Gewalt
Als ich 18 Jahre alt wurde, gab es noch die allgemeine Wehrpflicht. Und wie viele junge Männer stellte ich mir die Frage, ob man als Christ Soldat werden kann. Denn es war damals die große Zeit der Friedensbewegung. Viele trugen Buttons mit dem biblischen Wort „Schwerter zu Pflugscharen“. Und das Wettrüsten machte allen Sorge. War‘s da nicht fast selbstverständlich, dass man den Kriegsdienst verweigern muss? Schien nicht Gewaltlosigkeit der einzige Weg zum Frieden? Und konnte man sich dafür nicht auf Jesus berufen, der doch Feindesliebe predigt? Für mich selbst erledigte sich die Frage, weil Theologiestudenten nicht eingezogen wurden. Begleitet hat mich das Thema aber doch, weil im Neuen Testament gar nicht so eindeutig ist, wie sich Jesus zur Gewalt verhält. Die Vorstellung, dass er immer alles toleriert und geduldet habe, findet jedenfalls keine Bestätigung. Denn Jesus sagt zwar, dass man Frieden stiften, die Feinde lieben und dem Übel nicht widerstehen soll (Mt 5,9.39.43-44). Wir sollen die segnen, die uns fluchen, statt ihren Hass mit Hass zu beantworten (Lk 6,27-28). Und auch am Kreuz scheint Jesus die Gewalt seiner Feinde nur zu erdulden – obwohl er gekonnt hätte, wehrt er sich nicht (Mt 26,51-54). Doch ist Jesus durchaus nicht allen mit grenzenlosem Verständnis begegnet, sondern hat mit den Pharisäern bis aufs Blut gestritten, hat sie heftig als Heuchler beschimpft und die Schriftgelehrten provoziert. Jesus zeigte erhebliche Aggressionen und wurde bei der Tempelreinigung sogar gewalttätig, indem er sich aus Stricken eine Geißel machte, um damit die Händler aus dem Tempel zu jagen (Mt 23,1ff; Joh 2,15). Er hat auch einen Feigenbaum verflucht, so dass er in kürzester Frist verdorrte (Mt 21,19). Und er jagte hunderte von Schweinen über eine Klippe in den Tod, um damit ebenso viele Dämonen zur Hölle zu schicken (Lk 8,26ff.). Jesus hat seine eigene Familie grob zurecht gewiesen und hat ganzen Städten mit dem göttlichen Gericht und mit ihrer Vernichtung gedroht (Mk 3,31-35; Mt 11,20-24). Seine Jünger waren nicht völlig wehrlos – sie trugen durchaus ein paar Schwerter bei sich (Lk 22,36-38; Joh 18,10). Und wenn im Neuen Testament Soldaten vorkommen, wird ihnen auch gar nicht geraten, sie sollten ihren Beruf schleunigst aufgeben, sondern sie werden nur ermahnt, in der Ausübung dieses Berufes kein Unrecht zu tun (Mt 8,5-13; Lk 3,14). Als der Knecht des Hohenpriesters Jesus schlägt, hält Jesus keineswegs die andere Wange hin, sondern weist ihn scharf zurecht (Joh 18,22-24). Im Blick auf die Konflikte der Endzeit sagt Jesus: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10,34). Und bei dem Gericht, das er in der Endzeit erwartet, geht‘s auch gar nicht „gewaltfrei“ zu, sondern da wird das Unkraut verbrannt, und der Übeltäter verdammt (Mt 13,36-43.49-50; 25,41-46). Das alles will zu einem striktem „Pazifismus“ nicht passen. Und wenn darunter zu verstehen wäre, dass man Konflikte immer dadurch entschärft, dass man nachgibt – dann wäre Jesus jedenfalls kein Pazifist gewesen. Das Umgekehrte aber, dass er sich von Gewaltanwendung etwas versprochen hätte, ist noch weniger der Fall. Jesus sagt: „Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen“ (Mt 26,52). Doch ist das nicht so eindeutig, dass es Christen zu unbedingter Gewaltlosigkeit verpflichtet. Denn die staatliche Ordnung, die ohne Anwendung von Gewalt nicht aufrecht zu erhalten ist, wird im Neuen Testament bejaht (Röm 13,1-7). Sonst spielen politische Belange aber keine große Rolle. Denn Jesu Reich ist nicht von dieser Welt (Joh 18,36). Und dort, wo es um den Glauben geht, ist mit Gewalt sowieso nichts auszurichten, sondern da zählt der Geist, der entweder „heilig“ ist oder „anders“. So sagt Jesus zur Gewalt weder ja – noch sagt