Scham, Schande und Erröten
Haben sie ein ausgeprägtes Schamgefühl? Können sie noch so richtig rot werden? Möchten sie bei einer Blamage im Boden versinken? Oder ist ihnen schon gar nichts mehr peinlich? Keine Sorge – ich stelle die Frage nicht aus konkretem Anlass. Aber wichtig finde ich sie doch. Denn sich schämen zu können, ist durchaus keine Schwäche, sondern ein Merkmal, das den Menschen vor allen Tieren auszeichnet. Es ist eine Sensibilität, die kein anderes Lebewesen hat. Es ist das Bewusstsein, nicht jedem Urteil zu genügen, dem man gern genügen würde. Und so ist es ein gutes Zeichen, wenn ein Mensch noch erröten kann. Denn es bedeutet, dass er um die persönliche Integrität weiß, die er wahren sollte – und zugleich weiß, dass ihm etwas daran fehlt. Wer sich schämt, kennt Pflichten, denen er nicht genügt, obwohl er sie anerkennt. Ihm ist bewusst, dass etwas an seiner Person schmutzig ist, das eigentlich sauber sein sollte. Er stellt sich selbst in Frage. Und die Schamesröte in seinem Gesicht beweist, dass er ein lebendiges Gewissen hat. Er ist weder völlig abgebrüht noch selbstgerecht von sich überzeugt, sondern weiß um die Geltung von Normen, die er nicht erfüllt. Und die Diskrepanz wäre ihm nicht peinlich, wenn er die Autoritäten, gegen die er sich vergeht, nicht im Grunde bejahte. In seinem Schuldbewusstsein liegt die Anerkennung der höheren Instanz, vor der er sich gern verantworten würde. Und er leidet darunter, es nicht zu können. Ungern findet er den inneren Zustand aufgedeckt, denn er lieber verhüllte. Während er sich schämt, würde er lieber von niemandem gesehen! Denn es schmerzt ihn, wenn sein Versagen vor jemandem zu Tage tritt, an dessen Urteil ihm gelegen ist. Ertappt und bloßgestellt wird er rot, weil‘s ihm schrecklich ist, hinter berechtigten Erwartungen zurückzubleiben. Wenn er könnte, würde er sich verstecken. Aber gerade dadurch beweist er, dass er kein wirklich schlechter, sondern doch noch ein ziemlich anständiger Mensch ist. Denn der wirklich seelisch Verkommene kennt gar keine Maßstäbe mehr, denen er zu genügen versuchte. Das wirkliche Charakterschwein schämt sich nicht. Vielmehr lügt er, ohne rot zu werden – und schert sich auch keinen Deut um die Würde, die ihm verloren ging. „Welche Würde?“ – fragt er. Denn bei vollendeter moralischer Abstumpfung wird der Mensch von seinem Gewissen nicht mehr geplagt. Er hat die Fähigkeit verloren, vor sich selbst zu erschrecken. Er ist sich auch für nichts mehr zu schade. Und so sinkt der Schamlose auf das Niveau des Tieres. Denn Schweine, Wölfe und Würmer sind ja ebenso „schmerzfrei“. Sie unterwerfen ihr Verhalten keiner moralischen Kritik. Sie sind schamlos ehrlich, weil das Vieh von keiner Integrität weiß, die es durch seine „Viecherei“ gefährdet. Der Mensch hingegen ist das Wesen, das erröten kann. Und dieses Erröten ehrt ihn – es zeichnet ihn aus. Denn indem er das Peinliche seines Ungenügens empfindet, legt er Zeugnis ab gegen sich selbst. Er weiß, worin er verkehrt ist, und leidet darunter, wenn’s auch andere wissen. Sich selbst fraglich geworden ist es ihm die Hölle, in den Augen anderer lächerlich oder verantwortungslos zu erscheinen. Und je berechtigter das Urteil, umso mehr quält ihn die Scham. Denn er weiß, wie schnell Menschen verachten, und fürchtet ihre Schmähungen, sobald er sich eine Blöße gibt. Die Sorge, erniedrigt zu werden, verführt ihn dann zu tausend Heucheleien und Heimlichkeiten. Er überspielt seine Schwächen, um den Schein zu wahren. Und schon macht ihn sein Schamgefühl zum Blender und Lügner. Die Lüge aber zerstört nur umso mehr die Beziehung zu den mit Autorität versehenen Personen, denen er nun nicht mehr offen in die Augen