Wandel und Beständigkeit

Wandel und Beständigkeit

Ich habe nie recht verstanden, warum man den Silvesterabend mit so großem Hurra und so viel Getöse feiert. Man isst, trinkt, tanzt und freut sich, als hätten wir schon lange den Wunsch gehegt, endlich ins neue Jahr zu kommen. Aber stimmt das? Sind wir wirklich so ungeduldig – in Aufbruchsstimmung und voller Vorfreude auf Wandel und Erneuerung? Sind wir gespannt auf das, was kommt? Oder wäre nicht mancher zufrieden, das Gewohnte noch ein wenig fortzusetzen? Mir ist schon klar, dass man gegen einen Jahreswechsel wenig unternehmen kann! Aber garantiert denn jemand, dass die folgenden zwölf Monate besser werden? Oder verpflichtet uns jemand, alles Neue zu begrüßen, bloß weil es „neu“ ist? Ist das kalendarische Weiterschreiten denn immer ein „Fortschritt“? Kann’s nicht genauso gut Verfall bedeuten – oder „den Anfang vom Ende“? Junge Leute sehen es optimistischer. Und ich verstehe das. Sie werfen sich euphorisch in ein neue Jahr wie in ein frisches Hemd, das gut duftet und noch keine Flecken hat. Aufbruch entspricht ihrem Lebensgefühl! Doch die Älteren erwarten nicht mehr gar so viel. Und je länger, je mehr schätzen sie das Vertraute. Bei jedem Update auf dem Handy fragen man sich, warum das, was funktionierte, nicht einfach mal so bleiben kann. Denn mit dem Alter wird der Mensch behäbig. Er liebt das Gewohnte. Und vielleicht macht ihm die Zukunft auch Sorgen. Was soll also das große Tamtam mit dem Jahreswechsel, als hätte man drauf hin gefiebert? Ganz unfreiwillig werden wir ins neue Jahr versetzt! Vielleicht würde mancher gern sagen: „Och, nö – wandert ihr ruhig weiter, ich bleib‘ noch hier. Ich finde den gegebenen Zustand grade richtig!“ Doch, nein. So läuft es nicht. Wir werden von der Zeit vorangeschleift und müssen ungefragt die Datumsgrenze überschreiten. Dabei erinnern wir uns an manchen Freund, der letztes Jahr noch fest im Sattel saß – und nun schon auf dem Friedhof liegt. Und da sollten wir in Aufbruchsstimmung sein und voranstürmen? Doch, freilich: Dass wir die Zeit nicht anhalten können, hat tieferen Sinn. Und es ist von Gott nicht umsonst so eingerichtet, weil er mit dieser Welt noch etwas vorhat. Wir hielten gern Winterschlaf. Doch Gott hat noch weitreichende Pläne und besteht darum auf Veränderung. Er zieht uns mit voran wie quengelnde Kinder beim Spaziergang. Und wenn wir denken, wir wären längst fertig und wären genug gelaufen – dann scheucht Gott uns wieder hoch, bläst zum Aufbruch und treibt uns voran. Oder sehen wir‘s nicht in der Bibel, wie Gott vielen Menschen Änderungen zumutet, die eigentlich kein Lust haben? Noah wird nicht gefragt, ob er eine Arche bauen will. Es wird ihm einfach befohlen! Abraham ist schon 75, als er mit ungewissem Ziel seine Heimat verlassen soll. Und trotzdem muss er gehen! Joseph wird nach Ägypten verkauft und mag darüber geflucht haben. Aber es nützt ihm nichts! Mose will nicht zum Pharao. Und doch muss er Israel aus Ägypten führen! Das befreite Volk ist sehr bald fußlahm und murrt in der Wüste. Aber es muss weiter marschieren bis ins gelobte Land! Jona will definitiv nicht nach Ninive. Aber er entkommt seiner Berufung nicht! Josua soll den Jordan überschreiten, obwohl auf der anderen Seite mächtige Feinde warten. Und weil die anderen zu feige sind, muss David ganz allein dem Goliath entgegengehen! Elia legt sich todmüde unter einen Busch, um dort zu