Freude und Genuss
Haben sie Spaß am Leben? Lachen, singen und tanzen sie? Essen und trinken sie nach Herzenslust? Oder hat‘s ihnen der Arzt verboten? Es ist gar nicht so einfach mit der Lebensfreude. Denn manche meinen, sie hätten keinen Anlass dazu. Andere nehmen sich vor lauter Arbeit keine Zeit dafür. Wieder anderer denken, Genuss stünde ihnen nicht zu. Und Christen haben manchmal auch Zweifel, ob‘s ihnen erlaubt sei, in Sinnesfreuden zu schwelgen. Denn für den Glauben ist die Seligkeit im Jenseits ja wichtiger als die Freude im Diesseits. Beides miteinander ist nicht immer zu haben – denn wo unser Schatz ist, da ist auch unser Herz (Mt 6,21; 13,22). Und wenn der irdische Spaß mit dem Glauben in Konkurrenz gerät, verdient der Glaube allemal den Vorzug. So gibt es im Christentum nicht zufällig eine Kultur des Verzichts, der Disziplin, der Askese und Leidensbereitschaft. Und weil Christen innerlich frei bleiben wollen von der Begierde nach Genuss und Besitz, werden sie schnell verdächtigt, Feinde der irdischen Freude zu sein. Aber stimmt das? Der Blick in die Bibel bestätigt es nicht. Denn da herrscht großer Jubel über Gottes herrliche Schöpfung. Fruchtbarkeit, Wachstum und Wohlstand gelten als Gottesgeschenke – sozusagen als „sichtbarer Segen“. Und niemand erhebt Einwände gegen fröhlichen Genuss. Denken wir nur mal dran, wie Gott es sich am siebten Tag der Schöpfung gönnt, die Beine hochzulegen und sich in Ruhe einfach mal an der Schönheit seiner Schöpfung zu erfreuen! Denken wir an die Beschreibungen des gelobten Landes, darin Milch und Honig fließen, wo es Ölbäume und Weinberge gibt, Bäche und Brunnen, Feigenbäume und Granatäpfel. Da mangelt es niemandem an Brot, und auch die Viehherden werden immer größer, weil sie grüne Weiden finden! Denken wir daran, wie sehr Kinder in der Bibel als ein Segen Gottes gelten! Niemand wird mehr bedauert, als wer unfruchtbar ist und ohne Nachkommen bleibt. Wenn’s Gott aber mit einem so richtig gut meint, dann sitzen an seinem Familientisch viele Söhne und Töchter in bunter Reihe (Ps 128,3). Und gegen die Freuden des Lebens hat keiner etwas einzuwenden, sondern der Prediger Salomo sagt ausdrücklich: „Geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen. Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deiner Frau, die du lieb hast“ (Pred 9,7-9). Das Buch der Sprüche empfiehlt jedem Mann, sich an seiner Frau herzlich zu freuen, sich an ihrer Anmut zu sättigen und sich an ihrer Liebe zu ergötzen (Spr 5,18-19). Das biblische Hohelied ist keineswegs „prüde“, sondern voller Sinnlichkeit. Und wenn die jungen Leute heiraten, singen, tanzen und Spaß haben, dann sehen wir Gottes Sohn mittendrin, wie er bei der Hochzeit zu Kana Wasser in Wein verwandelt und so für Nachschub sorgt bei den alkoholischen Getränken (Joh 2,1ff.). Überall in der Bibel finden wir eine lebensbejahende Haltung, denn „alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird“ (1. Tim 4,4-5). Auch die Frommen in der Bibel sind keine „Kostverächter“, sondern sie danken für die Fruchtbarkeit des Landes ebenso wie für das Wachstum ihrer Herden und für eine große Kinderschar. Sie fühlen sich geradezu verpflichtet, Gottes Segnungen in vollen Zügen zu genießen. Denn es wäre ja höchst undankbar, das nicht entgegenzunehmen, was Gottes Hand so großzügig anbietet! Gott macht das Land voller Früchte, sagt der Psalmist, er lässt Gras wachsen für das Vieh, er macht die Erde fruchtbar, damit der Wein erfreue des Menschen Herz, damit sein Antlitz schön werde vom Öl und das Brot