sehen kann, weil er fürchtet, sie könnten ihm bis auf den Grund seiner Seele schauen. Darum weicht das schuldbewusste Kind dem Blick der Mutter aus, sieht zu Boden und vermag den Augenkontakt nicht zu halten. Das Verheimlichte, dessen man sich schämt, soll niemand sehen. Und erst recht soll Gott unseres Ungenügens nicht gewahr werden. Darum verstecken sich Adam und Eva nach dem Sündenfall unter den Bäumen im Garten (1. Mose 3,8). Darum senkt Kain finster seinen Blick (1. Mose 4,5-7). Darum bittet Petrus erschrocken, Jesus möge von ihm weggehen (Lk 5,8), und Mose bittet den Herrn, die Verfehlungen seines Volkes nicht anzusehen (5. Mose 9,27). Gott soll wegschauen, weil wir sozusagen „nackt“ dastehen. Es ist uns peinlich bewusst, wie wenig wir seinen Maßstäben genügen. Und so kennzeichnet das Gefühl der Scham gerade gläubige Menschen, weil sie (stärker als andere) empfinden, welche Heiligkeit der Heilige von uns fordert (3. Mose 19,2; Mt 5,48). Gern würden wir verbergen, dass wir an seinen Maßstäben scheitern. Doch der Allwissende schaut in die Herzen. Und so finden wir uns seinem Blick ausgeliefert, wie der nackte Noah in seiner Trunkenheit den Blicken seiner Söhne ausgeliefert war (1. Mose 9,20-23). Man möchte im Boden versinken. Denn Schamgefühl geht nochmal tiefer als Schuldgefühl. Es ist das Bewusstsein, nicht bloß Unrecht zu tun, sondern unrecht zu sein. Darum erschrickt Jesaja darüber, dass seine unreinen Lippen Gottes Wort verkünden sollen (Jes 6,5). Darum meint der Hauptmann von Kapernaum, er sei es nicht wert, dass Jesus unter sein Dach geht (Mt 8,8). Darum wagt die blutflüssige Frau nicht, Jesus anzusprechen, sondern berührt nur heimlich sein Gewand (Mt 9,20-21). Darum traut sich der Zöllner im Tempel nicht nach vorn, sondern bleibt hinten stehen (Lk 18,13). Darum erhoffte sich auch Zachäus keinen anderen Kontakt zu Jesus als nur den entfernten Blickkontakt vom Baum herab (Lk 19,1-10). Sie alle wissen, dass sie nicht bloß Unrecht tun, sondern unrecht sind. Und doch darf man alle selig preisen, die sich auf diese Weise schämen und vor dem Heiligen erschrocken ihr Gesicht verhüllen (2. Mose 3,6; 1. Kön 19,13). Denn eben denen gilt das Evangelium und denen nimmt es ihre Schmach. Obwohl Gott unser Ungenügen sieht, will er‘s nicht etwa gegen uns verwenden, um uns zu demütigen, sondern gibt uns verlorene Würde zurück, indem er unsre Blöße bedeckt. Gott empfindet sicher Abscheu – und hat dennoch Erbarmen! Was er sieht, könnte er zum Anlass nehmen, uns zornig bloßzustellen. Denn alle Sünde ist widerlich in Gottes Augen. Er erwartet auch wirklich, dass wir sie ihm offenlegen! Aber seine Gnade besteht darin, exakt soviel, wie wir eingestehen, auch zu vergeben. Mit Ausreden muss man ihm nicht kommen. Denn was man nicht bereut, wird auch nicht vergeben. Doch die Betrübten, die aus der peinlichen Unordnung ihres Herzens keinen Hehl mehr machen, jene, die sich vor Gott in Grund und Boden schämen, hüllt er in sein Erbarmen und kleidet die geistlich Armen in die Gerechtigkeit Christi wie in einen Mantel. Ja, der Schöpfer, der in einem Akt rührender Fürsorge schon Adam und Eva mit Kleidern aus Fell versorgte (1. Mose 3,21), will auch unsere seelische Blöße bedecken. Freilich – wenn wir zu stolz sind, seine Gnade zu erbitten, und lieber selbst versuchen, unser Schändliches zu bemänteln, lässt Gott keine Nachsicht walten. Doch wo wir uns seiner Gnade ausliefern, ergeht ein Freispruch wegen erwiesener, aber von Christus getragener Schuld. Und dieses Urteil gibt dem Geständigen Würde und Integrität zurück. Denn Gottes Gnade legt uns einen Wert bei, der uns eigentlich nicht zukommt. Und wo wir unsere Verkehrtheit selbst verwerfen, gerade