sterben. Er hat keine Lust mehr. Aber Gott macht ihm Beine und lässt ihn weiterlaufen! Der Zimmermann Joseph hat sich seine Zukunft anders vorgestellt. Doch als Maria schwanger wird, muss er mit ihr nach Bethlehem! Paulus will eigentlich Christen verfolgen und einsperren. Aber Gottes Hand zwingt ihn das Gegenteil zu tun! Viele sträuben sich und sagen: „Ach nein, Gott. Ich bin ungeeignet. Ich kann nicht gut reden. Und außerdem fehlt mir die Erfahrung. Nein im Ernst, Gott. Ich will nicht aufbrechen und neu anfangen, such dir jemand andren, ich bleibe lieber zuhause!“ Aber meinen sie, Gott hätte auch nur einen vom Haken gelassen? Nein! Genau wie wir, die wir willig oder unwillig von einem Jahr ins andere hinüber müssen, so mussten auch die in der Bibel immer weiter. Und es war ihnen nicht gestattet, Urlaub zu nehmen oder sich vertreten zu lassen. Denn Gott hatte in seinem Drehbuch noch große Dinge vorgesehen und jedem eine Rolle zugedacht. Veränderung war „dran“ – und wurde oft erzwungen. Denn der himmlische Vater will wandern. Und seine irdischen Kinder müssen mit. Genau so geht’s aber auch uns. Auch wir können nicht bleiben, wo und wie wir sind. Denn der himmlische Vater will immer weiter voran, quer durch die Jahrzehnte, immer über Stock und Stein. Der Schöpfer ist nicht zufrieden, bis die Welt endlich einmal ist, wie er sie haben will. Und darum lässt er uns nicht in Ruhe, weil er mehr in uns sieht als wir selbst. Uns tun vielleicht längst die Füße weh, wir trödeln, murren und werden bockig. Je länger wir leben, desto öfter wollen wir Pause machen und protestieren: „Genug der dummen Veränderungen! Besser wird‘s doch nicht mehr! Wann dürfen wir endlich rasten und ruhen? Und überhaupt – wo bleibt die Kontinuität?“ Doch was soll man sagen? Leben ist nun mal Veränderung. Und Stillstand ist der Tod. Nichts auf Erden bleibt, wie es ist. Nicht mal das, was uns „gut“ erscheint. Immer ist alles im Fluss – und wir müssen uns neuen Situationen anpassen. Warum aber? Kann nicht mal alles „beim Alten bleiben“? Nein. Mag der Wunsch auch verständlich sein, geht er doch von falschen Voraussetzungen aus. Denn wer von dieser Welt Kontinuität erwartet, missversteht ihre Lage. Diese Welt ist für Gott nicht das Ziel, sondern bloß der Weg. Und auch wir sind nicht hier, um uns gemütlich einzurichten, sondern um reif zu werden für etwas Besseres. Nicht Bleiben ist angesagt, sondern steter Übergang. Denn Gott will den gegebenen Zustand der Welt gerade nicht konservieren, sondern überwinden. Und er gibt keine Ruhe, bis alles „gut“ und „richtig“ ist. Er will diese Welt solange umwandeln und bearbeiten, bis vollendet ist, was ihm bei der ersten Schöpfung vorschwebte. Und er plant das auch mit jedem Einzelnen von uns. Denn er ist mit dieser Welt nicht fertig – und mit uns als Person auch noch nicht. Gott will sein Projekt zu Ende bringen. Er sieht da weit mehr Potential als wir! Bevor das aber ausgeschöpft ist, hat er keine Ruhe und lässt auch uns keine Ruhe, sondern treibt die Geschichte voran und hält die Prozesse am Laufen. Sollte er jetzt schon innehalten, hätte sich die Mühe nicht gelohnt. Darum will Gott weiter voran! Kontinuität gibt‘s aber nur insofern, als er sich selbst in seinem unablässigen Wirken gleich bleibt und keine Sekunde stillhält. Gott sitzt nicht herum und denkt darüber nach, was er theoretisch mal machen könnte, wenn er‘s denn wollte und Zeit dazu hätte. Sondern