Gotteserfahrung und Gottesbeziehung
Wer sich heute mit dem christlichen Glauben beschäftigt, hat leicht den Eindruck in eine fremde Welt einzutauchen, die mit seiner Alltagswelt nur sehr wenig zu tun hat. Unverbunden stehen die Dinge nebeneinander. Und ein Brückenschlag scheint schwierig. Denn wie unser beruflicher Alltag und die Familie die Regel sind, so bilden der Sonntag und der Gottesdienst die Ausnahme. Die Welt draußen vor der Kirchentür, in der es so geschäftig und laut zugeht, die ist das „Normale“. Die Welt in der Kirche drin aber, die Welt der Bibel, des Glaubens und des Gebetes, die ist „besonders“.
Dass im Alltag Regeln gelten und Notwendigkeiten bestehen, die jeden etwas angehen, das bezweifelt niemand. Ob aber Gott und Bibel, Taufe und Gebet sie etwas angehen, da sind sich viele Menschen nicht sicher. Und eben daraus leitet sich der Wunsch ab, jemand möge doch einen hilfreichen Bogen schlagen, zwischen der Welt und Gott, und möge das Beziehungslose irgendwie einleuchtend in Beziehung setzen, möge den fehlenden Zusammenhang herstellen, eine Brücke schlagen und das Unverbundene verbinden.
Jemand soll den Bürgern dieser Welt erklären, warum und inwiefern sie „Gott“ etwas angeht. Und sie, die sie mir die Chance dazu geben, gehen offenbar davon aus, dass der Brückenschlag möglich ist. Sie unterstellen zumindest, dass ihr Alltagsleben mit Gott in Beziehung stehen könnte. Und sie würden es vermutlich begrüßen wenn ihnen ein Theologe diesbezüglich mehr Klarheit verschaffte. Wo ihm das aber nicht gelingt, weil er die alten Geschichten der Bibel wie Museumsstücke vorführt, da bleibt der Hörer ratlos zurück und fühlt sich als Bürger zweier Welten, die er nicht recht in Beziehung setzen kann.
Denn in der Kirche wird getauft – und es gilt als etwas Großes und Einschneidendes. Draußen aber scheint das bisschen Taufwasser keinen Unterschied zu machen. In der Kirche ist in jedem zweiten Satz von „Gott“ die Rede. Draußen aber scheint er überhaupt nicht vorzukommen. In der Kirche redet man von Achtung, von Vertrauen und Nächstenliebe. Draußen aber müssen wir alle Türen abschließen und unsere Brieftaschen festhalten.
Ja, wenn’s schlecht läuft, scheint fast alles, was in der Kirche eine Rolle spielt, im Alltag irrelevant zu sein, während umgekehrt der Alltag irrelevant erscheint in der Kirche. Wenn’s richtig schlecht läuft, stehen diese zwei Welten nebeneinander wie parallele Universen. Gott aber erscheint dann wie ein Fabelwesen, von dem man zwar viel reden kann, das man aber im wirklichen Leben weder zu sehen noch zu spüren bekommt.
„Ja, vielleicht“ sagen die Leute: „Vielleicht gibt es Gott. Und vielleicht treffe ich ihn mal, wenn ich tot bin. Aber bisher ist er mir nicht begegnet. Ich habe mit meinen Arbeitskollegen zu tun und mit meiner Familie, einmal habe ich Beckenbauer die Hand geschüttelt und einmal den Bundeskanzler aus der Ferne gesehen – aber Gott? – nein, tut mir leid. Der kam in meinem Leben noch nicht vor...“
Traurig ist das. Denn auf diese Weise entsteht der Eindruck, die Welt sei der Gegenwart Gottes entleert, so als wäre er aus unserer Wirklichkeit ausgewandert und woanders hingegangen. Mancher Theologe versucht dann, in der großen Leere noch kleinste Spuren Gottes nachzuweisen, und gibt sich Mühe, Gott wenigstens als Thema wach zu halten, das immerhin – neben allem anderen – auch noch bedeutsam sein könnte. So bescheiden sind die Theologen geworden...