er immer nein. Er schließt sie nicht generell aus. Er verspricht sich aber auch nichts davon. Denn der Friede, von dem Jesus redet, kommt weder durch unseren Machtgebrauch noch durch unseren Machtverzicht, sondern er kommt von Gott oder kommt gar nicht. Jesu Haltung ist insofern verständlich. In dem, was ihn bewegt, ist Gewalt kein relevanter Faktor. Das, was er will, ist mit Gewalt weder zu fördern noch aufzuhalten. Doch freilich – ein junger Mann, der überlegt, ob er Soldat werden kann, wird davon nicht klüger. Kann man Frieden schaffen ohne Waffen? Oder sichert es den Frieden effektiver, wenn Aggressoren durch glaubhafte Drohungen abgeschreckt und in Schach gehalten werden? Verdoppelt man das Leid, wenn man auf Gewalt mit Gewalt reagiert und die Dinge eskalieren lässt? Oder muss man Gewalttätern mit Gewalt entgegentreten, damit sie nicht freie Hand haben, sich über wehrlose Opfer herzumachen? Jesus gibt uns kein Rezept an die Hand, obwohl er sich über das Dilemma sicher im Klaren ist: Wer in dieser Welt die Wölfe schonen will, verhält sich grausam gegen die Schafe, weil die den Wölfen dann schutzlos ausgeliefert sind. Und wer zum Schutz der Schafe gegen die Wölfe kämpft, wird dabei selbst zum Wolf und trägt seinen Teil zum Blutvergießen bei. Wer Gewalttäter nicht stoppt, obwohl er es könnte, wird mitschuldig an ihren Taten. Wer aber Gewalttäter mit Gewalt unschädlich macht, gerät in den Widerspruch, dass er tötet, um Töten zu verhindern. Wenn Jesus uns aber nicht verrät, wie man in dieser Zwickmühle eine weiße Weste behält, dann wahrscheinlich weil es unmöglich ist. Wir kommen da so oder so nicht sauber heraus. Denn oft sind wir gezwungen, zwischen einem kleineren und einem größeren Übel zu wählen. Und selbst wenn wir mit Augenmaß das „kleinere“ (und damit scheinbar das „richtige“) wählen, heißt das nicht, dass wir schuldlos blieben. Denn hinterher sind es immernoch unsre Hände, an denen Blut klebt – sei es nun das der Täter oder das der Opfer, denen wir nicht halfen. So werden wir schicksalhaft schuldig, ohne deswegen „entschuldigt“ zu sein. Die Realität des Bösen zwingt uns, entweder den bösen Menschen Böses anzutun oder ihr Böses durch Untätigkeit zu fördern. Wenn uns Jesus aber nicht lehrt, wie man da schuldlos herauskommen, was lehrt er uns dann? Ich vermute, wenn wir ihn fragten, würde er uns zwingen, noch einmal tiefer zu schauen und der Gewalt auf den Grund zu gehen. Denn es ist eine große Illusion, dass Gewalt wie ein Zwang von außen käme und uns im Tiefsten fremd wäre. Vielmehr kommt sie von innen herausgesprudelt aus unsrem eigenen Herzen, das an destruktiver Macht durchaus eine heimliche Lust empfindet. Wer nicht mächtig ist, Gutes zu schaffen, berauscht sich ersatzweise an der Vorstellung, er sei zumindest groß im Zerstören des Bösen. Jesus aber will unser Tun ändern, indem er zuerst die innere Haltung ändert, aus der es resultiert. Er will das Übel an der Wurzel packen. Die aber liegt nicht in gesellschaftlichen Strukturen, die man mal so eben ändern könnte. Sondern sie liegt im Menschen, der sehr wohl bereit ist, seine Wünsche auf Kosten anderer durchzusetzen. Liebt man uns schon nicht, so wollen wir wenigstens gefürchtet werden. Gibt man uns nicht, was wir für unser Recht halten, sind wir trotzig entschlossen, es uns zu nehmen. Und die eigene Lust an der Machterfahrung kümmert uns dabei mehr als der fremde Schmerz, den wir nicht spüren. In der unbedingten Selbstbejahung liegt die Bereitschaft, den anderen zu verneinen. Die direkteste Form der Verneinung ist die konkrete Vernichtung. Und von jenen, die dennoch auf Gewalt verzichten, sind viele gar nicht „friedfertig“, sondern sind sich bloß des Erfolges nicht hinreichend sicher. Hätten sie die nötige Macht, würden sie auch an