Gerechtigkeit

Gerechtigkeit (ethisch)

Der Begriff der „Gerechtigkeit“ wird in allen gesellschaftlichen Debatten bemüht – und doch nur selten erklärt. Dabei ist durchaus nicht klar, was man unter „Gerechtigkeit“ zu verstehen hat. Ist das bloß ein Schlagwort? Oder hat der Mensch im Gefühl, was „gerecht“ ist? Kann man „Gerechtigkeit“ definieren? Oder denkt sich dabei jeder etwas Anderes? Ludwig Erhard sagte einmal: „Ich habe es mir angewöhnt, das Wort Gerechtigkeit fast immer nur in Anführungszeichen auszusprechen, weil ich erfahren habe, dass mit keinem Wort mehr Missbrauch getrieben wird als gerade mit diesem höchsten Wert.“ 

Worin besteht nun aber der „höchste Wert“? Landläufig nennt man denjenigen „gerecht“, der sich verhält, wie es Rechtsnormen verlangen: einen Menschen also, der nicht mehr und nicht weniger beansprucht, als ihm zukommt – und der seinen Mitmenschen dasselbe zugesteht. Wir empfinden es als „gerecht“, wenn jeder bekommt, was ihm gebührt – sei es nun Lohn oder Strafe. Und wir formulieren das in dem alten Grundsatz „Jedem das Seine“. Aber wem gebührt wovon wieviel? Ist’s gerecht, wenn jeder bekommt, was er verdient, wenn er bekommt, was er braucht, oder wenn er bekommt, was ihm versprochen war? Ist es vielleicht erst gerecht, wenn alle das Gleiche bekommen? Spätestens über diesen Fragen zerbricht die Einigkeit. Es zeigt sich, dass der Grundsatz „Jedem das Seine“ nicht viel mehr besagt, als dass einer bekommen soll, was er bekommen soll. Und so richtig das auch sein mag: mit Inhalt füllt es sich erst, wenn man klärt, woran der „berechtigte“ Anspruch zu bemessen ist. Denn natürlich muss man jedem geben, was ihm zukommt! Aber was kommt ihm zu? 

 

Bemessen am Gleichheitsgrundsatz?

Zunächst scheint es am gerechtesten, wenn „ohne Ansehen der Person“ alle das Gleiche bekommen. Hat jemand drei Kinder und bestimmt in seinem Testament, dass jedes Kind ein Drittel seines Vermögens erben soll, finden wir das fair. Bei demokratischen Wahlen hat jede Stimme das gleiche Gewicht – ohne dass Geschlecht, Alter, Bildungsstand oder Religion der Wahlberechtigten eine Rolle spielen. Und wollen vier Freunde dem Fünften ein gemeinsames Geburtstagsgeschenk kaufen, wird in der Regel jeder ein Viertel dessen beisteuern, was das Geschenk kostet. Schwierig wird es allerdings, wenn man Menschen gleich behandelt, die offenkundig nicht gleich sind. Denn die Gleichbehandlung der Ungleichen empfinden wir als „ungerecht“. Man stelle sich nur einmal vor, alle Straftäter – vom Gelegenheitsdieb bis zum Serienmörder – sollten unabhängig von der Schwere ihrer Schuld die gleiche Strafe bekommen! Es würde wohl jeder dagegen protestieren und fordern, dass zwischen (leichter oder schwerer) Schuld und (leichter oder schwerer) Strafe ein Entsprechungsverhältnis bestehen soll. Statt „lebenslänglich für alle“ muss es Abstufungen im Strafmaß geben. Ist also das, was einem „zukommt“, statt am Gleichheitsgrundsatz an seinen Leistungen oder Fehlleistungen zu bemessen? 

 

Bemessen an der erbrachten Leistung?

