Pflicht
Ist ihnen aufgefallen, dass heute zwar jeder seine Rechte kennt, man aber immer seltener von Pflichten spricht? Die UNO deklariert Menschenrechte – und die sind zurecht ein großes Thema. Aber wann kommt endlich eine Charta der Menschenpflichten? Gibt‘s die etwa nicht? Oder sind uns „Pflichten“ so unangenehm, dass wir selbst das Wort schon meiden? Tatsächlich klingt es nach Gehorsam, Zwang und Druck. Und so werden wir an unsre „Pflicht und Schuldigkeit“ nur ungern erinnert. Schulpflicht, Wehrpflicht, Meldepflicht, Steuerpflicht – daran will man nicht ständig denken. Und wenn auch noch Pflichten gegen Gott dazukommen, stöhnt man unter der Last. Aber was besagt das Wort überhaupt? „Pflicht“ meint doch wohl, dass ich schuldig bin, etwas zu tun, und es nicht unterlassen kann, ohne mich einem Vorwurf auszusetzen. D.h. es besteht mir gegenüber eine Erwartungshaltung, die ich nicht zurückweisen kann, weil ich die Instanz achte, die da Erwartungen an mich richtet. Und so unterliege ich dann einem „Sollen“, dem ich entsprechen muss, wenn nicht die Integrität meiner Person fraglich werden soll. Ich weiß mich verpflichtet, dies und das zu tun. Und dieses Wissen liegt als Last auf meinen Schultern, weil es meiner Natur viel eher entspräche, statt meiner Pflicht irgendwelchen Neigungen und Launen zu folgen. Es kommt mir natürlicher vor, das zu unterlassen, was Unlust bereitet, und zu tun, was Freude macht. „Pflicht“ aber ist das davon unabhängig Gebotene, das zwar nicht gegen meine Neigung gehen muss, das aber – auch wenn‘s gegen meine Neigung geht – nichts von seinem Ernst und seiner Verbindlichkeit verliert. Ja, „Pflicht“ ist genau das, wogegen mangelnde Neigung als Argument prinzipiell nicht angeführt werden kann. Pflicht fragt nicht danach, ob ich Lust habe! Und doch ist die Übernahme von Pflichten der Preis für viele schöne Dinge. Kinder zu haben ist herrlich, aber es entstehen daraus weitreichende Pflichten. Ein Amt zu übernehmen ist ehrenvoll, Autofahren macht Spaß und Heiraten ist wunderbar. Aber den damit erlangten Rechten stehen immer auch Pflichten gegenüber. Und sobald ich ein Gehalt beziehe, bin ich dafür meinem Arbeitgeber etwas schuldig. Das geht in Ordnung, könnte man sagen, denn ich kannte ja die Bedingungen und habe eingewilligt. Durch die Unterschrift unter dem Vertrag habe ich mich meinem Arbeitgeber aus freien Stücken verpflichtet – jetzt muss ich seinen Erwartungen genügen! Doch gibt es auch Pflichten, die ohne Einwilligung bestehen. Denn der Mensch hat ja z.B. Pflichten gegen seine Eltern. Die konnte er sich nicht aussuchen. Sofern er nicht auswandern will, hat er Bürgerpflichten gegenüber dem Staat, in dem er lebt. Und mancher Philosoph würde sagen, ein vernunftbegabter Mensch zu sein verpflichte uns, vernunftgemäß zu handeln. Auch Gott gegenüber sind wir ungefragt „in der Pflicht“, weil er uns nicht nur geschaffen hat, sondern auch täglich erhält, schützt, nährt und mit allen Nötigen versorgt. Der Schöpfer gewährleistet sämtliche Bedingungen unseres Daseins. Wir verdanken ihm alles, was wir sind und haben. Wir leben als Gäste auf seinem Grund und Boden. Und er kann im Gegenzug erwarten, dass wir seinen Weisungen folgen. Was passiert aber, wenn ich die selbsterwählten und die mir auferlegten Pflichten leugne, die Anerkennung verweigere und pflichtwidrig handle? Dann stehe ich sofort in einem äußeren Konflikt mit der verpflichtenden Instanz. Und ein innerer Konflikt kommt hinzu, weil ich „gegen bessere Einsicht“ handle – und somit gegen die Stimme meines Gewissens. Ich verstoße dann gegen Grundsätze, die ich eigentlich bejahe. Und das ist unvernünftig. Denn wenn ich mich gültigen Pflichten entziehe, kommt es zum Konflikt zwischen dem, was mein Kopf einsieht, und dem, was meine Hände tun – wobei dann die Hände dementieren, was der Kopf als wahr erkannt hat –, so dass ich jedenfalls nicht mehr „integer“ bin, sondern Kopf und Hände einander Lügen