ihrem Recht zur Gewaltanwendung nicht mehr lange zweifeln! Gründe finden sich immer! In der heimlichen Überzeugung, ich sollte doch wohl der Gott meiner Welt sein, träume ich davon, auch Herr über Leben und Tod zu sein! Das sind Allmachtsphantasien, die der Mensch vor sich selbst verbirgt. Doch tatsächlich nimmt sich jeder wichtig genug, um andere für sein Glück bluten zu lassen. Und so kommt der Krieg nicht aus dem „Nichts“, wie wir das so gern unterstellen. Er beginnt nicht irgendwo da draußen, wo er „ausbricht“ wie ein wildes Tier aus dem Käfig, um sich uns dann aufzuzwingen. Sondern der Krieg beginnt im eigenen Herzen, das durchaus zu hassen, zu fluchen und zu töten bereit ist, wenn ihm andere bei seiner Entfaltung im Weg stehen. Ja, wir haben Lust an der Destruktion, die uns freier atmen lässt. Wer sie leugnet, kennt sich selbst nicht! Und es braucht auch gar nicht viel, um unsere Grausamkeit zu wecken. Denn der uralte Keim so vieler böser Taten bleibt nur verborgen, wenn die Umstände günstig sind, wenn der äußere Friede überwiegende Vorteile bringt oder die eigene Kraft sowieso nicht reicht. In dem Fall, dass wir zu schwach sind, tun wir dann harmlos und spielen das Lämmchen, als wären wir viel zu „kultiviert“, um jemandem ein Haar zu krümmen. Doch diese „Kultur“ ist nur eine dünne Lackschicht. Und wer genug daran kratzt, um uns aus der Fassung zu bringen, stößt darunter sehr schnell wieder auf die Mentalität eines Neandertalers. Wir sind jederzeit wieder bereit, den Feind als Feind zu behandeln und ihn von Herzen zu verneinen, wenn das nötig wird, um uns selbst zu bejahen! Wir wollen selbst der Gott unserer Welt sein. Und wir sehen auch lieber die anderen leiden, als dass wir zurückstecken. Unter passenden Umständen ist jeder von uns zu allem fähig. Und solange sich das nicht ändert, bleibt die Welt ein Schlachtfeld, und alle Friedensbemühungen sind nur Kosmetik. Sie dienen dann nur dazu, Atem zu holen und den nächsten Schlag vorzubereiten. Denn Friede kommt von innen – oder er kommt gar nicht. Wie kann sich aber meine Einstellung zu anderen Menschen ändern, wenn sie mir doch tatsächlich schaden, mir drohen und mich leiden lassen? Ich denke, was wir zuerst hassen, ist nicht der Feind, sondern das uns zugefügte Leid. Jemand mutet uns Schmerzen zu oder nimmt uns eine Freude. Wir erfahren eine Minderung unseres Lebens, sehen in dem anderen die Ursache – und schon übertragen wir den Hass gegen unser Leid auf die Person, die es verursacht. Wir trennen die Person nicht von dem, was sie bewirkt, sondern sehen den Täter und seine Tat als hassenswerte Einheit. Wir wünschen ihm all das Übel an den Hals, das seine Tat verdient. Und wir fühlen uns dazu auch berechtigt. Denn selbst Gott empfindet gerechten Zorn und ist dem Bösen feind, das seine gute Schöpfung zerstört. Selbst Gott ist in diesem Sinne kein Pazifist, dass er das Böse endlos gewähren ließe! Worin besteht dann aber seine Feindesliebe? Nun, er zeigt durchaus kein Ermüden seines Zorns. Aber das ist entscheidend anders, dass Gott den Verursacher und die Wirkung seiner Taten nicht gleichsetzt, um dann beide miteinander in Bausch und Bogen zu verdammen, sondern dass er bereit ist, die Person des Verursachers vom verursachten Schaden zu trennen. Gott unterscheidet zwischen dem Täter und seiner Tat. Er unterscheidet zwischen dem Sünder und seiner Sünde. Und obwohl Gott nie aufhören wird, das Böse zu hassen, kann er dennoch den lieben, der das Böse angerichtet hat. Gottes Hass ist nicht so blind wie der unsere. Und das ändert sehr viel. Denn so wird der Mensch von Gott nicht auf seine Schuld festgelegt, sondern bekommt die Möglichkeit, seine unselige Rolle aufzugeben. Gott hat kein Gefallen am Tode des Gottlosen. Lieber ist es ihm, wenn er von seinem Weg umkehrt und lebt (Hes 33,11). Und wenn Gott auch darauf besteht, dass das bösen Tun endet, besteht er doch nicht auf dem Untergang der darin verwickelten Person. Was ist bei ihm also anders als bei uns? Gottes primäres Ziel ist nicht, dass seine Feinde vernichtet werden, sondern dass sie aufhören Feinde zu sein. Gott kämpft weniger gegen die Bösen als um die Bösen. Und er baut ihnen sogar goldene Brücken, damit sie umkehren können und nicht im Konflikt mit ihm untergehen müssen. Anders als uns verschafft ihm der Untergang seiner Feinde keine Genugtuung. Gott toleriert darum nicht das Falsche. Aber er kann denen verzeihen, die es taten. Er will sie lieber gewinnen als sie zu vernichten. Und das ist der Kern dessen, was wir uns bei Gott abschauen sollten. Feindesliebe ist die stete Bereitschaft, den Täter von seiner Tat zu unterscheiden, die Tat zu verdammen, den Täter aber möglichst zu gewinnen – und selbst im Kampf noch für ihn zu beten. Denn wir, die wir von Vergebung leben, müssen auch unseren Feinden wünschen, dass sie Vergebung erlangen. Und selbst wenn wir Gewalt gegen sie gebrauchen, um dem Bösen Einhalt zu gebieten, darf das nicht heißen, dass wir sie verdammen und verfluchen, sondern die unverdiente Gnade, die uns zuteil wurde, müssen wir auch unsren Feinden gönnen. Haben wir diese innere Haltung aber erst mal erlernt und sie von Gott „abgeschaut“, so werden unsere Handlungen ganz von selbst im Sinne Jesu sein, ob sie am Ende nun Gewalt mit einschließen oder nicht. Soldaten, Polizisten und Justizbeamte kommen nicht gänzlich ohne Gewalt aus. Manchmal ist sie nötig, um eigenes oder fremdes Leben zu schützen. Und es ist dann nicht leicht, die Situation richtig einzuschätzen. Vielleicht setzen wir auf Gewaltlosigkeit, um die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Vielleicht gebrauchen wir Gewalt, um Unschuldige zu schützen. Wenn dabei aber unsre Einstellung so ist und so bleibt, dass wir den Feind lieber gewinnen würden als ihn nur zu besiegen, dann wird es halbwegs in Ordnung sein. Wir verzichten auf Waffen – oder wir gebrauchen sie. Und in vielen Fällen ist beides mit Schuld verbunden. Doch selbst wenn wir in einem Fall von Selbstverteidigung legitime Gewalt anwenden, darf uns das Unterliegen des Angreifers nicht fröhlich machen, und sein Schaden darf nicht unsre Freude sein. Eine andere Lösung, die böses Tun unterbindet, ohne den Täter zu verletzen, müssen wir jederzeit vorziehen. Und ein guter Test, ob wir die Grenze zum Hass überschreiten, ist, ob wir für unseren Feind noch beten können. Denn auf die Dauer kann man keinen hassen, für den man betet – das funktioniert nicht! Und wo der Hass wirklich keinen Raum mehr hat, da nähern wir uns einer Haltung, die wir als Christen auch in gewalttätigen Konflikten verantworten können. Beschämend bleibt die Sache aber so oder so. Denn dass die niederträchtigen Impulse des Menschen oft nur mit blanker Gewalt im Zaum zu halten sind, stellt ja uns allen ein bedrückendes Zeugnis aus. So schlimm ist es um das menschliche Herz bestellt, dass unsre Gier oft nur durch vorgehaltene Waffen gebremst werden kann. So übel steht es um uns, dass oft nur angedrohte Gewalt uns zum Guten zwingt. Lässt man den Menschen aber von der Kette, ist er grausamer als jedes Tier. Und das bleibt eine deprimierende Tatsache. Im Grunde taugen wir gar nicht für den Frieden, den wir uns wünschen. Und so können wir uns nur immer wieder wundern, dass Gott sich so erbarmungsloser Kreaturen trotz allem erbarmen will. Er, der einmal alle Tränen trocknen und alle Wunden verbinden wird, er, der uns weder als Täter noch als Opfer sehen will – er stehe uns bei.
Bild am Seitenanfang: Wounded Warrior in the Snow
Helene Schjerfbeck, Public domain, via Wikimedia Commons