Stellen wir uns vor, dass ein Obstbauer Erntehelfer beschäftigt, von denen der eine am Ende des Tages 6 Kisten voll geerntet hat, der andere 9 Kisten und der dritte 12 Kisten. Wäre es da gerecht, alle Erntehelfer einheitlich zu entlohnen und damit die Faulen den Fleißigen gleichzustellen? Wäre es nicht gerechter, sie nach Leistung zu bezahlen – und beim Lohn nicht die Arbeitsstunden zugrunde zu legen, sondern die Zahl der Kisten, die einer abliefert? Das scheint nur konsequent. Denn wenn uns eben eingeleuchtet hat, dass wer Schlimmeres tut, auch die schlimmere Strafe verdient, warum sollte das nicht auch im Positiven gelten? Wer gute Arbeit leistet, dem steht auch guter Lohn zu, und wenn er tüchtiger ist als andere, soll er auch etwas davon haben. Das, was er gibt, und das, was er dafür empfängt, muss in angemessenem Verhältnis stehen, sonst untergräbt das die Motivation. Ehre muss man geben, wem Ehre gebührt, und der Tüchtige hat Anspruch auf Anerkennung. Aber natürlich hat auch das einen Haken. Denn häufig beruht das Leistungsvermögen eines Menschen auf persönlichen Voraussetzungen, die er gar nicht zu verantworten hat. Die Startbedingungen sind nicht gleich, die natürlichen Begabungen und die Bildungschancen ebenso wenig. Ist es also „gerecht“, wenn man nur auf die Leistung schaut und sie nicht ins Verhältnis setzt zu den großen oder kleinen Potentialen, die einer mitbekam?

 

Bemessen am Bemühen?

Wer diesen Einwand gegen das Leistungsprinzip aufnehmen möchte, kann das, was einem Menschen zukommt, an seinem ehrlichen Bemühen bemessen. Und als Beispiel denken wir uns einen Sportlehrer, der am Ende des Schuljahres Noten vergeben muss. Er könnte diese Noten natürlich direkt aus der Leistung ableiten und die Schüler zum 1000-Meter-Lauf antreten lassen. Wer zuerst über die Ziellinie kommt, erhält im Zeugnis eine „Eins“. Wer zuletzt ankommt, findet in seinem Zeugnis eine „Sechs“. Und das Mittelfeld wird mit „Dreien“ benotet. Aber wäre das wirklich fair? In jeder Klasse gibt es gertenschlanke Schüler mit langen Beinen, die – von der Natur begünstigt – immer schneller sind als der Rest. Es kostet sie nicht mal Mühe, die anderen abzuhängen. Und oft geben sie sich auch keine Mühe! Man findet aber in jeder Klasse auch kleine und übergewichtige Schüler, die ihr Äußerstes geben müssen, um die 1000 Meter überhaupt zu bewältigen. Sie schaffen es nur mit Mühe, Not und Anstrengung. Und sollte man diese von der Natur Benachteiligten nun auch noch mit schlechten Noten strafen? Ist es da nicht gerechter, wenn der Sportlehrer statt der gestoppten Rundenzeit das Engagement bewertet, das ein Schüler an den Tag legt, um aus schlechten körperlichen Voraussetzungen das Beste zu machen? Sollte nicht statt der Vorzüge, die einer in die Wiege gelegt bekam, sein Eifer bewertet werden, sein ehrliches Bemühen und sein vielleicht geringer, aber mit saurem Schweiß erkämpfter Trainingsfortschritt? Maßstab der Gerechtigkeit wäre dann nicht die Leistung an sich, sondern der Wille dessen, der sich ins Zeug legt! 

Doch freilich – wenn jener an der Universität einen Lehrstuhl bekäme, der sich ohne Talent und Kenntnis am meisten um die Professur „bemüht“ hat, wäre das dann „gerecht“ den Studierenden gegenüber? Oder möchte jemand von dem Chirurgen operiert werden, der trotz zittriger Hände beim Operieren den allergrößten „Eifer“ zeigt? Ist es im Blick auf die Patienten nicht fairer, wenn sie der operiert, der es am besten kann? Der Blinde mag es ja „ungerecht“ finden, wenn er kein Pilot werden darf, aber die Fluggäste bestehen darauf… 

 

Bemessen am Bedarf?

