Christliches Denken
Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen denkt ständig über irgendetwas nach. Selbst wenn er schläft, ist der Kopf noch mit seinen Träumen beschäftigt. Und wer versucht, mal gar nichts zu denken, merkt wie schwer das ist. Wir können’s nicht lassen. Denn im Denken sind wir ja auch gut und jedem Tier überlegen. Weil das aber zu unserer gottgegebenen Ausstattung gehört, lohnt es sich, einmal über das Denken selbst nachzudenken. Denn wie geht das überhaupt? Und was machen wir da? In der Regel ist unser Denken nicht absichtslos an der Wahrheit interessiert, sondern sucht nach Lösungen für konkrete Probleme und steht somit im Dienst bestimmter Interessen. Denn der Mensch will z.B. wissen, wie er sich vor wilden Tieren schützen kann, oder wie er an die süßen Kirschen herankommt, die am Baum ganz oben wachsen. Er denkt darüber nach, wie er die schöne Nachbarin für sich gewinnen, oder im Job seine Konkurrenten ausschalten kann. Und so ist das Nachdenken Mittel zum Zweck. Man will nicht bloß wissen um des Wissens willen, nicht aus reiner Neugier, sondern man spielt verschiedene Lösungswege durch, um sich am Ende für den zu entscheiden, der am ehesten Erfolg verspricht. Dazu gehört einerseits, dass man sich über die eigene Ziele klar wird: Was ist mir besonders wichtig, was ist zweitrangig? Und dazu gehört andererseits, dass man sein Ziel möglichst genau abgrenzt: Will ich verschiedene Tiere abwehren, nur Waschbären oder auch Wölfe? Will ich alle Frauen beeindrucken, nur die klugen und hübschen – oder auch Michelle von nebenan? Ist die Fragestellung geklärt, sammelt man mögliche Antworten, Lösungswege und Strategien. Und die unterzieht man der Prüfung, welche Vor- und Nachteile sie haben, welche Risiken sie bergen und wie wahrscheinlich sie zum Erfolg führen. Alle der Reihe nach auszuprobieren, würde zu viel Zeit und Kraft kosten – und wäre auch gefährlich. So versuchen wir zu erraten, was passieren wird, und lernen lieber aus den Misserfolgen anderer Leute als aus den eigenen. Wir spielen die Möglichkeiten durch, um – wie bei einem Zug auf dem Schachbrett – vorauszusehen, welcher Schritt welche Folgen haben wird. In Gedanken nehmen wir Künftiges vorweg, das uns wahrscheinlich vorkommt. Und das wäre nicht möglich, wenn wir über die Welt und die in ihr waltenden Gesetze nicht schon einiges wüssten. Wir greifen auf Erfahrungen zurück, die wir früher machten. Erfreuliches und Schmerzhaftes hat sich in die Erinnerung eingebrannt. Wissen wurde gespeichert. Und so fällt uns dann ein, dass Wölfe sich vor Feuer fürchten, und dass Michelle angeblich Pralinen mag. Solche Informationen rufen wir aus dem Gedächtnis ab. Wir fragen aber auch andere Menschen, schauen ins Lexikon oder ins Netz. Und was vielen nicht bewusst ist: Um zu klären, welche Methode Erfolg verspricht, bemühen wir auch logische Regeln und gewisse Annahmen über Raum, Zeit und Kausalität. Unser Denken ist nie voraussetzungslos. Denn wir unterstellen, dass sich jedes Ding im Raum nur an einer Stelle befindet, dass der Raum selbst drei Dimensionen hat, und die Zeit nur in eine Richtung verläuft. Wir unterstellen, dass eine Wirkung nicht früher eintritt als ihre Ursache, und dass einander widersprechende Sätze nicht gleichzeitig wahr sein können. Haben unsere Pläne aber Folgen für andere, zeigt sich, dass wir soziale Wesen sind. Denn gegen moralisch fragwürdige Ziele, Mittel und Methoden erhebt unser Gewissen Einspruch. Die sortieren wir dann hoffentlich aus. Und andere Lösungswege müssen wir verwerfen, weil uns zur Umsetzung die nötigen Ressourcen fehlen. Vieles würde gehen, wenn wir mehr Kraft hätten, mehr Zeit oder Geld – sonst aber nicht. Und so spielen wir unsere Optionen durch, favorisieren am Ende eine, sagen stolz, wir hätten nun gründlich nachgedacht, und setzen das Ergebnis in die Tat um. Denn die Meinung, dass es „so und nicht anders“ richtig sei, ist bis auf Weiteres unser Standpunkt. So sollte man das Land regieren! So muss man Kinder erziehen! So geht gesunde Ernährung! Und falls es jemand anders sieht, hat er wahrscheinlich nicht so gründlich nachgedacht wie wir. Wir zweifeln entweder an seinem Verstand oder an seinen guten Absichten. Denn die eigene Argumentation erscheint uns so zwingend wie eine mathematische Berechnung. Und der andere ist bloß nicht in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen! Wir vergessen dabei, dass der andere nicht mit unserem Kopf denkt, sondern mit seinem, und dass sein Denken bei abweichenden Voraussetzungen zu abweichenden Ergebnissen kommen muss. Denn aufgrund seiner Lebensgeschichte hat er in seinem Gedächtnis andere Erfahrungen gespeichert, hat aus anderen Büchern und von anderen Lehrern gelernt – und betrachtet die Welt aus einer anderen Perspektive. Wird sein Nachdenken von anderen Bedürfnissen getrieben, muss seine Fragestellung mit der unseren nicht identisch sein. Eventuell verfügt er über größere Ressourcen als wir, oder hält andere Dinge für moralisch akzeptabel. Und vielleicht ist er auch einfach nur mutiger oder ängstlicher als wir! Denn das menschliche Denken wird nicht allein von der Vernunft gesteuert, sondern zugleich von unbewussten Faktoren und von solchen, die wir uns ungern eingestehen. Manchmal würde uns ein Standpunkt einleuchten und wir vertreten trotzdem das Gegenteil, weil wir das schon sein vielen Jahren tun und nicht zugeben wollen, dass wir so lange geirrt haben! Manchmal bestreiten wir fremde Argumente bloß, weil wir den, der sie vorbringt, nicht leiden können. Mit dem möchten wir nichts gemein haben – noch nicht mal einen Standpunkt! Und manchmal erklären wir einen Lösungsweg nur darum für aussichtslos, weil wir zu faul oder zu feige sind, um ihn auszuprobieren. Ja, unser Denken folgt oft Gründen, zu denen wir uns nicht offen bekennen. Und so bringen wir ersatzweise andere Gründe vor, die ehrenhafter und vorzeigbarer sind. Vieles hat unser Herz längst entschieden, bevor der Verstand anfängt, sich passende Argumente zurechtzulegen. Ausgeschlafen und satt denken wir merklich anders, als wenn wir müde und hungrig sind. Und als die Egoisten, die wir sind, suchen wir auch gar nicht die Wahrheit um ihrer selbst willen, sondern suchen eine geschmeidige Wahrheit, die wir brauchen können. Unser Forschen ist nie „interesselos“. Bestimmte Ergebnisse sind uns lieber als andere. Und diese „Vorlieben“ drohen ständig, unser Denken zu korrumpieren. Weil‘s aber kein „voraussetzungsloses“ Denken gibt (das erst den Nachweis all seiner Voraussetzungen erbringt, bevor es sich ihrer bedient), ist es mit der „Objektivität“ der Ergebnisse nicht weit her. Selbst das gründlichste Denken kann sich nie selbst bescheinigen, richtig gedacht zu haben. Und ohnehin kann kein Algorithmus der Welt im Voraus berechnen, wie Michelle von nebenan auf Pralinen reagiert. Oft müssen wir handeln, bevor wir mit dem Nachdenken fertig sind. Und wenn’s dann anders kommt als erwartet, müssen wir schnell umdenken. Doch Umdenken ist schwer. Und je älter wir werden, umso schwerer fällt es. Denn man denkt ja, wie man denkt, weil man ist, wie man ist. Unser Denken folgt gern ausgetretenen Pfaden, auf denen wir leicht vorankommen. Das Umdenken aber erfordert Demut, weil man zugeben muss, vorher geirrt zu haben. Wie ich nicht bloß einen Körper „habe“, sondern auch mein Körper „bin“, so „habe“ ich nicht nur Gedanken, sondern „bin“ auch die Summe meines Denkens – und empfinde es als Kränkung, wenn an dieser Summe etwas falsch sein soll! Da sich keiner für „blöd“ hält, ist jeder gefangen in der Überzeugung, das Richtige zu denken. Und entsprechend schwer ist es, andere zum Umdenken zu bewegen. Man frage nur mal einen Psychotherapeuten! Jemand dahin zu bringen, dass er gewohnte Lebensstrategien überdenkt und auf alte Fragen neue