sein Herz stärke (Ps 104,13-15). Wie sollten wir also nicht zugreifen und annehmen, was Gott uns schenken will? Oder was sollte der Schöpfer von Gästen halten, die er bewirten möchte, und die über die Gaben seines Tisches die Nase rümpfen? Kann ihm das gefallen, wenn wir uns selbst nicht gönnen, was er uns doch gönnt? Gott schenkt uns das Leben – und wir sollten uns nicht dran freuen? Er füllt die Welt mit Schönheit – und wir sollten nicht hinsehen? Er lässt den Wein wachsen – und wir sollten trotzdem Wasser trinken? Das machte wenig Sinn! Und so gibt es beim gottgefälligen Genuss zwar ein paar Dinge zu beachten. Aber die sollen und müssen unsre Freude keineswegs schmälern. Eine Regel sollte lauten: Gib deinem Körper nicht weniger, als er braucht (1.), und gib ihm nicht mehr, als ihm gut tut (2.). Das erste muss gesagt werden, weil das Christentum eine asketische Tradition hat, und einige von denen, die man „Heilige“ nennt, ihrem Körper wirklich „zu wenig gaben“. Im katholischen Mittelalter haben sich manche förmlich zu Tode gehungert, haben ihren Leib misshandelt und durch Bußübungen zugrunde gerichtet, weil sie meinten, der Entzug von Schlaf und Nahrung sei „gottgefällig“ und „verdienstlich“. Man forsche nur mal nach, warum die Heilige Elisabeth schon mit 24 Jahren gestorben ist! Darum sage ich: Gib deinem Körper nicht weniger, als er braucht! Denn er soll ein Tempel des Heiligen Geistes sein (1. Kor 3,16-17). Und dazu taugt er nur schlecht, wenn du ihn mutwillig entkräftest. Doch gilt natürlich auch der zweite Satz: Gib deinem Körper nicht mehr, als ihm auf Dauer gut tut (2.). Denn auch Völlerei richtet den Leib zugrunde. Und so warnt die Bibel nicht umsonst vor dem Fressen und Saufen, vor Unzucht, Ausschweifung und maßlosem Begehren (Sirach 37,30-34; Lk 21,34; Röm 13,13-14). Als dritter Punkt (3.) ist zu vermerken, dass wir vor lauter Genuss nicht vergessen dürfen, dem Schöpfer für seine Gaben zu danken. Das ist das Mindeste, was wir ihm schulden, wenn wir täglich von seinem Tisch essen und satt werden (Eph 5,20; 1. Thess 5,18). Und selbstverständlich (4.) sollen wir von der empfangenen Fülle auch denen abgeben, die zu wenig haben, und sollen mit den Bedürftigen teilen (Hebr 13,16). Natürlich muss unsre Lebenslust da ihre Grenze finden, wo wir nach verbotenen Früchten greifen, die einem anderen gehören (5.). Weder seinen Ehepartner sollen wir begehren noch ihm sein übriges Glück neiden – das wäre der falsche Appetit (2. Mose 20,14.15.17)! Und wir sollen auch (6.) von keinem Genuss so abhängig werden, dass er uns beherrscht. Statt uns in die Welt zu verstricken, sollen wir ihre Güter nur so gebrauchen, als bräuchten wir sie nicht, und sollen mit innerer Freiheit den Himmel wichtiger nehmen als alle irdischen Freuden (1. Kor 7,29-31; Phil 4,11-13). Wenn uns Gott aber gar nicht immer vor die Wahl stellt, so dass oft beides möglich ist – warum sollten wir die irdische Freude dann verachten und verzichten, wo kein Verzicht gefordert wird? Sollten wir uns selbst nicht gönnen, was Gott uns doch gönnt? Er hat die Dinge zu unsrer Freude geschaffen! Er deckt uns den Tisch und ruft: „Guten Appetit, lasst es euch schmecken!