche Beharrlichkeit aber schenke uns Gott, damit wir nicht etwa schwanken und wanken, wo‘s gar nicht nötig wäre, sondern künftig immer so fest stehen, wie es dem festen Fundament unter unsren Füßen entspricht.
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