Es gibt noch ein weiteres Konzept von Gerechtigkeit, das mit dem Leistungsprinzip bricht. Es besteht darin, das einem Menschen Zukommende weder an seiner Leistung noch an seinem Bemühen, sondern schlicht an seinem Bedarf zu bemessen. Stellen wir uns eine Bauern-Familie vor, die am Abend das Essen teilt. Da sitzt dann der zahnlose Opa, der seine Tage nur am Ofen verbringt, neben dem 17-jährigen Sohn, der noch im Wachstum ist. Und der Bauer, der von früh bis spät auf dem Feld schuftet, sitzt neben dem 6-jährigen Töchterchen, das bloß die Hühner füttert. Es wäre Unsinn, jedem Anwesenden die gleiche Essensportion vorzusetzen, denn der Kalorienbedarf der Personen ist völlig verschieden. Um satt zu werden, muss der Bauer doppelt so viel essen wie der zahnlose Opa. Und dem 6-jährigen Mädchen reicht davon wiederum die Hälfte. Weil der Opa aber gar nichts mehr tut, und das Mädchen noch nicht viel, kann man auch nicht nach der Leistung gehen. Sondern am „gerechtesten“ wird es sein, den Bedarf aller so zu decken, dass sie satt werden – ganz egal, ob dazu nun viel oder wenig nötig ist. Wenn kein Mangel herrscht, wird man jedem Esser am Tisch frei stellen, seinen Bedarf selbst einzuschätzen. Denn Verwandte können so verfahren. In der Regel gönnen sie einander, was sie brauchen.

Doch lässt sich dieses Modell auf eine ganze Gesellschaft übertragen, in der einer den anderen nicht mal kennt? Schon ein größerer Wirtschaftsbetrieb wird es schwerlich den Angestellten überlassen, nach persönlichem Bedarf in die Firmenkasse zu greifen und sich selbst einen Lohn zuzumessen. Darum gilt es dort als „gerecht“, wenn jeder Angestellte bekommt, was vertraglich mit ihm vereinbart wurde. Ob er damit auskommt, steht gar nicht in Frage, sondern Gerechtigkeit gilt als gewährleistet, wenn beide Seiten ihren Vertrag erfüllen.

 

Bemessen an vorhergehenden Vereinbarungen?

Das scheint nun endlich eine transparente und objektive Lösung für unser Problem zu sein. Denn wo Verträge gelten, hat jeder Anspruch auf das, was ihm schwarz auf weiß zugesagt wurde. Die Geschäftsleitung zahlt genau das, was dem Arbeiter zusteht, und findet ihr Verfahren selbstverständlich „gerecht“. Denn sie respektiert ja die verbrieften Ansprüche der Arbeiter, so wie das ein funktionierender Staat auf der Grundlage seiner Verfassung auch an den Bürgern tut. Nur ist leider nicht gesagt, dass die Umsetzung des geltenden Rechtes automatisch Gerechtigkeit schafft. Denn nicht alles, was legal ist, ist auch legitim. Und es mangelt nicht an historischen Beispielen dafür, dass sich Staaten manchmal auf legalem Wege ungerechte Gesetze geben – wie es auch zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern unfaire Verträge gibt. Man kann nicht nur Recht, man kann auch Unrecht durch Gesetze zementieren! Was ist also, wenn der Unternehmer in Krisenzeiten die Löhne drückt und seine notleidenden Arbeiter zwingt, schlechte Verträge zu unterschreiben? Er behandelt sie anschließend „vertragsgemäß“ und beutet sie dennoch aus. „Was wollt ihr denn?“ kann er sagen, „Ihr bekommt doch, was vereinbart wurde!“ Aber gerecht wär‘s deswegen nicht – und würde auch nicht so empfunden. Wenn die Ausgebeuteten sich aber dagegen empören: im Namen welcher Instanz tun sie das eigentlich – und unter Berufung auf welche Autorität? Gibt‘s denn eine Gerechtigkeit, die nicht aus menschlichen Vereinbarungen, Konventionen und Verträgen resultiert? Ist z.B. Sklaverei auch dann Unrecht, wenn die Gesetze eines Staates sie nicht verbieten, sondern ausdrücklich erlauben? Man wird es bejahen! Wer das aber tut, muss sich darüber im Klaren sein, dass er sich damit (über das kodifizierte Recht hinausgreifend) auf ein „höheres“ Recht beruft. Er setzt eine Gerechtigkeit voraus, deren Maßstäbe dem menschlichen Verfügen entzogen und von der „Natur“ (oder einer anderen übergeordneten Instanz) vorgegeben sind. Aber gibt es solche Maßstäbe überhaupt? 