Antworten findet, ist harte Arbeit. Und selbst wenn der Betreffende unter seiner Denkungsart leidet, kann er doch nicht mal eben aus seiner Haut. Denn ein Mensch denkt nicht einfach, wie er will, sondern kann immer nur denken, was sich im Ramen seiner geistigen Ausstattung, seiner Erfahrung und Prägung denken lässt. Begriffe wie „Vater“ oder „Mutter“ kann jeder nur so hören, wie es der eigenen Erfahrung mit Vater und Mutter entspricht. Und die Ratschläge Gutmeinender, deren Leben anders verlief, lassen sich nur schwer integrieren. Denn man kann nicht einfach denken wie man möchte. Sondern um anders zu denken, muss man ein anderer werden. Und das geht eigentlich nur, wenn wir Erfahrungen machen, die durchbrechen, was wir bisher zu Denken gewohnt waren – während die Welt unser Denken formte, und unser Denken die Welt. Doch wieso reden wir davon? Und warum gehört es hierher? Nun, weil sich Christen desselben Verstandes bedienen wie andere Leute auch – und dennoch merklich anders „ticken“. Eigentlich ist das nicht überraschend. Denn eine Weltanschauung prägt den ganzen Menschen. Und wenn Christen auf christliche Weise fühlen, reden und handeln, wär‘s seltsam, wenn sie nicht auch christlich dächten. Doch was sind dann unverwechselbare Merkmale „christlichen Denkens“? Entscheidend dürfte sein, dass ein Christ irgendwann entdeckt und sich eingesteht, dass er Gott nicht länger ignorieren kann. Die Wege zu dieser Einsicht sind verschieden. Doch letztlich verschafft Gott sich Geltung als der maßgebliche Bezugspunkt unseres Lebens. Als Christen erwarten wir dann von Gott viel mehr als von der Welt. Wir begreifen auch, dass es viel eher auf ihn ankommt als auf uns. Und damit verschieb sich der Fokus unsres Denkens. Denn die Absicht christlichen Denkens ist nicht (wie sonst), die eigenen Bedürfnisse effektiv durchzusetzen und so das vergängliche Glück dieser Erde zu gewinnen, sondern die Absicht ist, im Konsens mit Gott seinem Willen zu dienen und zeitlich wie ewig mit ihm Gemeinschaft zu haben. Dieses Ziel hat Priorität. Und so gewinnt das christliche Denken nicht bloß einen neuen „Gegenstand“, weil wir Gott gern so klar erkennen würden, wie er uns erkennt. Sondern es wird auch neu orientiert. Denn das „erkenntnisleitende Interesse“ besteht nun darin, nicht bloß der Wirklichkeit dieser Welt, sondern auch und vor allem der Wirklichkeit Gottes denkend und handelnd gerecht zu werden. Kein Ding ist wirklich erkannt und durchdacht, das wir nicht auf Gott bezogen und gemäß dieser Beziehung bewertet haben! Und daraus ergibt sich ganz von selbst ein anderes Bild der Welt und der eigenen Person, als wenn man beim Nachdenken den Faktor „Gott“ nicht auf dem Schirm hat. Gott selbst sorgt dafür, dass er zur festen Voraussetzung unseres Denkens wird – nicht zu seinem Endpunkt, sondern zum Ausgangspunkt! Und gleich ergeben sich neue Folgerungen. Denn wenn da einer ist, der Pläne mit uns hat, und alles kann, was er will, dann halten wir auch andere Dinge für möglich, als ein Atheist sie für möglich halten kann. Und wenn unser Gott (der durch das Wort seines Sohnes verbindliche Zusagen gegeben hat) weder lügen noch versagen kann, dann wird christliches Denken auch andere Erwartungen hegen, es wird zu anderen Bewertungen kommen und eine andere Gewissheit haben, als sie atheistisches Denken je haben könnte. Die Logik, deren wir uns bedienen, ist zwar ganz dieselbe und wird mit derselben Konsequenz angewandt. Doch unter anderen Prämissen kommt das christliche Denken zu anderen Folgerungen. Und dass der Glaube dabei das Denken verdrängte, ist bloß ein Märchen. Denn schließlich nutzen Christen ihre Vernunft sehr rege, um Gottes Wort zu verstehen, um seiner Offenbarung zu durchdringen und seine Gedanken „nachzudenken“. Wir schätzen die Vernunft als großartige Gabe Gottes, die mit dem Glauben schon deshalb nicht konkurriert, weil alle Vernunft der