da verwirft Gott uns nicht, sondern lässt uns gelten. Wie stehen wir dann aber da? Nicht mehr mit gesenktem Blick, sondern mit erhobenem Haupt. Nicht mehr peinlich nackt, sondern bekleidet mit dem schönen, von Gott geliehenen Mantel der Gnade. Nicht mehr beschämt, sondern rehabilitiert und aufrecht. Denn sobald Gott uns vergibt, darf keiner mehr die Nase rümpfen. Gott will unsrer Sünde nicht mehr gedenken (Jer 31,34; Jes 43,25; Hebr 8,12; 10,17). Für ihn ist die Sache erledigt. Doch auf unserer Seite bleibt die erfahrene Gnade ein steter Anlass zum Dank. Denn einem Christen ist jederzeit noch bewusst, wie er ohne Christus dastünde. An ihm festhaltend gestehen wir ja täglich, dass wir seiner bedürfen. Von Gnade lebend können wir nicht leugnen, Gnade nötig zu haben. Und Gnade hat nur nötig, wer sich schuldig weiß! Das einzugestehen hat dann aber nichts Demütigendes mehr. Denn für alles Versäumte steht nun Christus ein. Und der will keineswegs, dass wir uns immerfort weiter schämen, sondern dass wir uns seiner Gnade freuen. So findet uns die Welt dann in der seltsamen Ambivalenz eines tiefen, aber durch Gnade bedeckten Ungenügens. Natürlich brauchen wir den Mantel der Gnade, weil wir darunter nackt sind. Ohne ihn müssten wir vor Schmach vergehen! Doch wer sich von Kopf bis Fuß in diesen Mantel einwickeln durfte – ist der wirklich noch nackt? Wenn wir uns auf Christi Gerechtigkeit berufen, gestehen wir damit, dass wir keine eigene Gerechtigkeit vorweisen können. Und das ist tatsächlich Armut. Wer aber in seiner Armut alles geschenkt bekommt, was er braucht – ist der nicht in Wahrheit reich? Ein Christ hat nichts, dessen er sich rühmen könnte außer der Gnade Gottes. Aber wenn er die hat – was braucht er noch mehr? Die Würde, die er verspielte, wird ihm ganz unverdient zurückgegeben. Und es ist allein die Zuwendung Christi, die ihn adelt. Aber darf er nicht gerade so aufrecht stehen – als einer, den Gott gelten lässt? Wo etwas verhüllt ist, zeigt die Verhüllung, dass es hier etwas zu verhüllen gab. Sie zeigt aber eben nicht das Verhüllte! Das Verhüllte bedeckend offenbart sie sein Dasein. Es offenbarend bedeckt sie es aber auch. Und Gottes Gnade tut das nicht bloß vorübergehend, sondern ein- für allemal. So lebt ein Christ nicht mehr in der schamlosen Naivität des Tieres. Er lebt aber genauso wenig im Stolz des Selbstgerechten – und auch nicht in der Selbstverachtung dessen, der im Boden versinken will. Sondern Gott hat ihn noch mal ganz anders auf die Füße gestellt und ihm stabilen Stand verliehen. Eines Christen Schande ist ihm noch bewusst. Sie wird aber von Gottes Gnade so zuverlässig bedeckt, dass er weder stolz werden noch verzweifeln kann. Vor Gott aufrecht stehend, darf er sich auch vor den Menschen sehen lassen. Und hinter diesen Zustand will er dann weder zurück noch über ihn hinaus, sondern freut sich einfach der guten Lösung, die Gott für ihn fand. Obwohl unwürdig, achtet er doch sich selbst – um der Beachtung willen, die Gott ihm schenkt. Er gründet sein Selbstwertgefühl darauf, dass Gott ihn seiner Gnade für wert erachtet. Und während er auf sich selbst gesehen durchaus noch ungenügend ist und nach weiterer Heiligung strebt, will ihn Christus doch – auch wenn ihm weiter Fehler unterlaufen – nicht mehr beschämt sehen. Denn wie Christus den Seinen Gerechtigkeit, Leben und Frieden ist, so ist er auch ihre Würde. Und eine andere Würde brauchen sie weder im Himmel noch auf Erden. Was folgt aber daraus? Die wichtigste Konsequenz dürfte sein, dass wir Schamgefühl ganz anders und viel positiver bewerten sollten, als das heute üblich ist. Wir dürfen es auch niemandem ausreden, um ihn stattdessen Dreistigkeit zu