Gottes Geheimnis

Gottes Geheimnis

Kennen sie Gottes Geheimnis? Oder wussten sie vielleicht gar nicht, dass er eins hat? Das Neue Testament spricht ziemlich oft davon und benutzt dafür das griechische Wort „mysterion“. Doch worin Gottes Geheimnis besteht, wird dem Leser nicht gleich klar. Denn einerseits liegt es in der Natur eines Geheimnisses, dass es nicht jeder kennt. Und andererseits gibt es Gott betreffend recht vieles, das wir nicht verstehen und „mysteriös“ finden. Gott geht generell über unseren Verstand. Und so erwarten wir vielleicht gar nicht, dass wir seine Gedanken nachvollziehen könnten. Gott ist schließlich jener erhabene Geist, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann! Er ist so weit über unserm Horizont, dass manche annehmen, Gott habe nicht nur ein Geheimnis, sondern sei selbst ein Geheimnis! Der Allwissende begreift zwar alles, ist seinerseits aber unbegreiflich. Und um das auszudrücken, benutzen wir manchmal das Fremdwort „Transzendenz“. Es will besagen, dass uns von Gott eine Grenze trennt – ein hoher Zaun sozusagen – hinter den unser Blick nicht reicht. Doch Gottes Transzendenz ist nicht das, was im Neuen Testament als sein „Geheimnis“ beschrieben wird. Und wenn Gott in der Bibel ein „verborgener Gott“ genannt wird, ist auch das nochmal etwas anderes. Denn während uns das Transzendente in seiner unerreichbaren Ferne gerade nicht zur Erfahrung wird, begegnet der verborgene Gott mitten in unserem Leben und greift massiv in unser Schicksal ein. Gott ist als Verborgener gerade nicht weit weg, sondern ungeheuer nah, handelt aber auf so widersprüchliche Weise, so bedrängend und verwirrend, wie es ihm gar nicht ähnlich sieht. Ja, der verborgene Gott benimmt sich, als wäre er der Feind seiner Freunde und der Freund seiner Feinde. Es scheint, als wäre er gar nicht er selbst und wollte überhaupt das Gegenteil von allem, wovon die Bibel sagt, dass er’s will! Diese Verborgenheit Gottes ist aber weder mit seiner Transzendenz noch mit seinem Geheimnis gleichzusetzen. Und jenes Geheimnis ist wiederum nicht das, was wir ein „Rätsel“ nennen. Denn jedes Rätsel hat eine Lösung. Und wenn die bekannt wurde, weckt das Rätsel keine Neugier mehr. Das Neue Testament redet aber von einem Geheimnis, das Gott den Menschen mitteilt, und das doch – auch, nachdem er es mitgeteilt hat – ein Geheimnis bleibt! Gottes „mysterion“ ist auch für die, denen es enthüllt wurde, noch staunenswert ohne Ende! Was ist nun aber sein Inhalt? Paulus sagt, Gottes Geheimnis sei uralt, Gott habe es aber lange für sich behalten, um es der Welt erst in Christus kundzutun. Denn eigentlich ist Christus selbst der Inhalt des „mysterion“. Was Gott in und durch seinen Sohn zu tun gedachte, hat er schon „vor aller Zeit“ vorherbestimmt, beschlossen und geplant (1. Kor 2,7). Seit Erschaffung der Welt hielt er es aber zurück, bis die Zeit dafür reif war, um erst dann mit Jesu Sendung in die Welt dies Seltsame offenbar zu machen, das bis dahin „kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben“ (1. Kor 2,9). Vor 2000 Jahren war die Menschheit reif, und die Zeit des Wartens abgelaufen. Gott ließ das Geheimnis seines Willens zu Tage treten, und Jesu Jünger hörten als erste das Evangelium. Seither ist Gottes Geheimnis aber nicht mehr zu verschweigen, sondern offen zu predigen, „das verborgen war seit ewigen Zeiten und Geschlechtern, nun aber ist es offenbart seinen Heiligen, denen