“ Und wir sollten antworten: „Och nö, vielleicht morgen“? Das wäre absurd. Denn wenn es auch stimmt, dass Entbehrungen und Leiden zum Christ-Sein dazugehören, müssen wir sie uns doch nicht mutwillig selbst auferlegen. Nein, sie kommen ganz ungerufen. Und wenn die bittere Zeit beginnt, ist es besser, wir sind bei Kräften. Darum finde ich die Regel gut: Gib deinem Körper nicht weniger, als er braucht (1.), und gib ihm nicht mehr, als ihm auf Dauer gut tut (2.). Vergiss nicht, dem Schöpfer für seine Gaben zu danken (3.) und vergiss nicht, mit den Bedürftigen zu teilen (4.). Greife nicht nach verbotenen Früchten, die einem anderen gehören (5.), und werde von keinem Genuss so abhängig, dass er dich beherrscht (6.). Ansonsten aber: Gönne dir, was dir von Gott gegönnt ist, und kaue mit vollen Backen, damit dich die zeitliche Freude stärkt und erfrischt auf deinem Weg zu Gott (7.). Denn wie könntest du mit dem Schöpfers einig sein, wenn du das Leben nicht bejahst, das er dir gegeben hat? Du bist von Erde genommen, bist aus Erde geschaffen – und willst die Erde verneinen? Du verdankst dich der Fruchtbarkeit deiner Vorfahren – und willst die Fruchtbarkeit des eigenen Leibes gering schätzen? Menschliche Liebe hat dich gewärmt, geschützt und genährt, solange du ein Kind warst – und nun, da du groß bist, willst du eben diese menschliche Liebe verachten, statt sie weiterzugeben? Gott gab dir einen Leib – und du willst ihn nicht pflegen? Gott schuf die Musik – und du willst nicht tanzen? Gott schuf den Humor – und du willst nicht lachen? Das wäre widersinnig. Denn es gibt zwar zu jeder guten Gabe Gottes auch eine Möglichkeit des Missbrauchs. Und leiblicher Genuss kann leicht umschlagen in Völlerei und Viecherei, in Rausch, Abhängigkeit und falsches Vertrauen auf irdische Güter. Doch bleibt der Grundsatz davon unberührt, dass nichts verwerflich ist, wenn wir‘s mit Danksagung empfangen und mit Verstand gebrauchen. Natürlich ist das ewige Leben wichtiger als das zeitliche Glück auf Erden! Aber deswegen ist das zeitliche Glück noch nichts Schlechtes, das man beargwöhnen oder verschmähen müsste. Das Irdische ist gewiss nicht unser Ziel, aber es ist der uns von Gott verordnete Weg. Wir müssen den Weg durchaus nicht lieben, wir sollen ihn aber bewältigen. Und kein Wanderer bewältigt so einen langen Weg ganz ohne Pausen und ohne Stärkung. Gott war darum so freundlich, auf dem langen Weg in den Himmel ein paar Rasthäuser zu bauen, in denen sich die Wanderer ausruhen können. Und es gibt keinen Grund, an ihnen achtlos vorüberzueilen. Wenn’s im Rasthaus aber lustig zugeht, mit Musik, Tanz und Spiel, mit Liebe und Heiterkeit, mit gutem Essen und gutem Schlaf in weichen Betten – sollten wir dazu dann eine saure Miene machen, als schmeckte das Süße in Wahrheit bitter? Nein. Freude ist erlaubt, Genuss ist erlaubt. Und wo Gott uns beschenkt, sind wir als Christen keine Kostverächter. Wir bejahen das leibliche Leben, weil es zwar nicht durch und durch gut ist, weil es aber (dank des Evangeliums) zu etwas Gutem führt. Das leibliche Leben mit seinen vergänglichen Freuden ist gewiss nicht die Seligkeit. Und die darin Seligkeit suchen, finden sich betrogen, denn der Tod wird sie bald aus allem vergänglichen Glück vertreiben. Aber wenn wir das leibliche Leben bis dahin genutzt haben, um Gott zu finden, wird es uns zum Sprungbrett in die ewige Seligkeit – und ist darum gar nicht zu verachten. Es ist nicht das Ziel, sondern nur der Weg. Aber wenn der Weg hier und da ein schönes Panorama bietet, darf der Pilger ruhig stehenbleiben, darf hinschauen und verschnaufen. Denn steinig, dunkel, mühsam, eng und beängstigend wird der Weg schon ganz von selbst. Und wenn das beginnt, sollten wir uns nicht schon vorher verausgabt haben. Die Entbehrungen kommen ganz von selbst. Und unser Kreuz müssen wir nicht suchen. Wenn Gott uns auferlegt, dass wir auf irdisches Glück