Gott ist „immer und überall tätig“ (Deus semper ubique actuosus). „Der Hüter Israels schläft und schlummert nicht“ (Ps 121,4). Er sinniert nicht über potentielle Möglichkeiten, die er zuletzt dann doch verwirft. Sondern er ist „allwirksam“ im Sinne unaufhörlicher Aktualität, Präsenz und Tätigkeit in allen Dingen. Er ist die jederzeit alles bestimmende Wirklichkeit – und nirgends bloß ein Zuschauer. Nirgends ist Gott unbeteiligt, überall ist er der „Motor“, und niemand hat Kraft, der sie nicht von ihm hat! Warum Gott aber keine Ruhe gibt? Liegt das nicht auf der Hand? Wäre der Künstler mit seinem Bild zufrieden, würde er den Pinsel weglegen. Wäre das Werk vollkommen, gäbe es nichts mehr zu verbessern. Da würde Ruhe einkehren, wie am siebten Schöpfungstag, als Gott an seiner Schöpfung so große Freude hatte. Doch seit dem Sündenfall liegt die Welt im Argen. Und so kann Gott nicht aufhören, an seinem Werk weiter zu arbeiten. Er schwingt den Hammer und lässt es krachen, er reißt nieder und baut auf, er feilt und lötet, hobelt und schweißt, dass nur so die Funken fliegen. Und verlässlich stabil ist bei alledem nicht der irdische Stoff, sondern nur die göttliche Hand, die ihn formt. Nichts bleibt sich gleich – außer unsrem Gott, dem überall in allem tätigen Motor, der den Wandel erzwingt. Und Kontinuität besteht nur auf Gottes Seite, weil er sein Werk kontinuierlich vorantreibt. Kontinuität hat nicht das Werk, sondern nur die formende Hand. Und weil wir selbst ein Teil des Werkes sind, und Gott an jedem Einzelnen noch arbeitet – darum kann unser Leben nicht stabil und ruhig sein. Sondern stabil und ewig gleich ist nur der dynamische Vater, der uns von Jahr zu Jahr vorantreibt und dabei hobelt, dass die Späne fliegen. Unsrer Lage veränderte sich ständig, Gott aber veränderte sich nie. Und wenn wir uns niederlassen wollen, macht er uns wieder Beine. Denn Gott dreht das große Rad, das wir unser Schicksal nennen. Er ist der Motor der Weltgeschichte und jagt uns mit jedem Jahreswechsel erneut in das unbekannte Land der Zukunft hinein. Alle Dynamik ist seine Dynamik! Er ruht nicht, bis er sich alles passend gemacht hat. Und die Frage ist nur, ob uns das beruhigt – oder ob es uns nervös macht. Hätten wir lieber selbst die Kontrolle? Können wir unbesehen bejahen, was Gott mit uns plant? Oder zweifeln wir etwa am guten Ausgang? Die Antwort sollte nicht schwer fallen. Denn – wer wird in diesem Ringen wohl den längeren Atem haben? Wie der Künstler mit seinem Projekt ringt, der Bildhauer mit dem Marmor, der Maler mit den Farben, der Schreiner mit dem Holz und der Töpfer mit dem Ton – gerade so ringt Gott mit dieser widerständigen Welt. Vorläufig fügt sie sich noch nicht in die Form, die er ihr geben will. Das Schöpfungsprojekt wurde vom Sündenfall erheblich gestört und ist darum bis heute nicht abgeschlossen. Aber, mal im Ernst: Kann es denn langfristig scheitern? Bei menschlichen Projekten wissen wir um diese Möglichkeit. Manchmal hat sich ein Maler mit dem Motiv übernommen. Manchmal zerbricht dem Bildhauer der Stein, bevor er die Figur vollenden kann. Manchmal schmeißt der Künstler auch hin und gibt sich geschlagen. Doch wäre das denkbar bei Gott? Er ist allwissend, allmächtig und hat (dank seiner Ewigkeit) für alles unendlich viel Zeit. Wird sich also das Material, das er formt, unendlich widersetzen? Das ist ausgeschlossen! Und wir dürfen daraus eine positive