Leben in Hierarchien
- Der Knecht steht über dem Meister -

Leben in Hierarchien

Das Neue Testament gilt in vielerlei Hinsicht als „schwierig“. Aber wenn man Menschen mal richtig auf die Palme bringen will, liest man ihnen am besten die „Haustafeln“ vor (Eph 5,21-6,9; Kol 3,18–4,1; 1. Petr 2,18–3,7). Denn dann ist ein Sturm der Entrüstung garantiert, und alle, die sich für „progressiv“ halten, bekommen Schaum vor dem Mund, weil das Neue Testament in Hierarchien denkt und an deren Überwindung so gar kein Interesse zeigt. Im Gegenteil! Die Frauen sollen sich ihren Männern unterordnen, wie die Männer sich ihrerseits Christus unterordnen. Die Kinder sollen ihren Eltern gehorsam sein wie die Eltern der Obrigkeit im Staat. Und nicht einmal die Sklaven werden ermutigt, gegen ihre Herren aufzubegehren, sondern werden aufgefordert, ihre niedere Stellung zu akzeptieren und ihren Herren brav zu dienen. Natürlich sollen die übergeordneten Personen die untergeordneten liebevoll, fair und gut behandeln. Aber auch wenn sie‘s nicht tun, sollen die Untergebenen ihre Herren ehren und ihnen willig gehorchen. Denn einem jedem ist sein Stand von Gott zugewiesen, damit er darin seinen Glauben bewähre. Das kann man heute nicht mal „referieren“, ohne wütende Proteste zu ernten. Sofort will jemand diese Texte verbieten und aus der Bibel tilgen. Denn man ist ja stolz darauf, das patriarchalische Denken überwunden zu haben. Man ist stolz auf die demokratische Gleichstellung aller Bürger, auf die Abschaffung von Standesgrenzen und die Emanzipation der Frau. Und das Letzte, was man hören will, ist, dass sich der Mensch in gottgewollte Ordnungen fügen soll. Denn das erscheint dem autonomen Subjekt indiskutabel. Und überhaupt gilt ihm schon als bedenklich, dass Gott so einfach ohne demokratische Legitimation regiert! Da soll es nun auch noch sein Wille sein, dass die Obrigkeit im Staat den Untertanen etwas zu sagen hat? Die Männer sollen über den Frauen stehen, die Eltern über den Kindern und die Herren über ihren Knechten? Um Himmels willen denkt man – ist das Neue Testament so reaktionär, dass mit diesem Teil seiner Botschaft auch der Rest als „überholt“ gelten muss? Oder sollten wir aus Respekt vor der Bibel zu Lebensformen zurückkehren, die in der Antike üblich waren? In der Regel kann man solche Fragen gar nicht mehr stellen, weil der Blutdruck zu hoch gestiegen ist – und unter dem Tisch werden die Messer gewetzt. Doch davon ändern sich die Texte nicht. Und ich fürchte, man hat sie vor lauter Aufregung auch gar nicht verstanden. Denn wenn das Neue Testament nicht im Sinne der französischen Revolution von einer Gleichheit der Menschen ausgeht, dann liegt das nicht bloß daran, dass die Heilige Schrift in der „unaufgeklärten“ Antike entstand, sondern es hat tiefere Gründe. Es hat damit zu tun, dass in Gottes großer Schöpfung tatsächlich nicht alle Geschöpfe „gleich“ sind – und auch gar nicht „gleich“ sein sollen. Denn uniforme Gleichheit wäre schrecklich langweilig. Und sie würde zu Gottes überbordender Kreativität auch gar nicht passen. Die reiche Phantasie des Schöpfers bringt keine Kopien hervor, sondern Originale. Und deren grundsätzliche Vielfalt ist (genau wie die Verschiedenheit von Mann und Frau) keinesfalls als Unglück oder Unrecht anzusehen, sondern gehört zum bunten Reichtum der Schöpfung. Die Verschiedenheit der geistigen und leiblichen Konstitutionen, der Begabungen und Talente, der Lebensalter und Geschlechter ist vom Glauben her zu bejahen, so dass wir Gott dafür preisen und rufen: „Gott sei Dank sind nicht alle Menschen gleich!“ Wenn die gottgewollte Verschiedenheit dann aber dazu führt, dass nicht jeder Mensch jede Rolle gleich gut ausfüllen kann, sondern einer auf die Kräfte und Begabungen des anderen angewiesen ist und der Ergänzung durch den anderen bedarf – was ist falsch daran? Der eine taugt eher für dies, der andere für das. Wer alt aber gebildet ist, eignet sich besser zum Lehrer als das Kind, während das Kind mit seinem unverbrauchten Verstand einen viel besseren Schüler abgibt als der Greis. Männer mit groben Händen sollten eher nicht versuchen, Pianisten oder Uhrmacher zu werden. Und sensible Künstlernaturen macht man unglücklich, wenn man sie zwingt, im Schlachthof zu arbeiten. Es taugt eben nicht jeder zu allem! Wenn die sozialen Ordnungen aber solche Unterschiede abbilden, ihnen Rechnung tragen und damit das Zusammenleben strukturieren – tun sie damit dann Unrecht? Können Meister und Lehrling so einfach die Plätze tauschen? Kann die Mutter mal eben das Kind vertreten – oder das Kind die Mutter? Kann jeder von uns eine große Firma führen, eine Schule oder einen Staat? Und ist es für jene, die das weder können noch wollen, nicht durchaus komfortabel, wenn sie von anders Begabten auf gute Weise geführt werden? Es ist eine triviale Beobachtung – aber verschiedene gesellschaftliche Rollen ergeben sich aus der natürlichen Verschiedenheit der Menschen. Und die Ungleichheit zwischen ihnen wächst ständig nach, weil jeder als Individuum geboren wird. Durch Erziehung und Schulbildung all diese Ungleichen „gleich“ zu machen, ist noch nie gelungen. Und „schlimm“ wäre das auch nur, wenn man folgern wollte, die so verschiedenen Menschen seien deshalb auch verschieden viel wert. Denn da liegt der Hund begraben! Das ist der eigentliche Fehler! Nicht etwa das ist „böse“, dass man Unterschiede sieht, sondern wenn man aufgrund dieser Unterschiede jemandem die Achtung verweigert. Nicht das ist verkehrt, Unterschiede im Wesen zu erkennen, sondern nur das ist falsch, daraus Unterschiede in der menschlichen Würde abzuleiten. Und eben diesen Fehler finden wir im Neue Testament nirgends. Sondern wir finden, dass die offenkundigen Unterschiede im Wesen und im Stand der Menschen gerade keinen Unterschied machen hinsichtlich ihrer Würde vor Gott. Männer und Frauen, Eltern und Kinder, Herren und Knechte gelten keineswegs als „gleich“ – und sind im Neuen Testament auch nicht „gleichberechtigt“. Aber „gleichwertig“ sind sie allemal, haben die gleiche Würde und den gleichen freien Zugang zu Gott in Jesus Christus. Denn wo es um den Glauben geht, sagt Paulus ausdrücklich: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Man bemerke, wie weit der Apostel da geht! Wo es sich um Heil und Unheil dreht, ist das Geschlecht überhaupt nicht relevant, die ethnische Herkunft ist egal, die Hautfarbe spielt keine Rolle, die Bildung nicht, das Alter nicht – und schon gar nicht Reichtum oder gesellschaftlicher Rang! Denn in Christus ist keiner höher oder tiefer, sondern hier stehen alle als Glaubensgeschwister auf einer Ebene. Sie alle sind Sünder, sie alle sind begnadigt. Sie alle sind verwerflich, werden aber um Christi willen nicht verworfen! Wenn sie dann aber durch Gottes Gnade alle von gleichem Wert sind und die gleiche Würde besitzen – heißt das dann, dass sie auch ansonsten von gleicher Art und gar nicht mehr „verschieden“ wären? Nein! Das ist nicht so, es folgt auch nicht daraus und wäre nicht mal wünschenswert, sondern all diese Gleichwertigen, die sich als Kinder Gottes auf demselben Level befinden, sind ihrer sozial Funktion nach immernoch verschieden und können es auch ruhig bleiben. Es macht nichts. Denn wenn Herr und Knecht, Kind und Greis, Mann und Frau in der Gesellschaft verschiedene Rollen ausfüllen, tut das ihrer Gleichwertigkeit vor Gott keinen Abbruch. Tut es das aber nicht – welchen Grund hätte Jesus gehabt, oder welchen Grund hätte Paulus gehabt, soziale Ordnungen auf den Kopf zu stellen, die schon das Alte Testament als von Gott gegeben anerkennt? In diesem Sinne ist das Neue Testament überhaupt nicht „revolutionär“. Es erwartet vom kommenden Reich Gottes viel mehr als von einem politischen Wandel der im römischen Reich bestehenden Verhältnisse. Nicht darin sieht es das Problem, dass in der sozialen Struktur jeder einen über sich und einen unter sich hat, sondern darin, dass der Einzelne im Herzen verkehrt und von Gott entfremdet ist. Und so erachtet das Neue Testament ein Leben in Hierarchien auch gar nicht als entwürdigend. Denn die Frau steht da nicht anders unter dem Mann, als der Mann unter Christus steht, der Knecht unter dem Herrn und das Kind unter den Eltern. Da aber alle trotz sozialer Verschiedenheit vor Gott gleichen Ranges und gleicher Würde sind, empfinden die Autoren des Neuen Testaments kein Problem, sondern halten an den Hierarchien fest, weil sie die Ordnungen vom Glauben her positiv interpretieren und jeden dazu auffordern, sie auch in diesem Sinne zu leben. So wie der Schöpfer fürsorglich ist im Verhältnis zu seinen Geschöpfen, sollen die Herrscher fürsorglich für ihre Untertanen da sein, die Männer für ihre Frauen und die Eltern für ihre Kinder. Nirgends legitimiert das Neue Testament eine üble Tyrannei, sondern stets ist die Rede von einem wechselseitigen Verhältnis liebender Fürsorge und dienender Unterordnung. Wenn einem Menschen in hoher Stellung viel anvertraut ist, wird auch entsprechend viel von ihm gefordert. Gott selbst erwartet dann, dass der Begabte mit seinen Pfunden wuchert! Darin sind aber alle gleich, dass selbst der König in Gott noch jemand über sich hat, dem er sich verantworten muss – und dass selbst der ärmste Knecht stolz von sich sagen darf, dass er (mit seinen Kräften der Gesamtheit dienend) Gott gefällt. Der wichtigste Grund, weshalb das Neue Testament Unterordnung positiv bewertet, dürfte aber sein, dass Jesus Christus selbst in die Welt kam, um aus freien Stücken zu dienen. Denn das war eine „Revolution von oben“. Gott selbst – als die oberste Spitze aller Hierarchien – hat sich in seinem Sohn tief zur Erde hinuntergebeugt, um dort der gefallenen Menschheit hilfreich beizustehen. Der Einzige, der niemandem zum Dienst verpflichtet war, nahm diesen Dienst freiwillig auf sich! Er beugte seinen Rücken unter unsere Last. Und er hat seinen Jüngern solches Dienen zur Nachahmung empfohlen. Jesus sagt: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht, so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“ (Mt 20,25-28). Christliche Nächstenliebe konkretisiert sich im bereitwilligen Einsatz der persönlichen Gaben und Kräfte zum Nutzen des Nächsten. Und der rechte Platz dafür ist der mir zugewiesene Standort in meiner Familie, in meinem Beruf und im Staat. Wenn aber jeder Christ zu solchem Dienst aufgefordert ist, und somit alle gleichermaßen der Ordnung unterworfen sind, weil jeder am jeweiligen Ort jemandem übergeordnet und jemandem untergeordnet ist – warum sollte man dann aus seiner konkreten Rolle ausbrechen? Christus selbst war sich nicht zu schade, seinen Jüngern die Füße zu waschen! Und so kann die entscheidende Frage für einen Christen nicht lauten, ob er in der gesellschaftlichen Hierarchie oben, unten oder in der Mitte steht, sondern nur, ob er dort, wo er steht, seiner Aufgabe gerecht wird. Egal wer er ist – er muss niemanden beneiden und kann niemanden verachten. Denn vom größten König bis zum kleinsten Hilfsarbeiter ist da weit und breit keiner, der im Gefüge keine Verantwortung trüge! Jeder empfängt mit seinen Gaben auch Aufgaben. Jedem ist Liebe und Sorgfalt geboten. Und auch darin sind alle gleich, dass sie Gott Rechenschaft schulden. Wenn dann aber einer den ganzen Tag Toiletten reinigt und dabei an seinem Ort seinen Glauben bewährt, steht er weit höher als der Generaldirektor, der an seinem Ort vielleicht nur den eigenen Vorteil sucht. Denn wichtig ist für das Neue Testament nicht die Veränderung der bestehenden Ordnung, sondern die Bewährung des Glaubens in der Ordnung. Die Frage ist nicht, welche Rolle einer hat, sondern ob er die, die er hat, mit Hingabe ausfüllt. Es zählt vor Gott nicht der messbare Erfolg seines Tuns, sondern der Geist, der ihn treibt. Es kommt nicht auf die konkrete Position an, sondern auf die Bereitschaft, sich in jeglicher Position dem Nächsten nützlich zu machen. Und ein ungeschickter Paketbote, der um Gottes und der Menschen willen sein Bestes gibt, verdient dafür mehr Achtung als ein Universitätspräsident, der mit glänzenden Leistungen nur seine Eitelkeit befriedigt. Herrscht einer, so soll er das in Liebe tun, und gehorcht einer, so eben auch in Liebe – nämlich nicht um eines Zwangs, um der Anerkennung oder um des Lohnes willen, sondern um Gottes willen, um so oder so für Gottes gute Ziele brauchbar zu sein. Ist das aber das eigentliche Ziel – und hat Gott mir die nötigen Talente gegeben, um meine Rolle auszufüllen – warum soll ich mir dann eine andere wünschen? Stiege ich in eine Höhe hinauf, die mich überforderte, was wäre damit gewonnen? Und befehligte ich dann hundert andere, die meinen Job besser beherrschen als ich, was wäre das für ein kläglicher Triumph? Das Heil, auf das es Christen ankommt, erlangt man weder durch eine Karriere mit Ellenbogen noch durch soziale Umwälzungen, sondern durch den Glauben. Und Machtkämpfe führen in der Regel nur dazu, dass die Unterdrückten von heute die Unterdrücker von morgen werden. Jesus aber will niemand durch niemand unterdrückt sehen. Sondern er will, dass einer dem anderen fürsorglich beisteht und jeder drauf schaut, was sein Mitmensch gerade braucht. Diesem Geist der Liebe widerspricht der Machtmissbrauch innerhalb der Ordnung genauso wie die brachiale Selbstdurchsetzung gegen alle Ordnung. Und auch die gut gemeinte Gleichmacherei führt nicht weiter. Denn wenn man aus der Gleichwertigkeit der Menschen folgert, sie müssten sich unbedingt auch in der sozialen Rolle gleichen, ignoriert man ihre gottgewollte Verschiedenheit. Wenn man aber aus ihrer Verschiedenheit folgert, die Menschen seien auch verschieden viel wert, übersieht man, dass ihnen vor Gott die gleiche Würde zukommt. Was aus alledem für den gesellschaftlichen Wandel folgt und für das Verhältnis der Geschlechter, mag sich jeder selbst beantworten. Nur sollte klar sein, dass es vom Glauben her weniger auf die Veränderung der Ordnung ankommt als auf die Bewährung des Glaubens in der Ordnung. Das Heil liegt nicht in den „Strukturen“ – weder in der Bewahrung der neuen noch in der Wiederherstellung der alten. Worauf es aber ankommt, ist der Wille, am gegebenen Ort verantwortlich und hilfreich zu sein. Für Christen zählt nicht „oben“ oder „unten“, sondern es zählen Dienst und Liebe. Nicht wo wir stehen, ist wichtig, sondern welcher Geist uns treibt. Dass es aber immer ein „oben“ und ein „unten“ gibt, ist an sich noch kein Problem. Und dem hierarchischen Denken als solchem kann sich ein Christ auch gar nicht verweigern. Denn Gott wird ewig „oben“ sein – und wir sind ewig „unter“ ihm. An diesem Gefälle ändert sich selbst im Himmel nichts. Und wer das schon zu „autoritär“ findet, wird den christlichen Glauben sowieso nie verstehen. Gibt es in der Bibel also keine Sozialkritik? Doch, sehr viel sogar! Die Propheten fordern mit Nachdruck, die Armen, die Witwen und Waisen gut zu versorgen. Ihr Recht darf nicht durch die Gier der Mächtigen oder durch bestechliche Richter gebeugt werden (Am 5,11-15; Mi 7,1-7; Jes 10,1-4). Und auch das ist für die Antike ungewöhnlich, dass sich die Frauen und die Leibeigenen in der christlichen Gemeinde mit allen anderen auf Augenhöhe befinden. Standesunterschiede spielen vor Gott keine Rolle, denn alle Christen sind Sünder – und allen muss Gnade zugesprochen werden, die sie nicht verdienen. Dass es ansonsten aber in der Gesellschaft feste Ordnungen gibt, ist aus christlicher Sicht kein Grund zur Empörung. Denn viele dieser Ordnungen gehen direkt auf Gottes Schöpfung und Gesetzgebung zurück. Wo immer der Einzelne steht, hat er freien Zugang zum Heil. Und wenn Strukturen dennoch unglücklich machen, spricht das weniger gegen die Ehe, die Elternschaft, die Arbeit oder den Staat, als gegen uns, die wir als Sünder etwas Ungutes draus machen. Wer das verstanden hat, kann natürlich immer noch „dagegen“ sein. Doch der Grundgedanke des Neuen Testaments wird davon nicht schlechter. Menschen können verschieden sein, ohne darin einen Makel zu sehen.                           

 

 

Bild am Seitenanfang: Anonymer Meister,

Christ on a donkey and the Pope on a horse,

Museum Catharijneconvent, Public domain, via Wikimedia Commons