lehren. Denn erröten zu können und sich zu schämen, ist kein Ausdruck mangelnden Selbstvertrauens, sondern zuerst einmal das Zeichen eines starken Normbewusstseins und eines sensiblen Gewissens. Nur der Anständige kann sich noch schämen, während der Schamlose schon weitgehend verloren ist. Dessen Frechheit „siegt“ vielleicht auf dem Sportplatz, vor Gott aber sicher nicht. Und darum ist es gut, sich zu schämen. Nur darf man aus lebendig empfundener Scham nicht die falsche Konsequenz ziehen, indem man vor Gott flieht und versucht, ihm aus den Augen zu kommen! Wohl ist es ein natürlicher Impuls, beim Empfinden einer Blöße den Kontakt abzubrechen und wegzulaufen. Wir meiden die Beziehung, die uns überfordert. Doch bei Gott ist das verkehrt und unnötig. Denn er ist nicht von der Art schäbiger Menschen, dass er uns demütigen oder bloßstellen wollte, wenn wir Einsicht zeigen. Nein, wir müssen von ihm nicht fürchten, was wir zurecht von gehässigen Menschen erwarten. Er hat keine Freude am Blamieren und Verwerfen. Und darum wär‘s auch unsinnig, vor Gott zu heucheln. Denn einerseits weiß er längst über alles Bescheid. Und andererseits ist er der Einzige, der verlorene Würde zurückgeben kann. Wir haben zwar den Reflex, dass wir im Zustand der Verkehrtheit nicht gesehen werden wollen. Aber damit Gott unsere Wunden heilen kann, müssen wir sie ihm schon zeigen! Und darum sollte uns das Schamgefühl nicht von Gott weg-, sondern zu ihm hintreiben. Wir erröten vor niemandem mit soviel Recht wie gerade vor ihm. Und doch liegt die Lösung nicht darin, dass wir uns verschließen, sondern gerade darin, dass wir uns vor Gott öffnen. Unsere Seele liegt vor ihm wie ein aufgeschlagenes Buch. Und im ersten Moment versetzt uns das in Panik. Aber jene Einblicke, die Menschen benutzen würden, um uns „fertig zu machen“ und herabzuwürdigen, wecken in Gott die Bereitschaft, uns zu helfen. Er hat die Größe, zwischen der Person und ihren Fehlern zu unterscheiden. Er vermag die Person anzunehmen, auch wenn ihre Fehler unannehmbar bleiben. Warum also vor ihm fliehen? Wem wollen wir noch etwas vormachen, wenn doch schon unser eigenes Erröten unmissverständlich anzeigt, dass etwas nicht stimmt? Da hilft es nichts, vor Gott, sondern es hilft nur, zu ihm zu fliehen. Denn anders als die hämischen Menschen, die gern mit dem Finger auf uns zeigen, hat Gott Erbarmen. Er weiß ganz genau wie es sich anfühlt, verhöhnt und angespuckt zu werden (Mt 26,67-68; 27,27-30). Er kann uns bergen vor den Blicken der Gehässigen. Und wenn sie uns klein machen, kann er uns Größe geben. Gottes Urteil hebt jede Schmähung auf. Er kann den Spott verstummen lassen. Und so lobe ich mir alle, die noch Skrupel haben. Ja, wohl denen, die noch erröten können! Selig sind, die sich schämen! Und dreimal selig sind sie, wenn sie’s an der rechten Stelle tun! Denn geht einer in seiner Not zu Gott, wird ihm geholfen durch die Macht seiner Gnade. Die ist ein Wohlwollen, für das weit und breit kein Grund ersichtlich ist, das aber auch keines Grundes bedarf. Gnade ist die freie Zuwendung ungeschuldeter Gunst. Und auf diese Gunst hätten wir vermutlich nicht zu wagen gehofft. Wo wir sie aber trotzdem erfahren, jubeln wir umso mehr. Denn inmitten unseres Scheiterns bleibt Gott uns wohlgesonnen. Und sind wir auch tief gesunken, beugt er sich doch weit genug hinab, um uns zu sich heraufzuziehen. Er rechtfertigt nicht unsere Sünde, rechtfertigt aber den Sünder – und führt ihn auf einen besseren Weg. Er beschämt die Stolzen, die Demütigen aber bringt er zu Ehren. Und dafür sollten wir ihn lieben und loben in Ewigkeit.
Bild am Seitenanfang: 'Despair'
Bertha Wegmann (1847 - 1926), Public domain, via Wikimedia Commons