Wirklichkeit auf den Grund gehen will – und Gott in eigener Person der Grund alles Wirklichen ist. Wer sich der Wahrheit nähert, kann sich dabei von Gott nicht entfernen! Und nur, wenn man aus der Vernunft selbst eine Religion macht, erheben wir Einwände. Denn dass aufgeklärtes Denken schon selbst ein Weg zur Erlösung wäre, weil Aufklärung den Menschen automatisch auch tugendhaft und glücklich machte, hat sich leider als Irrtum erwiesen. Leider lässt sich die Vernunft genauso bereitwillig für böse Zwecke einspannen wie für gute. Und wie wir als Christen das Heil nicht von der Moral erwarten, nicht vom Staat, der Technik oder der Kultur – so eben auch nicht vom Denken. Wir ehren es aber als eine wunderbare Gabe des Schöpfers. Denn schließlich fordert Jesus selbst uns auf, klug zu sein wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben (Mt 10,16). Paulus will, dass wir weise sein sollen zum Guten, aber geschieden vom Bösen (Röm 16,19). Wir sollen im Verstehen vollkommen sein und alles Denken gefangen nehmen in den Gehorsam gegen Christus (1. Kor 14,20; 2. Kor 10,5). Darum tun wir durchaus dasselbe, was alle tun – wir sammeln Informationen, prüfen Lösungswege und nutzen die Logik, um Widersprüchen auf den Grund zu gehen. Wir verantworten unser Nachdenken aber zugleich vor Gott und passen auf, dass wir seine Gabe nicht gegen andere Menschen einsetzen, um sie etwa zu übervorteilen oder zu manipulieren. Und wir disziplinieren uns dabei im eigenen Interesse, weil alles, womit wir unseren Geist beschäftigen, in der Seele Spuren hinterlässt. „Achte auf deine Gedanken,“ sagt der Talmud, „denn sie werden Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden Taten. Achte auf deine Taten, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal!” Weil das stimmt, müssen wir nicht erst beim Handeln vorsichtig sein, sondern schon beim Wünschen, nicht erst beim Tun, sondern schon im Denken. Denn wir denken, wie wir sind – und wir sind, wie wir denken. Unsere Gedanken sind nicht weniger Ausdruck der Person als unsre Worte und Werke! Und darum ist nicht egal, welche Richtung sie nehmen, sondern wir sollten es als eine große Gnade schätzen, christlich Denken zu dürfen! Wie wir denken, bewerten wir. Und wie wir bewerten, entscheiden wir. Wie wir entscheiden, so handeln wir. Und unser Handeln wird uns zum Schicksal. So, wie wir denken, sind wir am Ende auch. Wie wir aber im Einzelnen denken, suchen wir uns nicht aus, sondern denken, wie wir unter unseren Voraussetzungen denken müssen. In Wahrheit steuern nicht wir unsere Gedanken, sondern unsere Gedanken steuern uns. Und sie steuern uns notwendig falsch, wenn Gott sich nicht als wichtigste Voraussetzung unseres Denkens geltend macht und uns diesbezüglich erleuchtet. Nicht wir Christen haben uns mit fleißigem Grübeln zu Gott „hindurchgedacht“. Nicht wir erschlossen ihn, sondern Gott erschloss sich uns! Sein Heiliger Geist rückte mit Hilfe des Glaubens auch unser Denken gerade. Und das war ebenso nötig wie gnädig. Denn nun ist auch unser Denken nicht absichtslos, folgt aber einem besseren Ziel. Es bedient sich der üblichen Logik, geht aber von neuen Prämissen aus. Und der Heilige Geist schenkt ihm Gewissheit, wie sie andere gar nicht kennen. Christliches Denken prüft seine Mittel und Wege an Gottes Gebot. Es nutzt Gottes Wort als Quelle der Information. Es bewertet alles nach seinem Verhältnis zum Schöpfer. Und da es Gottes Ressourcen mit veranschlagt, hält es immer etwas Großes für möglich. Es schätzt die menschliche Vernunft, macht aus ihr aber keine Religion. Denn Christus allein ist das Licht der Welt. Und neben ihm verblasst unsere Vernunft wie Kerzenlicht im Sonnenschein. Christus sei also, wie er Herr ist über unser Wollen und Tun, auch Herr über unsere Gedanken!
Bild am Seitenanfang: The Apostle Paul (Ausschnitt) c. 1657
Rembrandt van Rijn (Dutch, 1606-1669), Public domain via Artvee