Gott kundtun wollte, was der herrliche Reichtum dieses Geheimnisses unter den Heiden ist, nämlich Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit“ (Kol 1,26-27). Im Brief an die Epheser sagt es Paulus noch einmal ähnlich: „Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte, um ihn auszuführen, wenn die Zeit erfüllt wäre, dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist“ (Eph 1,9-10). Gottes guter Plan lag demnach seit langem bereit und wurde nur zurückgehalten, bis der richtige Moment kam. Nun aber wird er überall kundgemacht, um unter den Menschen den Gehorsam des Glaubens aufzurichten (Röm 16,25-26). Und sein zentraler Inhalt ist Jesus selbst, dieser an sich ganz unscheinbare Zimmermann aus Nazareth, „in welchem verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kol 2,3). In seinem Sohn geht Gott wundersame Wege, um die Sünder selig zu machen – ja Gott wird in Christus selbst ein Mensch und geht für die Menschen in den Tod. Gott wendet unsere Not, indem er sie mit uns teilt, und scheut dabei weder die Krippe noch das Kreuz. Wer aber hätte so etwas vorher geahnt – oder auch nur zu denken gewagt? Wer wäre drauf gekommen, dass Gottes Güte einmal solche Formen annimmt? Was das Evangelium da enthüllt, ist nicht nur beseligend, sondern auch verblüffend! Darum sagt Paulus im 1. Timotheusbrief: „groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit“ (1. Tim 3,16). Auch damit ist Jesus gemeint, der äußerlich so „gewöhnliche“ Mensch, in dem aber Gott persönlich in der Welt erschien, um weltbewegende Dinge zu tun. In ihm nahm der Herr des Himmels die Gestalt eines Knechtes an, ging arm zu den Armen, mischte sich leidend unter die Leidenden und ergriff für die Schuldigen Partei. Wer aber hätte von Gott so viel Hingabe erwartet, dass er sich seinen Feinden ausliefert, um gerade dadurch ihre Rettung möglich zu machen, dass sie ihn verwerfen und kreuzigen? Trotz der vielen Verheißungen im Alten Testament, trotz der Erwartung des Messias, hat das niemand geahnt: diese Art der Befreiung kam unverhofft und auf überraschende Weise! Nachdem davon nun aber im Neuen Testament berichtet wird – ist Gottes Geheimnis da noch „geheim“? Eigentlich scheint es, als hätten Jesu Apostel das Geheimnis Gottes ausgeplaudert und gelüftet! Man könnte meinen, das Rätsel sei damit gelöst, und der „Überraschungscoup“ nur noch Erinnerung! Und doch: wie oft man auch beschreibt, was Christus für uns tut, liegt an einem Punkt immernoch ein Geheimnis darin. Denn die große Liebe, die sich in Christus offenbart, hat keinen erkennbaren Grund. Und weit und breit ist da nichts zu sehen, was den Aufwand rechtfertigte. Als Sünder sind wir‘s ganz und gar nicht „wert“, dass Gott uns in den Himmel hebt. Er hat keinen Anlass, missratenen Kreaturen eine Barmherzigkeit zu erweisen, die sie nicht verdienen. Und so ist dem Evangelium zwar zu entnehmen, was Gott für uns tun will – wir können durchaus verstehen, dass er und wie er uns seine Gnade anbietet. Was ihn dazu aber antreibt und motiviert – dieser Punkt bleibt unbegreiflich. Denn für Gottes Liebe zu den Sündern kann kein Grund angegeben werden, als nur diese Liebe selbst. Weder sind wir seiner Liebe „wert“, noch gewinnt Gott durch unsere Rettung etwas, das er nicht anders hätte bekommen können. Und während Gottes Zorn über die Menschheit tausendfach gut begründet und damit leicht nachvollziehbar ist, gilt von seiner