strafen (vgl. Röm 7,14-25). Das ist kein gutes Gefühl! Wenn einer nachfragt, können wir unsre mangelnde Konsequenz nicht erklären. Und sie entspricht auch keineswegs dem positiven Bild, das wir von uns haben. In der Pflichtverletzung blockieren wir uns durch gegensätzliche Impulse. Und so ist es in der Regel einfacher, Pflichten gar nicht erst zu übernehmen. Sind sie aber von Geburt an gegeben, wie etwa die Pflicht zum Gehorsam gegen Gott, ist die Verbindlichkeit von solcher Art, dass ich sie nicht bestreiten kann, muss ich ihr auch genügen – oder muss innerlich daran zerbrechen, dass ich nicht bin, wie ich sein sollte. Ich entfremde mich dadurch nicht nur der Autorität, die mir das Tun des Guten zurecht als Sollen auferlegt, sondern ich zerfalle selbst als Person in eine verurteilenden und einen verurteilten Teil. Ich werde durch meinen inneren Widerspruch zum Gegenstand der eigenen Verachtung. Und zuletzt muss ich zugeben, dass jene Recht haben, die mich einen „Heuchler“ und einen „schwachen Charakter“ nennen. Denn tatsächlich bringe ich meine Überzeugungen und meine Handlungen nicht in Übereinstimmung – und bin damit menschlich wie moralisch bankrott. Das ist ein düsteres Bild, wenn sich der Menschen in unerfüllte Pflichten verstrickt, wenn er berechtigte Erwartungen enttäuscht und dort fehlt, wo man auf ihn zählte! Doch zum Glück müssen wir dabei nicht stehenbleiben. Denn wenn wir einen Schritt zurückgehen und genauer hinschauen – was ist dann der zentrale Inhalt der uns von Gott auferlegten Pflicht? Im Evangelium entdecken wir Überraschendes und Befreiendes. Denn eigentlich verpflichtet uns Christus nur zu dem, wovon wir selbst den größten Nutzen haben. Und dem zu gehorchen, kann eigentlich nicht schwer sein, weil‘s ja im eigenen Interesse liegt: Wir sollen Gott von ganzem Herzen lieben und seinem Sohn folgen, damit uns Gottes Geist erfüllt. So entsteht in uns der Glaube, der Vergebung erlangt. Dieser Glaube aber bringt uns Frieden mit Gott, Erlösung, Freiheit und ewiges Leben. Und so besteht unsre höchste Pflicht eigentlich darin, uns retten und uns die Gnade Gottes gefallen zu lassen. Statt in einem sinnlosem Kampf gegen Gott zu streiten, sollen wir uns ihm ergeben, sollen die Seite wechseln und Gottes Freunde werden. So lautet seine Weisung! Wer könnte darin aber eine „Last“ sehen? Oder wer wollte sich weigern, eine Pflicht zu erfüllen, die ihm so sehr zum Vorteil gereicht? „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ – so lautet der Befehl (2. Kor 5,20). Und doch ist dieser Befehl zugleich eine Einladung der freundlichsten Art. Denn wir sollen ja nach dem Reich Gottes trachten, um in das Reich einzugehen, und sollen dem guten Hirten folgen, damit er uns schützen kann. Wir sollen bitten, damit wir empfangen, und anklopfen, damit uns geöffnet wird. Wir sollen durch die enge Pforte schlüpfen, um der Verdammnis zu entgehen. Und wir sollen unser Haus auf Fels bauen, damit der Sturm es nicht umstürzen kann. Wir sollen Christus bekennen, damit er sich im Himmel auch zu uns bekennt. Wir sollen ihm unser Leben hingeben, um es so erst wirklich zu gewinnen. Wir sollen mit unseren Lasten zu Christus kommen, damit er uns erquickt. Und wir sollen jeden Versuch uns zu rechtfertigen unterlassen, damit Christus um so wirkungsvoller unsere Verteidigung übernehmen kann. Wir sollen uns in seine Hand geben, damit wir uns nicht mehr fürchten müssen. Und wir sollen ihm die Füße hinhalten, damit er sie waschen kann. Wir sollen als Reben ganz dicht am Weinstock bleiben, damit wir viel Frucht bringen. Wir sollen Liebe tun, auf dass uns Liebe umfängt. Und wir sollen bis ans Ende beharren, damit wir selig werden. Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene. Christus gibt sein Leben zu einer Erlösung für viele (Mt 20,28). Und was er uns als zentrale Pflicht auferlegt, ist das fröhliche Einverständnis, ihm bei der eigenen Rettung nicht im Weg zu stehen. Aber kann man das überhaupt „Pflicht“ nennen, so eine Wohltat zu empfangen? Man mache sich nur klar, wie seltsam das ist! Weil Gott uns alles gegeben hat, könnte er auch alles von uns fordern. Und doch gereichen die Pflichten und Dienste, die wir ihm schulden, allein dem Menschen zum Nutzen (Johann Arndt). Denn Gott in eigener Person hat unseren Dienst gar nicht nötig. Er selbst in seiner Vollkommenheit bedarf dessen nicht, dass wir etwas für ihn tun. Und so zielt das, was er uns an Pflichten auferlegt, ausschließlich auf den Vorteil des Menschen. Der Schöpfer selbst hat nichts davon – wir Geschöpfe aber (wenn wir gehorchen) umso mehr. Denn unsre Pflicht ist es, dem Ruf Christi zu folgen und ihm in treuem Glauben anzuhängen. Wir sollen das tun, damit er sein erlösendes Werk an uns vollbringen kann. Und wir müssten dumm sein, dieser Pflicht nicht gern und fleißig zu genügen. Denn Gott fordert nur das, was uns Gott näher bringt. Weil wir seine Nähe brauchen, ist der Gehorsam in unsrem Interesse. Und so kommt das, was der Mensch will, und das, was er soll, so sehr zur Deckung, dass jenes quälende Gefühl des Widerstrebens, das andere Pflichten drückend macht, gar nicht erst entsteht. Christus will auch gar nicht, dass wir ihm mit saurer Miene folgen und uns zu etwas zwingen, sondern möchte, dass wir aus dem Konsens heraus mit vollem Einverständnis dasselbe wollen wie er – und schon aus eigenem Impuls täten, was er uns gebietet, selbst wenn er‘s nicht ausdrücklich geboten hätte. Aus Liebe zum Guten sollen wir’s tun! Denn welchen Wert hätte ein heuchlerischer Gehorsam, bei dem einer nur um des Lohnes willen folgt – oder aus Angst vor Strafe? Auf die Art gehorchen Söldner, Sklaven, Knechte! Christus hingegen will einen frohen Gehorsam aus Überzeugung. Denn wie könnte man Gott und die Menschen lieben – aus „Pflichtgefühl“? Das geht nicht. Und Gott will es auch gar nicht. Darum erfüllt er uns mit der Kraft seines Geistes, wandelt unser Herz und belohnt am Ende lauter gute Werke, die er selbst durch uns tat. Mit „lustloser Pflichterfüllung“ hat das nichts zu tun, sondern mit einem Enthusiasmus für das Gute, der gern tut, was ihm geboten ist, und auf ungezwungene Weise integre Menschen macht. Gehorsam und Freiheit sind eins, wenn man begreift, welcher Segen in Gottes Forderungen liegt. Und an den Zehn Geboten kann man das leicht zeigen:
+ Die Pflicht, nur dem einem Gott anzuhängen, ist eigentlich ein Privileg. Denn wer nichts wichtiger nimmt als den einen Gott, der unser Vertrauen verdient, wird niemals von ihm enttäuscht.
+ Die Pflicht, keine Gottesbilder zu fertigen, ist eigentlich ein Privileg. Denn wenn wir in Christus das wahre Ebenbild des Vaters erkennen, müssen wir über Gottes Wesen nicht länger spekulieren.
+ Die Pflicht, Gottes Namen zu heiligen, ist ein Privileg. Denn wo wir uns zum Dreieinigen bekennen, ziehen wir das Heilige nicht in den Dreck und heben das Profane nicht in den Himmel.
+ Die Pflicht, den Feiertag zu heiligen, ist ein Privileg. Denn wenn wir in der Kirche unsere Gottesbeziehung pflegen, investieren wir bloß ein bisschen Zeit und gewinnen dafür die Ewigkeit.
+ Die Pflicht, unsere Eltern zu ehren, ist ein Privileg. Denn in denen, die uns das Leben weitergaben, ehren wir den Schöpfer, der durch sie an uns gehandelt hat.
+ Die Pflicht, nicht zu töten, ist ein Privileg. Denn wer nicht das Unglück andrer sein will, entgeht dem Fluch, der den Mörder treffen muss.
+ Die Pflicht, die Ehe nicht zu brechen, ist ein Privileg. Denn so schätzen wir den Partner als Geschenk Gottes, das wir durch unsre Treue heilig halten.
+ Die Pflicht, nicht zu stehlen, ist ein Privileg. Denn Gott verspricht, so gut für uns zu sorgen, dass wir nicht auf Kosten anderer leben müssen.
+ Die Pflicht, immer die Wahrheit zu sagen, ist ein Privileg. Denn Gott selbst ist die Wahrheit, und wer zu ihm gehört, muss das Licht nicht scheuen, sondern darf sich für Lügen zu schade sein.