Prognose ableiten – auch für die eigene Existenz. Denn der Gestaltungswille Gottes wird sich früher oder später durchsetzen, die Schöpfung wird sich fügen. Und auch Gottes Arbeit an uns persönlich wird nicht vergeblich sein. Denn schließlich gehören wir zu Gottes Projekt. Und auch von uns wird er nicht ablassen, bis wir durch das Leben und den Tod hindurch (weichgeklopft und hart geschmiedet, gereinigt, geprüft, gefestigt und tausendmal überarbeitet) endlich geworden sind, was wir nach Gottes Willen sein sollen. Das zählt er zu seinem Meisterstücken, wenn er wieder mal einen krummen Hund zum Heiligen geformt hat. Drunter macht er’s nicht! Und so geht unsre Geschichte nicht gut aus, weil wir als Material viel taugten, sondern sie geht gut aus, weil Gott das Angefangene zu Ende bringt und keinen Punkt setzt, bevor er nicht vollständig zufrieden ist. Wir jammern vielleicht und stöhnen. Wir hätten längst aufgegeben – und hielten uns auch gar nicht der Mühe für wert. Gott aber schon. Sonst hätte er uns gar nicht erst zum Glauben verholfen. Und so geht es denn immer wieder ungestüm voran. Wir wären längst zufrieden, stille zu stehen. Aber Gott läuft mit uns weiter und kompensiert unsre Schwächen mit seiner Kraft. Leben ist Veränderung. Und in der Veränderung bleibt sich nur Gott immer gleich. Er allein wird von nichts überrascht. Und so kann man einen Menschen, der sich im unruhigen Fluss des Lebens einen stabilen Anker wünscht, auf nichts anderes verweisen als nur auf Gott. Denn die Welt ist jeden Morgen neu – und auch wir sind ständig anders. Gott aber bleibt derselbe. Am Ende muss alles kommen, wie er es will. Und was immer wir erfahren, erfahren wir durch ihn. Kommt Gutes, ist Gott dabei. Und kommt Böses, ist er auch dabei. Er kann sich beim Verkehrten nicht beruhigen. Auch nicht bei dem Verkehrten an uns. Und so geht es im Sturmwind voran. Ruhe wäre nur möglich, wenn Gott uns aufgegeben hätte – oder wir schon vollendet wären. Doch aufgeben wird er uns nicht. Vollendet sind wir noch nicht. Und so geht es eben weiter. Kontinuität im Wandel bietet aber nicht die Welt, sondern nur der, der sie formt. Gott selbst ist die Stabilität in dem Umbruch, den er verursacht. Und nur so viel ist gewiss, dass er auch der Gott aller kommenden Jahre sein wird. Weil er aber nicht zu stoppen ist und Gutes mit uns vorhat, darum arbeitet die Zeit nicht etwa gegen, sondern für uns. Ist Gottes Ziel auch unser Ziel, so werden wir’s garantiert erreichen. Und weil wir dem mit jeder Stunde näher kommen, sage ich „frisch voran!“ Denn zum Aufbruch gibt es keine Alternative. In den Leib unsrer Mutter können wir nicht zurück. Das Paradies der Kindheit steht uns nicht mehr offen. Und was vergangen ist, können wir nicht festhalten. Wer die Unschuld verloren hat, bekommt sie nicht wieder. Und keiner kann sein gelebtes Leben von vorn beginnen. Vorbei ist vorbei. Der Weg führt immer nur voran. Doch ist das in Wahrheit gar nicht schlimm. Denn schließlich haben wir dort in der Zukunft eine Verabredung mit Christus, die wir nicht verpassen wollen, und auch gar nicht verpassen können. Entweder kommt Christus zu uns – oder wir zu ihm. Doch so oder so rückt das Treffen täglich näher. Und das ist ein guter Grund, um morgen wieder mit Zuversicht aufzustehen und die Aufgaben anzupacken, die Gott uns vor die Füße legt.

 

 

Bild am Seitenanfang: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay