Das Alter
Alt zu werden ist kein Spaß. Und die meisten Menschen, wenn sie die Wahl hätten, wären lieber jung. Weil sie aber keine Wahl haben, werden sie irgendwann 80 oder 90. Und wenn dann Gratulanten kommen, müssen sie sich viel gut gemeinten Unsinn anhören. Denn unsere Gesellschaft hat keine ehrliches Verhältnis zum Alter, sondern neigt sehr zur Beschönigung. Es wissen zwar alle, dass die Annäherung an das Lebensende mit Gebrechlichkeit einhergeht, mit einem schleichenden Verfall der geistigen und körperlichen Kräfte – und oft auch mit Einsamkeit. Doch an hohen Geburtstagen redet man trotzdem, als wär‘s ganz wunderbar alt zu werden, als wär‘s eine große Ehre und ein tolles Geschenk. Man tut so, als könnten die Senioren – wenn sie nur aktiv bleiben und die richtige Einstellung haben – ihr Alter zu einer verlängerten Jugend machen. Doch die Alten wissen, dass das nicht stimmt. Und die Jungen behaupten es auch mehr aus Verlegenheit. Denn eigentlich sind sie froh, noch jünger zu sein, und wissen mit den Alten nicht sehr viel anzufangen. Unsere Gesellschaft verwahrt sie zwar in Pflegeheimen, die schmeichelhafte Namen tragen, wie „Senioren-Residenz“, „Premium-Wohnstift“, „Park-Ressort“, „Haus Abendsonne“. Im Grunde sind‘s aber Endlager für verbrauchte Menschen, deren nächster Weg auf den Friedhof führt. Denn letztlich ist das Alter eben doch ein Phänomen der Erschöpfung. Der alte Mensch gleicht einem Auto, dessen Tankanzeige auf „Reserve“ steht. Und seine verschlissenen Bauteile können nicht alle getauscht werden. Er ist gefangen in einem nicht mehr so reizvollen Körper mit zunehmenden Fehlfunktionen. Und von der sprichwörtlichen „Altersweisheit“ merkt auch nicht jeder was. Im Rückblick sieht er zwar, dass er die tausend Möglichkeiten seiner Jugend eingetauscht hat gegen ebenso viele Erfahrungen. Doch was nützen all die Erfahrungen, wenn‘s den Alten nun an Möglichkeiten fehlt? Weil sie immer weniger Zukunft haben, erzählen sie umso lieber von der Vergangenheit und variieren ihre Lebensgeschichte so lange, bis sie die zu einer rühmlichen Geschichte „um-erzählt“ haben. Sie wollen sich und anderen Rechenschaft geben. Doch junge Hörer zeigen wenig Interesse, weil sie ja mit der eigenen Zukunft beschäftigt sind, die sowieso ganz anders wird. Ehemals schön und wichtig gewesen zu sein, hilft da wenig. Es verschafft uns keine Geltung in der Gegenwart. Und so kommt sich der Mensch nach und nach abhanden. Sein Leben gleicht einem Theaterstück, das gegen Ende langweilig wird. Und während das Publikum heimlich gähnt, fragt sich der Schauspieler, wann wohl der Vorhang fällt. Denn eigentlich kann er nicht mehr. Er hat seine Kräfte verausgabt, als er noch meinte, sie seien unbegrenzt. Aber war das wirklich ein Fehler? War ihm sein Leben nicht eben dazu gegeben – dass es sich verbrauchen sollte, wie sich eine Kerze verbraucht, wenn sie ihren Zweck erfüllt? Ein Motor, der lange läuft, zeigt entsprechend hohen Verschleiß. Doch schließlich wurde er gebaut, um zu laufen! Er hat seinen Zweck durchaus nicht verfehlt – geht aber trotzdem kaputt. Und die Erschöpfung, die man dann empfindet, ist kein schöner Zustand. Auch die Bibel sieht das ganz nüchtern. Der Prediger Salomo empfiehlt ausdrücklich, in der Jugend guter Dinge zu sein und sich am Leben zu freuen „...ehe die bösen Tage kommen und die Jahre sich nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«“ Da werden die Arme dann schwach, und die Beine krumm, die Zähne werden weniger, die Augen trüber, die Ohren tauber, die Haare weißer, die Stimme dünner. Der Schlaf ist nur noch leicht, der Gang schleppend und die Hände zittern – bis schließlich der Lebensfaden reißt (Pred 12,1-6). Zwar kennt die Bibel auch das positive Gegenbild jener Menschen, denen Gott ein langes Leben verleiht, so dass sie Kinder und Kindeskinder sehen, um zu guter Letzt „alt und lebenssatt“ zu sterben. Deren hohes Alter gilt als Erweis göttlicher Gnade (1. Mose 25,8; 35,29; Hiob 42,17). Doch die Bibel erzählt eben auch, wie Jakobs alter Vater aufgrund seiner Blindheit betrogen wird (1. Mose 27,1f.), wie Barsillai im Alter das Genuss- und Unterscheidungsvermögen verliert (2. Sam 19,36), und der hochbetagte König David nicht mehr warm werden kann – wie sehr man ihn auch mit Kleidern bedeckt (1. Kön 1,1). Nicht ohne Grund gibt’s in der Bibel Schutzbestimmungen für die Alten, die man nicht verachten (Sir 8,7; Spr 23,22), sondern ehren soll (2. Mose 20,12; 3. Mose 19,32), auch wenn sie kindisch werden (Sir 3,14-15). Doch wer wollte die beneiden, die solche Rücksicht nötig haben? Nein, dem Zustand, in dem wir zittern und kleckern, nähern wir uns nicht freiwillig! Doch kann man immerhin versuchen, der letzten Lebensphase positive Seiten abzugewinnen, die sie ja auch hat. Mir scheint es z.B. ein großer Vorzug, dass man im Alter niemandem mehr etwas beweisen muss. Von jungen Leuten werden in Schule und Beruf ständig Fortschritte erwartet. Sie müssen sich erst in vielen Prüfungen beweisen, bevor man sie ernst nimmt. Und obendrein haben sie viel Stress mit der Partnersuche. Der alte Mensch hingegen ist aus dem Beruf raus, muss nicht mehr konkurrieren – und muss auch keinen Vorgesetzten hofieren, um weiterzukommen. Er muss niemandem mehr schmeicheln, hat wenig zu verlieren, spürt kaum noch Verantwortung und genießt einige Narrenfreiheit. Denn niemand erwartet mehr, dass der Alte „auf Zack“ ist oder jede Mode mitmacht. Wenn ihn die Jüngeren aber nicht mehr brauchen, ist auch das kein so schlimmes Schicksal wie viele denken, sondern eigentlich ein Segen. Denn wenn man sich schon „in Auflösung“ befindet – was wäre dann schlimmer, als für diesen oder jenen „unersetzlich“ zu sein, den man im Stich lässt? Es entlastet und befreit, wenn man seine Aufgaben in jüngere Hände legen kann. Denn die eigenen Arme dürfen dann schwächer werden. Und man kann sich freuen, dass die eigene Aufgabe nicht endlos, sondern befristet war. Unsere Aufgabe ist immer nur, die Zeit zu überbrücken, in der unsere Vorgänger „nicht mehr“ belastbar sind – und unsere Nachfolger „noch nicht“. Und so wär’s allzu eitel, wenn der Mensch unbedingt eine Lücke hinterlassen wollte, oder sich freute, wenn’s „ohne ihn nicht geht“. Nein! Die besten Lehrer sind jene, die sich nach und nach überflüssig machen. Und wenn sich ein Mensch in sinnvoller Tätigkeit erschöpfte, dann ist sein „kaputter“ Zustand auch keine Schande. Denn es ging ja eine Anstrengung voraus, die ihm das Recht gibt, müde zu sein. Wer erschöpft ist, hat „alles gegeben“ – und muss sich dafür nicht schämen. Sondern umgekehrt wär’s viel bedenklicher, wenn ein alter Mensch keine Spuren von Ermüdung zeigte. So einen müsste man wohl fragen, auf wessen Kosten er sich ein Leben lang geschont hat – und wofür er seine Kräfte auch jetzt noch spart! Ja, die allzu munteren Alten muss man fragen, ob ihnen nie eine lohnende Aufgabe begegnet ist. Denn die eigenen Potentiale ungenutzt und „originalverpackt“ dem Schöpfer zurückzuerstatten – was macht das für einen Sinn? Allzu vitale Senioren erwecken nur den Eindruck, dass sie mit ihrem Leben nichts anzufangen wussten. Und viel ehrenwerter scheint es mir, wenn ein Mensch sein Pulver in guter Absicht restlos verschossen hat. Dessen „Er-Schöpfung“ zeigt dann bloß, dass er seine Möglichkeiten „aus-geschöpft“ und sich in guten Kämpfen verschlissen hat. Wer dagegen bis zuletzt keine Narben aufweist, der hat offenbar für nichts gekämpft. Wer sich nicht verzehrte, hat für nichts gebrannt. Und wer nicht litt, hat auch nie wirklich gelebt. Erschöpfung ist also beileibe nicht als Strafe anzusehen. Sondern gerade das ist die höchste und schwerste Lektion im Leben, dass wir lernen, mit Anstand verbraucht zu sein. Und es ist – kurz gesagt – eine Übung in der Demut und im Glauben. Warum Demut? Natürlich, weil uns im Alter abhandenkommt, womit wir in jüngeren Jahren Eindruck schinden konnten. Plötzlich müssen wir für jede Handreichung „bitte“ und „danke“ sagen. Und das geht uns gewaltig gegen den Strich. Denn als wir in der Jugendfrische unsere vielen Rechte und Kompetenzen erwarben, dachten wir nicht dran, dass sie befristet wären. Es kam uns gar nicht in den Sinn, dass wir alles Können und Vermögen, das uns zuwächst, irgendwann auch wieder abgeben müssten! Doch das Alter raubt uns scheibchenweise, was wir hatten, konnten und wussten. Unerbittlich schränkt es uns ein – und entkleidet uns der stolzen Menschen-Herrlichkeit. Wir stehen dem ohnmächtig gegenüber, sind peinlich berührt und können uns dann entweder totärgern und in Selbstmitleid zerfließen – oder eben Demut lernen. Denn im Alter müssen wir eingestehen, dass unser gesamter Reichtum aus Leihgaben bestand, die uns der Herr des Lebens auch wieder entzieht. „Hoppla,“ denkt man, „was mir so leicht genommen werden kann, war offenbar nie wirklich „mein“ im Sinne eines unbegrenzten Verfügens. Erst jetzt, wo sie schwinden, merke ich, dass mir Kraft und Leben von fremder Hand zur Verfügung gestellt wurden. Ich muss mit der Zeit nicht nur dies und das zurückgeben, sondern sogar mich selbst. Nicht mal ich selbst gehöre mir! Nicht mal mich selbst habe ich dauerhaft „im Griff“, sondern bin nur vorübergehend das, was mein Schöpfer aus mir macht! Offenbar war ich auch früher nie etwas durch mich, sondern immer nur durch ihn.“ So lässt das Alter die wahren Verhältnisse zu Tage treten – und schenkt damit späte Einsicht. Es lehrt uns, den Mund weniger voll zu nehmen und vor Gott bescheiden den Hut zu ziehen. Eben dadurch ist das Alter dann aber auch eine Schule des Glaubens. Denn der verbrauchte Mensch hat von der Welt nicht mehr viel zu erwarten, von Gott aber umso mehr. Und das verschiebt den Fokus seiner Aufmerksamkeit. Solange wir jung und vital sind, liebt uns die Welt, und wir lieben sie. Da schmeckt uns das Glück dieser Erde viel zu gut, als dass wir oft an den Himmel dächten! Doch das Alter entwöhnt uns von den irdischen Genüssen, so wie man ein Kind von der Mutterbrust entwöhnt. Je länger je mehr verleiden uns die Altersgebrechen das Dasein. Und so richtet sich unseren Blick wie von selbst auf die Ewigkeit. Denn im Greisenalter kann man sich ja nicht mehr vormachen, man hätte in dieser Welt schon seine Heimat gefunden und könnte ewig bleiben – nein! Deutliche Zeichen künden an, dass uns entweder die Welt verlässt oder wir sie. Wir sind zwar noch da – und all das Verlockende auch! Aber es entzieht sich den getrübten Augen ebenso wie den zittrigen Händen. Und auch der Magen verträgt es nicht mehr. So entwöhnt uns das leidige Alter vom Leben, wie die Amme das Kind von der Brust entwöhnt. Es zwingt uns loszulassen. Und manch einer empfindet diesen Verlust seiner Besitztümer, Kontakte und Fähigkeiten als ein „Sterben auf Raten“. Doch der gläubige Menschen hat’s da wieder mal besser. Denn der erwartet ja im Himmel mehr zu gewinnen, als er hier auf Erden verliert. Sterbend lässt er diesen Jahrmarkt der Eitelkeiten hinter sich, um in Gottes Güte einzugehen. Er macht dabei einen guten Tausch. Und je mehr Liebes ihm schon zu Lebzeiten genommen wird, umso leichter wird das Gepäck, mit dem er Gott entgegengeht. Freilich – wer nicht glaubt, muss die Dinge anders sehen. Ihm fehlt der Trost gerade dann, wenn er ihn besonders nötig hätte. Ihn trifft der Fluch, über den Tod hinaus keine Perspektive zu kennen. Und wenn er am Glück dieser Erde nicht satt geworden ist, stirbt er hungrig und ohne Hoffnung. Ein Christ dagegen kann sich sterbend in Gottes Arme fallen lassen – und hat dann zum Selig-Sein immer noch ewig Zeit. Er steht auch als Greis nicht etwa am Ende, sondern am Anfang. Für ihn kommt das Beste erst noch. Und wenn er körperlich „abbaut“, bringt ihn das geistlich sogar voran. Denn je weniger er sich helfen kann, desto ausschließlicher baut er auf Gottes Hilfe. Und so wird ihm gerade das Alter noch einmal zur Schule des Glaubens. Denn was diesem Glauben in jungen Jahren entgegensteht, ist ein törichter Wille zur Autonomie, den oft erst das Alter niederringt. Viele lernen erst Hilfe anzunehmen, wenn sie den Löffel nicht mehr halten können. Erst da schaffen sie es, Kontrolle aus der Hand zu geben. Denn der natürliche Mensch in seinem Dünkel hasst nichts so sehr wie Abhängigkeit. Der Sünder in uns will eigenmächtig leben. Im Grunde verabscheuen wir es, bedürftig zu sein! Doch Gott gegenüber waren wir’s schon immer. Und das zunehmende Alter macht diese verdrängte Tatsache nur sichtbar. Das kränkt dann zwar unseren Stolz. Doch mit etwas Einsicht und Glauben können wir drüber hinwegkommen. Denn wenn‘s gut läuft – und wir (statt zu jammern) in den Prozess einwilligen – entspricht unserem Nicht-mehr-können auch ein Nicht-mehr-müssen. Mit zunehmendem Alter reduziert sich nicht bloß unser Vermögen zur Selbstkontrolle, sondern es reduziert sich auch das, was uns noch zu kontrollieren bleibt. Zugleich mit der Möglichkeit des Steuerns schwinden auch die zu steuernden Lebensbereiche. Der alternde Mensch wird selbst „immer weniger“, seine Reichweite geringer. Und wenn er so klug war, Besitz und Verantwortung rechtzeitig abzugeben, muss er auch nicht um jeden Preis „fit“ bleiben. Denn dass einer nicht mehr kann, geht in Ordnung, wenn er auch nicht mehr muss. Er kann zu dem Unvermeidlichen sein Einverständnis geben, seinen Leib irgendwann in die Erde und seine Seele in Gottes Hand legen! Wer aber nicht mal seinem Schöpfer traut und infolgedessen nicht loslassen will – der wird bald unerträglich. Denn für ihn treten seine Wünsche und seine Möglichkeiten immer weiter auseinander. Der „kann“ dann nicht mehr, „will“ aber unbedingt. Und der Kontrollverlust, den er bestreitet, macht ihn schnell zur lächerlichen Figur: Sein Schiff ist längst auf Grund gelaufen, während er noch hektisch am Ruder dreht. Seine Vergangenheit ist entschwunden, eine Zukunft kann er nicht sehen – und tief beleidigt und protestierend wird er dennoch vom Leben aussortiert. Das ist traurig anzusehen! Ein alternder Christ hat’s aber deutlich besser. Denn der kann sagen: „Ist doch egal! Bin ich mit Gottes Hilfe jung gewesen, kann ich auch mit ihm alt sein. Führte er mich im Sonnenschein, so tut er’s genauso im Regen. Und war er bei mir auf Erden, so ist er’s doch erst recht im Himmel. Einst war ich stark durch ihn, nun bin ich schwach durch ihn. Wie er‘s aber fügt, soll es mir recht sein. Denn ich muss Gott nicht drüber belehren, wie er’s machen soll, wenn er mir nur weiter die Treue hält...“ Ich will damit nichts „schönreden“. Auch bei Christen kommt es leicht zu einem Missverhältnis zwischen dem „Nicht-mehr-können“ und „Doch-noch-müssen“! Alt-werden ist kein Spaß. Auch gläubigen Senioren bleibt am Lebensende nichts von dem übrig, was die Welt für groß und wichtig hält. Aber es bleibt ihnen doch Gott. Und wer den auf seiner Seite hat, der ist auch in seiner Schwäche noch stark, in seiner Armut reich und im Tod lebendig. Wir müssen nur lernen, uns an Gott genügen zu lassen – und können dann in Frieden alt werden. Denn zur Lebenskunst gehört nicht nur der Angriff mit heißem Blut, sondern auch der geordnete Rückzug. Und der darf einem Christen umso leichter fallen, als ja bereits ein anderer den Krieg für ihn gewonnen hat.
Bild am Seitenanfang: Die Lebensmüden
Ferdinand Hodler, Public domain, via Wikimedia Commons