verzichten müssen, sollen wir keine Sekunde zögern und auch nicht drüber jammern, sondern wir sollen dann in Armut und Krankheit genauso klaglos leben wie vorher in Wohlstand und Gesundheit. Denn wenn wir aus Gottes Hand gute Tage empfangen haben, ziemt es sich, mit Gleichmut auch böse Tage anzunehmen (vgl. Hiob 1,21 u. 2,10). Nur kommt das eben zu seiner Zeit, wenn Gott es für richtig hält. Und solange draußen die Sonne scheint, ist es nicht nötig, sich in dunklen Kellern zu verstecken, sondern das ist dann nur blöd. Sobald Gott es verordnet, kommt das Kreuz von selbst – und dann ist zum Weinen noch viel Gelegenheit. Doch uns mutwillig selbst zu quälen, haben wir keinen Auftrag. Und ich denke auch nicht, dass es Gott gefiele. Denn wie jeder gute Vater, sieht er seine Kinder lieber lachen als weinen. Sobald er‘s zum Zwecke der Heilung für nötig hält, verordnet er uns bittere Medizin. Und die gilt es dann tapfer zu schlucken. Tut er’s aber heute noch nicht und morgen nicht, so dass wir singen und tanzen können – ja warum sollten wir dann nicht singen und tanzen? Regnet es Brei – und uns fehlt der Löffel dazu? Malt Gott seinen schönsten Sonnenuntergang – und wir schauen nicht hin? Er serviert uns Rinderbraten und Sahnetorte – und wir bevorzugen alten Zwieback? Er erlaubt uns Scherze – wir aber wollen nicht lachen? Er lässt den Wein wachsen – wir aber rümpfen die Nase und trinken Wasser? Gott ziert die Welt mit schöne Menschen – und wir sollten ihnen Säcke überstülpen, damit bloß keiner ihre Schönheit sieht? Gott schenkt Lebensfreude, Zuversicht und Kraft – und wir sollten seine Gaben liegenlassen und madig machen, als wären sie wertlos? Nein. Gewiss muss alles mit Anstand geschehen. Es gilt Maß zu halten. Und wir müssen innerlich frei bleiben. Wir dürfen die Armen nicht vergessen. Und nichts darf uns so fesseln, dass wir‘s nicht um Gottes willen hinter uns lassen könnten. Nur Gott selbst darf uns beherrschen, nicht irgendeine Sucht nach Nikotin, Alkohol oder Drogen. Wir sind wahrlich zu etwas Besserem berufen, als Maden im Speck zu sein. Aber um jenes Bessere zu erreichen, muss man kein Abstinenzler werden und kein mürrischer Asket. Sondern es genügt, wenn wir unseren Konsum, unser Liebesleben und jegliche Art von Genuss vor Gott verantworten. Darum lasse sich niemand einreden, der christliche Glaube sei grundsätzlich lebensverneinend, leibfeindlich oder spaßbefreit! Wohl gab es in Genf den Reformator Calvin, der den Einwohnern seiner Stadt das Kartenspielen verbieten wollte und dazu auch das Tanzen, das Würfelspiel, das Theater und jedes Übermaß an Alkohol. Calvin wollte alles unterbinden, was nach ausgelassenem Vergnügen aussah, nach Völlerei, Vergeudung und Sinnlichkeit. Der verdiente Mann wurde so zu einer „Spaßbremse“ und machte sich bei der Jugend reichlich unbeliebt. Doch, dass dies nicht zum Wesen des evangelischen Glaubens gehört, sehen wir an Martin Luther, dem sein Bier jederzeit geschmeckt hat, der sehr musikalisch war und auch über derbe Witze herzlich lachen konnte. Luther hatte wahrlich nichts gegen Wein, Weib, Gesang und einen guten Braten. Er wusste aus seiner Klosterzeit, dass Entsagungen allein den Menschen Gott nicht näher bringen. Und so dürfen auch wir in evangelischer Freiheit genießen, was Gott uns gönnt, und dürfen es mit gutem Gewissen nutzen. Denn eben dazu, dass es uns erfreue und stärke, hat‘s Gott geschaffen. Und nichts ist verwerflich, was wir mit Danksagung empfangen.
Bild am Seitenanfang: Falstaff
Eduard von Grützner, Public domain, via Artvee