 

Bemessen an „höherem“ Recht?

Als Christ kann man das bejahen – und anschließend nach dem fragen, was einem Menschen nicht um seiner selbst willen, sondern „um Gottes Willen“ zukommt. Man kann also Gerechtigkeit als die Pflicht verstehen, jedem zu geben, was er nach Gottes Willen haben soll. Und man bekommt damit – den Glaubensstandpunkt vorausgesetzt – festen Boden unter die Füße. Es ist nicht deshalb geboten, das Leben des Mitmenschen zu schützen, weil er dieses Leben „verdient“ hätte, sondern weil Gott es ihm gab. Um Gottes willen ist es „gerecht“, das Eigentum des Mitmenschen zu respektieren und seine Ehe nicht zu gefährden, ihm die Wahrheit zu sagen und ihm seine Freiheit zu lassen, ihm in der Not zu helfen und ihn vor Verleumdung zu schützen, ihm einen fairen Lohn zu zahlen und ihm Fehler zu verzeihen. Das alles aber nicht um irgendwelcher Verdienste willen, die mein Nächster vielleicht gar nicht hat, sondern um Gottes willen, weil er es so geboten hat. Was der Schöpfer will, dass es seinen Geschöpfen zukommt, genau das ist’s, was ihnen wirklich zukommt. Und das menschliche Zusprechen, Absprechen oder Vereinbaren von Rechten ändert daran gar nichts. Denn in einer schlechten Rechtsordnung kann es ja leicht geschehen, dass z.B. ungeborene Kinder ohne staatlichen Schutz bleiben. Leistungen, die man ihnen vergelten müsste, haben die Ungeborenen gewiss nicht vorzuweisen! Und trotzdem bleibt es Unrecht, sie abzutreiben. Denn das Leben kommt ihnen nicht um ihrer selbst willen oder um der Eltern willen zu, sondern um des Schöpfers willen, der sie ins Leben rief. Es gibt also einen Maßstab, der menschlichen Entscheidungen nicht unterworfen, sondern vorgegeben ist, so dass Menschen ihn zwar leugnen und ignorieren, aber in keiner Weise ändern können. Unter Christen sollte man sich auf diesen Maßstab der Gerechtigkeit auch einigen können: „gerecht“ ist es, jedem zu geben, was ihm nach Gottes Willen zukommt. Und was das im Einzelnen ist, lässt sich auf biblischer Grundlage klar genug benennen. Nur liegt auf der Hand, welche Einschränkung man hier machen muss. Denn dieser spezielle Begriff von Gerechtigkeit setzt einen weltanschaulichen Standpunkt voraus, den in der pluralen Gesellschaft nicht jeder teilt. Er erschließt sich nicht jedem, weil es der Glaube nicht tut, und ist daher nicht „verallgemeinerbar“. So gilt Gottes Wille zwar für alle – ob sie’s nun wissen oder nicht. Er lässt sich aber nicht unmittelbar in staatliche Gesetze ummünzen. 

 

Die Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Ordnung

Wir kehren zur Ausgangsfrage zurück, ohne das Problem auf eindeutige Weise gelöst zu haben. Denn es ist zwar gerecht, jedem zu geben, was ihm zukommt. Was aber wem aufgrund welchen Anspruchs zukommt, ist weiterhin offen. Weder der Gleichheitsgrundsatz noch das Leistungsprinzip oder das der Bedarfsdeckung lassen sich durchgehend anwenden. Vielmehr scheint in einem Fall das eine, und im anderen Fall das andere zu passen. Wenn es um die Vergabe von Spenderorganen geht, wird wohl niemand das Leistungsprinzip zugrunde legen und eine dringend benötigte Niere dem zusprechen, dessen Leben der Gesellschaft am meisten „nützt“. Der Gleichheitsgrundsatz kommt aber auch nicht zur Anwendung, da ein 80-jähriger nicht mehr mit der Transplantation rechnen kann, die man dem 20-jährigen ohne weiteres zugesteht. Ein junger Fußball-Star wird es „gerecht“ finden, wenn er das Millionengehalt bekommt, das vertraglich vereinbart wurde. Er denkt vielleicht wirklich, es entspräche seinem außergewöhnlichen Talent. Der Obdachlose hingegen findet das Gehalt des Fußballers ungerecht hoch, weil es nicht im Verhältnis steht zu dem, was ein Mensch zu seinem Lebensunterhalt bedarf. Generell tendiert jeder zu dem Konzept von Gerechtigkeit, das ihm persönlich den meisten Nutzen bringt. Die schwächsten Glieder der Gesellschaft werden stets auf Gleichbehandlung oder Bedarfsdeckung pochen, während die „Leistungsträger“ es ungerecht finden, wenn sich ihr Fleiß und ihre Tüchtigkeit nicht lohnen. So trübt der eigene Vorteil den Blick für das, was wirklich gerecht wäre. Und was kann man dagegen tun? 

Der Philosoph John Rawls empfiehlt den sogenannten „Schleier des Nichtwissens“. Er meint, eine Gesellschaftsordnung käme der Gerechtigkeit dann am nächsten, wenn der, der sie entwirft, noch nicht weiß, welche Rolle er persönlich darin spielen wird. Und das gedankliche Experiment ist tatsächlich lehrreich. Denn wenn jemand darüber im Ungewissen bleibt, welche Stellung er in einer künftigen Gesellschaftsordnung einnehmen wird (ob er darin alt oder jung, gebildet oder ungebildet, krank oder gesund ist), wird er wahrscheinlich eine Ordnung wählen, mit der er in jedem Fall leben kann, weil sie einerseits die Schwachen schützt und ihnen leistungsunabhängig die Deckung ihres Grundbedarfs an Gütern und Freiheiten garantiert, weil sie aber andererseits auch den Starken Chancen und Anreize bietet, sich durch Engagement und Leistung Vorteile zu verschaffen. Das Ganze läuft auf eine Kombination mehrerer Gerechtigkeits-Konzepte hinaus, wie ja auch die soziale Marktwirtschaft eine Kombination darstellt: sie verbindet recht erfolgreich die Leistungsanreize des kapitalistischen Systems mit sozialen Elementen der Bedarfsdeckung. Doch auch die Schwächen einer solchen Kombination liegen auf der Hand. Denn wird in mancher Hinsicht der eine Grundsatz zugrunde gelegt, und in mancher Hinsicht der andere (zählt manchmal die Gleichheit, manchmal das Bemühen, manchmal der Bedarf und manchmal die Leistung), sind die Geltungsbereiche der Prinzipien nur schwer voneinander abzugrenzen. Ihre Reichweite muss immer neu in einem mühsamen gesellschaftlichen Diskurs geklärt werden. Ein einfacher Schlüssel zur Konfliktlösung und zur Schaffung „gerechter“ Verhältnisse ist damit nicht gegeben.

 

Die Gerechtigkeit des Einzelnen

Oben wurde bereits erwähnt, dass Christen einen besonderen Maßstab der Orientierung nutzen. Natürlich verdrängt er nicht alle anderen. Denn auch Christen berücksichtigen die Maßstäbe der Gleichheit, der Leistung, des Bemühens und der Bedürftigkeit. Weit höhere Anforderungen ergeben sich aber aus den Weisungen und dem Vorbild Jesu. Denn niemand weiß besser, was Gott und den Menschen „zukommt“, als er. Wie wünscht sich also Jesus, dass ihm seine Jünger nachfolgen? Was ist für ihn ein „Gerechter“? Es lässt sich anhand der Evangelien recht genau beschreiben! 

Der Gerechte sorgt sich nicht um irdischen Kram, wie Geld und Gut, Essen und Trinken, sondern konzentriert sich ganz auf Gottes kommende Herrschaft (Mt 6,19-34). Dieser Herrschaft entsprechend richtet er sein Leben ein (Mt 4,17), sehnt sich nach ihr und betet um sie (Mt 6,9-10). Er gibt dem Willen Gottes Priorität in allen Dingen und nimmt nichts wichtiger als ihn (Mt 6,24). Er folgt Christus nach und lässt sich dabei von nichts ablenken oder aufhalten (Mt 8,21-22). Wäre ihm seine Familie wichtiger als Gott, könnte er diesen Weg nicht gehen (Mt 10,34-37; Mt 12,46-50). Wäre ihm sein Besitz wichtiger als Gott, bliebe er zurück (Mt 19,16-26). Und wenn er den Streit scheute, dem Schmerz auswiche und sein Erdenleben liebte, käme er aus der Spur (Mt 10,38-39). Bedrängnisse, Sorgen oder Begierden dürfen ihn also nicht ablenken (Mt 13,18-23). Und wenn ihn etwas vom Weg abbringt, trennt er sich davon (Mt 5,29-30). Wenn es der Satan versucht, widersteht er ihm (Mt 4,1-11). Und er bittet Gott, dass er ihn in Versuchungen bewahre (Mt 6,13). 

Der Gerechte gibt für das Reich Gottes alles hin, was er hat (Mt 13,44-45). Er unterlässt nicht nur das Töten, sondern auch das Zürnen und Schimpfen (Mt 5,21-26). Er versagt sich nicht nur den Ehebruch, sondern erträumt ihn nicht mal (Mt 5,27-32). Er scheut sich nicht nur, vor Gericht falsche Eide zu schwören, sondern redet grundsätzlich immer klar, wahrhaftig und verbindlich (Mt 5,33-37). Er liebt nicht nur die Freunde, sondern gerade seine Feinde (Mt 5,43-48). Und wenn ihm jemand Unrecht tut, zahlt er‘s nicht mit gleicher Münze heim (Mt 5,38-42). Er verurteilt nicht andere, sondern kümmert sich um das, was bei ihm selbst nicht stimmt (Mt 7,1-5; Mt 13,24-30). Und er vergibt denen, die an ihm schuldig wurden (Mt 6,12). Er tut viele gute Werke (Mt 5,16), tut sie aber nie, um dafür bewundert zu werden (Mt 6,1-6; 6,16-18). Statt Gottes Gebote zu relativieren, erfüllt er sie (Mt 5,17-20). Und seine Mitmenschen behandelt er stets so, wie es ihm selbst – in ihrer Lage – gut täte (Mt 7,12). So aufmerksam, wie für sich selbst, sorgt er auch für andere (Mt 22,39). 

Der Gerechte gebraucht seinen Verstand, verschmäht dabei aber alle Hinterlist (Mt 10,16). Er fürchtet sich nicht, äußerlich mit Unreinem in Berührung zu kommen, fürchtet aber die Unreinheit, die innen aus dem eigenen Herzen hervorgeht (Mt 15,1-20). Er kommt sich nicht schlau vor, sondern erkennt Gott in Jesus Christus (Mt 11,25-27). Er bekennt offen seinen Glauben (Mt 10,32-33) und nimmt‘s in Kauf, wenn er deswegen gehasst und verfolgt wird (Mt 10,17-26). Er vergisst nie, dass es eine Verdammnis gibt (Mt 7,13-14). Er behält aber die Nerven und gerät nicht in Panik, solang er Christus bei sich weiß (Mt 8,23-27). 

Er betet mit Nachdruck, mit Beharrlichkeit und großer Erwartung (Mt 7,7-11). Und er zweifelt nicht daran, dass alles, was Gott zusagt, auch geschehen wird (Mt 8,5-13). Wenn Lasten auf ihm liegen, geht er zu Christus, um sie bei ihm abzuladen (Mt 11,28-30). Und wenn er Schuld trägt, zweifelt er nicht, dass Christus sie vergeben kann (Mt 9,1-8). Er weiß, dass ihm ohne Wissen und Zulassung Gottes rein gar nichts geschieht (Mt 10,29-31). Und er ist sicher, dass dort, wo Gottes Sohn und Gottes Geist einziehen, alles Böse weichen muss (Mt 12,22-30). Der Gerechte teilt, was er hat, und ist gewiss, dass es reichen wird (Mt 14,13-21). Die Barmherzigkeit, die er von Gott erfährt, lässt er auch anderen gegenüber walten (Mt 18,21-35). Er hält sich nicht für groß und bedeutend, sondern denkt gering von sich selbst (Mt 18,1-5). Und wenn er in etwas der Erste sein will, dann im Dienst an den Anderen (Mt 20,20-28; Mt 23,8-12). Er denkt von niemandem, dass er für Gottes Reich zu klein, zu dumm oder zu unbedeutend sei (Mt 19,13-15). 