Liebe ganz im Gegenteil, dass sie grundlos scheint und nicht erklärt werden kann. Sie ist natürlich trotzdem „da“ – und wirkt mächtig genug, um Gottes großen Zorn zu überwinden! Aber woher seine Liebe kommt, erklärt sich nicht. Und dieses Mysterium, „was Gott bloß an uns findet“, wird auch von langem Nachdenken kein bisschen kleiner, sondern wird immer nur noch größer. Vor Gottes Geheimnis steht der Glaube in beglücktem Staunen, weil im Evangelium eine unauslotbare Tiefe der Liebe zu Tage tritt: aus Liebe mutet Gott sich selbst den Kreuzestod zu, um uns das ewige Leben zu schenken! So ganz erklären können wir das aber nie. Denn für die menschliche Vernunft ist das Wort vom Kreuz tatsächlich nicht Weisheit, sondern Torheit (1. Kor 1,18-25). Dem Urteil der Vernunft nach zahlt Gott für unsre Erlösung einen viel zu hohen Preis. Und seine Hingabe scheint auch nicht gut investiert, denn wir danken sie ihm herzlich schlecht. Gott hat also sehr wenig davon – er handelt nach menschlichen Maßstäben geradezu irrational! Und doch bleibt Gottes große Liebe wirksam, die aus nichts abzuleiten ist, außer aus dieser Liebe selbst – und die somit einfach da ist und felsenfest steht, ohne einen erkennbaren Grund zu brauchen. Wie Gottes Liebe, ist auch seine Gnade unergründlich. Und so bleibt es ewig Gottes Geheimnis, warum er an den Menschen festhält. Jeder Einzelne von uns kann sich ganz persönlich fragen, was Gott eigentlich davon hat, ihn zu erlösen! Dieses Mysterium ist aber nicht dazu bestimmt, wie ein lösbares Rätsel eines Tages ergründet zu werden, sondern es bleibt bestehen. Und wenn ein Mensch das Evangelium auch tausendmal hört, bleibt es ihm doch in dieser Hinsicht abgründig und verwunderlich. Das Geheimnis verschwindet nicht, sondern wird tiefer, je genauer wir hinschauen. Und gerade im Entscheidenden gelingt es uns nicht, Gottes Gedanken nachzuvollziehen. Denn wir an seiner Stelle wären uns selbst genug – und würden die Menschheit wie ein misslungenes Experiment verwerfen. Er dagegen will sich selbst gar nicht genügen, sondern hilft einer Menschheit auf die Füße, die er eigentlich nicht nötig hat. Er reißt sich ein Bein aus für Geschöpfe, die ihn vielfach bitter beleidigt haben. Uns fiele das nicht im Traume ein! Weil Gott es aber so haben will, dass wir Erbarmen finden, weil er uns tatsächlich in seinem Himmel nicht missen will, darum hat Paulus so recht: Das Geheimnis des Glaubens ist wahrlich groß, Gottes Weisheit ist abgründig tief und seine Wege sind unerforschlich (1. Tim 3,16 / Röm 11,33). Aus einem Übermaß an Liebe kam Gott zur Welt – und hatte nicht viel mehr davon als einen qualvollen Tod. Wir aber, die er damit rettet, kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Denn wer sind wir, dass der Höchste sich so tief bücken sollte, um uns aus dem Staub zu heben? Gott ist uns herzlich zugetan auf verblüffende Weise! Weil dieses Geheimnis aber weder mit seiner Transzendenz noch mit seiner Verborgenheit viel zu tun hat, will ich die Begriffe zum Schluss noch einmal deutlich unterscheiden. Gottes Transzendenz ist einfach die auf seiner Größe beruhende Unbegreiflichkeit, die uns aber persönlich weder berühren noch stören muss. Gott ist eben für menschliche Gedanken „zu hoch“, wie der Mount Everest zu hoch ist, um von einer Ameise bestiegen zu werden. Doch wenn die Ameise im Tiefland bleibt, wo sie hingehört, bringt sie die Unerreichbarkeit des Berges nicht in Bedrängnis. Und vielen Ameisen wird nicht mal bewusst, dass sich da jenseits der Grenze etwas Großes ihrer Erfahrung entzieht. So macht Gottes Transzendenz auch dem Menschen kein Problem. Denn es entspricht einfach nur dem Wesen Gottes, über unseren Horizont zu sein. Er ist „anders“ und „höher“, ist „unvergleichlich“ und „weit voraus“ (Jesaja 40,12-18). Doch solche Transzendenz ist an sich weder beängstigend noch beseligend. Völlig anders verhält es sich mit Gottes Verborgenheit. Denn die besteht darin, dass Gott uns auf verwirrende Weise nahe kommt, uns packt und aufmischt, plagt und bedrängt, ohne dass wir das verstehen oder uns zu ihm in Beziehung setzen könnten. Der verborgene Gott ist furchtbar gegenwärtig, ohne aber begreiflich zu werden oder sein Gesicht zu zeigen. Er schubst uns herum, erklärt sich aber nicht. Er wendet sich ab, als hätte er uns nie gekannt, gebärdet sich feindselig – und scheint sich dabei selbst so sehr zu widersprechen, dass es unseren Glauben schwer auf die Probe stellt. Ja, Gott scheint uns in der Maske des Teufels zu begegnen, so dass wir nicht mehr wissen, mit wem wir es zu tun haben, und den Boden unter den Füßen verlieren. Der verborgene Gott verweigert jede Gemeinschaft und erschreckt uns bis ins Mark, ohne dass ersichtlich würde, warum und wozu. Dass es aber trotzdem der himmlische Vater ist, der sich dahinter verbirgt, und dass er schlussendlich wieder sein wahres Gesicht zeigt – das muss lange gegen allen Augenschein festgehalten und geglaubt werden. Wie fern liegt also diese Erfahrung von dem Geheimnis Gottes, jenem beglückenden „Mysterium“, in welchem sich die unauslotbare Tiefe göttlicher Liebe enthüllt! Gottes Verborgenheit macht Kommunikation unmöglich, Gottes Geheimnis aber stellt sie wieder her, denn: „Die Verbindung von Himmel und Erde, von Gott und Welt, die leibhafte Gegenwart und Anwesenheit Gottes in unserer Mitte ist das innerste Wesen, der eigentliche Inhalt des Mysteriums“ (Wilhelm Stählin). Gottes Transzendenz können wir verstehen, weil sie aus seiner Überlegenheit resultiert. Gottes Verborgenheit aber will gar nicht verstanden werden. Und Gottes Geheimnis – als das „Wort vom Kreuz“ – scheint unserer Vernunft eine Torheit zu sein. Da „löst“ sich denn auch kein Rätsel, sondern je mehr sich Gott erschließt, umso geheimnisvoller wird er in seiner Liebe, und desto unergründlicher scheint uns sein Mysterium. Gottes Geheimnis wurde von ihm selbst „gelüftet“ – und bleibt doch ewig erstaunlich. Darum fragt auch Johann Gerhard: „Wer kann die Größe dieses Geheimnisses fassen? (...) Unsere Natur ist durch Christum herrlicher gemacht worden, als sie durch Adams Sünde verunstaltet worden war; in Christo haben wir mehr empfangen, als wir in Adam verloren haben; die Sünde hatte überhandgenommen, aber der Reichtum der göttlichen Gnade ging noch weit darüber.“ Tatsächlich hätte es Gott wenig gekostet, uns durch herrliche Engel zu ersetzen. Über die hätte er sich dann auch nicht länger ärgern müssen! Und doch macht er sich die Mühe, uns wieder aufzuhelfen, und verhält sich, als könnte er ausgerechnet sie und mich nicht entbehren. Das bleibt verblüffend. Was den Aufwand rechtfertigt, werden wir nie begreifen. Aber danken können wir dafür trotzdem – und sollten es wahrlich nicht versäumen.

 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Shadow of the Teacher

Nicholas Roerich, Public domain, via Wikimedia Commons