+ Und selbst die Pflicht, kein fremdes Gut zu begehren, ist ein Privileg. Denn wer sich an dem genügen lässt, was Gott ihm schenkt, ist frei von neidischer Gier und zufrieden wie ein König.
In alledem fordert Gott nur, was uns ihm näher bringt. Er verpflichtet uns nicht zu seinem, sondern zu unsrem Vorteil. Und das ist von seiner Seite ebenso freundlich, wie es von unserer Seite vernünftig ist. Denn Pflichterfüllung läuft darauf hinaus, dass wir jeden Gegenstand als genau das behandeln, was er in Wahrheit ist: dass wir also das Wichtige wichtig nehmen, das Schöne bewundern, das Widerliche verabscheuen, das Heilige ehren, das Lächerliche belachen, das Böse meiden, das Schwache schützen – und in alldem zugleich unserer Einsicht und Gottes Autorität gehorchen. Nicht er gewinnt dabei, sondern wir. Denn das Schlechtere dem Besseren vorzuziehen, bringt einen Menschen in Gegensatz zur eigenen Erkenntnis. Wo einer seine Pflicht vernachlässigt, handelt er, als ob das Böse irgendwie besser wäre als das Gute. Und das ist irrational. Denn eigentlich sollte uns das Beste auch immer das Liebste sein. Die „Theologia deutsch“ formuliert es so: „Das Beste sollte das Liebste sein. Und in dieser Liebe sollte nicht angesehen werden Nutzen oder Nachteil, Vorteil oder Schaden, Ehre oder Unehre, Lob oder Tadel oder irgendetwas derartiges. Sondern was in Wahrheit das Edelste und das Beste ist, das sollte das Liebste sein und nicht anders als dessentwillen, dass es das Beste und das Edelste ist. Hiernach sollte ein Mensch sein Leben richten von außen und von innen“ (Theologia deutsch, 6. Kap.). Das Beste sollte uns das Liebste sein, selbst wenn wir keinen Vorteil davon hätten. Denn das Schlechtere dem Besseren vorzuziehen – ist das nicht Irrsinn? Das Wahre „falsch“ zu nennen und das Falsche „wahr“ – ist das nicht krank? Das als „heilig“ Erkannte zu missachten und dafür etwas „Profanes“ anzubeten – ist das nicht Torheit? In diesem Sinne ist Sünde weniger ein Charakterfehler als eine Geistesstörung. Denn der Sünder ist verblendet und behandelt die Dinge nicht als das, was sie sind, sondern das Leben suchend greift er nach dem Tod – und flieht vor der Pflicht, die ihm guttäte, in eine Pflichtverletzung, die ihm schadet. Das ist nicht in erster Linie „unmoralisch“, sondern vor allem irrational! Gott als Gott zu erkennen und sich anschließend durch sein Gebot nicht verpflichtet zu wissen, macht überhaupt keinen Sinn. Denn sobald ich das Heilige und Gute erkannt habe, verpflichtet es mich, der Forderung des Heiligen und Guten durch meine Lebenspraxis zu genügen, weil ja anderenfalls mein Tun unterstellt, das Heilige und Gute sei weniger, als es ist. Erkenne ich den Heiligen und Guten aber als Person, so ist ein pflichtwidriges Leben immer zugleich eine Verletzung seiner Ehre. Denn durch meinen Ungehorsam lasse ich Gott – was mich und meinen Wirkungskreis betrifft – nicht Gott sein. Ich handle, als wäre sein Wille nicht relevant. Und das heißt, ohne Worte zu lügen und durch Taten wider die Wahrheit zu streiten, weil man auf diese Weise dem Absoluten nur relative Bedeutung zugesteht, dem Relativen aber absolute Bedeutung. Das ist „gelebte Lüge“ und zugleich ein Widerspruch. Denn mag einer noch so viel von Gott reden – wenn er Gottes Anspruch faktisch nicht gelten lässt, behandelt er den maximal Relevanten als irrelevant. Und das nennt man in der Psychiatrie ein „selbstschädigendes Verhalten“. Was setzen wir aber dagegen? Es gibt einen kurzen Reim, der sagt: „Dein wahres Glück, o Menschenkind, o, glaube doch mitnichten, dass es erfüllte Wünsche sind: es sind erfüllte Pflichten“ (F. K. von Gerok). Das geht in die richtige Richtung. Eine echte Konkurrenz zwischen Wünschen und Pflichten kann es im Christentum aber gar nicht geben. Denn – wie gezeigt – hat uns Gottes Barmherzigkeit genau das zur Pflicht gemacht, was wir uns bei klarem Verstand auch wünschen müssen. Sein Gebieten ist also hilfreich. Und nur an unsrer Einsicht mangelt es.
Bild am Seitenanfang: Maultier mit Heuwagen
Géza Mészöly, Public domain, via Wikimedia Commons