Der Gerechte liebt Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt (Mt 22,37). Und er streitet leidenschaftlich für Gottes Haus und die Reinheit des Gottesdienstes (Mt 21,12-13). Er ist getauft (Mt 3,13-17) und feiert im Abendmahl den neuen Bund (Mt 26,17-30). Er ist nachsichtig, duldet deswegen aber nicht die Sünde mitten in der Gemeinde, sondern dringt auf Korrektur der Fehler (Mt 18,15-18). Er gewinnt Menschen für den Glauben und sammelt sie für Gottes Ernte (Mt 4,18-22; Mt 9,35-38). Er achtet sorgsam darauf, keinen Gläubigen vom Weg abzubringen (Mt 18,6-7). Aber er vergeudet das Heilige auch nicht an jene, die es nicht zu schätzen wissen (Mt 7,6; Mt 10,11-15). 

Er traut keinem, der nur gut redet, ohne gut zu leben – und passt auf, selbst nicht so ein Mensch zu werden (Mt 7,15-23). Er lässt fromme Worte nicht als Ersatz gelten für gottgefällige Taten (Mt 21,28-32). Und er redet sich nicht ein, er wäre gut, wenn seine Werke schlecht sind (Mt 12,33-37). Er strebt nach Sanftmut, Frieden, Barmherzigkeit und Reinheit (Mt 5,1-12). Und er nutzt seine Gaben im Sinne des Schöpfers, der sie ihm gegeben hat (Mt 25,14-30). 

Der Gerechte speist die Hungrigen und gibt den Durstigen zu trinken, er nimmt die Fremden gastfreundlich auf und kleidet die Nackten, er pflegt die Kranken und besucht die Gefangenen (Mt 25,31-46). Er wendet sich von den Mühseligen und Beladenen nicht ab, sondern kümmert sich um die konkrete Not, die Gott ihm vor die Füße legt (Lk 10,29-37). Er denkt daran, dass Gott einst die Guten und Bösen auseinandersortieren wird, um die einen zu retten und die anderen zu vernichten (Mt 13,36-42). Umso hartnäckiger ist er aber im Glauben und lässt sich nicht davon abbringen (Mt 15,21-28; Mt 20,29-34). Er ist bereit, für seinen Herrn zu leiden (Mt 16,24-25), behält aber auch im Leiden die Zuversicht. Denn wenn er das Leben und die Welt verliert, wird seine Seele doch gerettet und sein Lohn ist groß (Mt 16,26-28; Mt 19,27-30). 

Wenn nun aber jemand meint, der Gerechte folgte bei alledem einer Vielzahl verschiedener Grundsätze, so wäre das ein Irrtum. Denn eigentlich ist es nur einer: der Gerechte gibt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und gibt Gott, was Gottes ist (Mt 22,21). Er ist von der Bindung an sich selbst und an die Güter der Welt so frei geworden, dass er gänzlich frei ist für Gott und seinen Nächsten. Das heißt aber: seine Gerechtigkeit besteht in der Freiheit, diesen beiden zu geben, was ihnen an Glauben und Liebe zukommt. 

 

Wichtiger Hinweis:

Wenn jemand die hier beschriebene Gerechtigkeit im vollen Sinne lebte, würde sie ihn in den Himmel bringen. Es lebt sie aber niemand. Und darum hat um ihretwillen (!) auch niemand Zugang zum Himmel. Diejenige Gerechtigkeit, die vor Gott gilt und den Sündern das Heil verschafft, ist eine völlig andere. Sie ist nicht des Christen „eigene“, sondern eine „fremde“ Gerechtigkeit, von der in den Kapiteln von der „Gerechtigkeit Gottes“ und der „Rechtfertigung“ zu handeln ist. Hier – das darf nicht vergessen werden! – ging es lediglich um Gerechtigkeit im ethischen Sinne.

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Justice

Anonym / Metropolitan Museum of Art, CC0, via Wikimedia Commons