Doch: Kann das wirklich wahr sein, dass der allgegenwärtige und allmächtige Schöpfer, der nach biblischem Zeugnis Himmel und Erde erfüllt, dass der in seiner eigenen Welt plötzlich keinen Raum mehr fände? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass Gott heute genauso gegenwärtig ist, wie er es immer war, nur dass wir für seine Gegenwart blind geworden sind und, wie man so sagt, – „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“?
Tatsächlich halte ich es für eine Illusion, wenn wir meinen, wir müssten Gott und die Welt erst kunstvoll in Beziehung setzen. Denn Gott und Welt sind längst in Beziehung. Die Welt ist Gottes randvoll! Sie ist angefüllt mit seiner bedrängenden Gegenwart! Und darum muss der Mensch auch nicht lange auf die Suche gehen, um es irgendwo einmal mit Gott zu tun zu bekommen, sondern er hat es immer und überall mit Gott zu tun – und im Grunde nie mit einem anderen.
Denn: Reißt sich jemand einen Holzsplitter unter die Haut, so ist Gott in dem Splitter, und Gott ist in dem Schmerz, und Gott ist im Blut, im Pflaster und in der Heilung – und alles in allem ist Gotteserfahrung! Schmeckt jemandem der Rotwein und er benebelt sein Hirn, bis er albern wird, so ist Gott natürlich auch im Rotwein und er schmeckt auf der Zunge. Gott ist dann der Nebel im Kopf. Und sogar die Albernheit und die Melancholie sind recht verstanden „Gotteserfahrungen“, denn das Wirkliche in allem Wirklichen ist Gott.
Für unser Gespräch folgt daraus, dass es gerade nicht seine Aufgabe sein kann, die scheinbar unverbundenen Sphären der Glaubenswelt hier und der Alltagswelt dort vorsichtig und kunstvoll zu verbinden, sondern die Aufgabe kann nur sein, diese ganze Unterscheidung als eine einzige große Illusion zu entlarven. Denn wenn wir Gott bloß noch in einer Nische dieser Welt fänden, so wäre es nicht Gott, was wir finden. Ich fordere sie darum nicht auf, irgendwo in den Winkeln und in den Sternstunden ihres Lebens nach Gotteserfahrungen zu suchen, sondern ich ermutige sie, ihr gesamtes Dasein als eine einzige mehrdimensionale Gotteserfahrung zu begreifen. Denn Gott ist nirgends nicht. Alle Schläge sind seine Schläge, und jeder Duft ist sein Duft. In der Depression drückt er uns nieder und im Enthusiasmus reißt er uns mit sich fort. Im Lächeln unserer Lieben lächelt er uns an. Und mit den Hürden auf unserem Weg fordert er uns heraus. Er ist über uns und in uns, hinter uns und vor uns, ist gestern, heute und morgen, ist Härte und Zärtlichkeit, Maß und Maßlosigkeit, Nüchternheit und Strenge, Taumel und Tanz. Ja: Gott ist das ganze Problem und auch die ganze Lösung!
Die Vorstellung aber, man könnte es irgendwo nicht mit ihm zu tun haben, sondern mit etwas anderem, diese Vorstellung ist der große Irrtum, von dem wir zu allererst geheilt werden müssen. Gott lässt unsere Glieder schmerzen und Gott lässt Unfälle geschehen – ja, wer denn sonst? Gott hat unser Gesicht persönlich entworfen und er zeichnet auch selbst die Falten hinein. Gott hat alle Schönheit auf Erden selbst kreiert, und es ist da rein gar nichts in unserem Lebenslauf, das er uns nicht gegönnt oder zugemutet hätte, so dass wir bei klarem Verstande die Dinge nicht zu nehmen haben aus der Hand des Briefträgers oder aus der Hand der Bäckersfrau oder der Bankangestellten, sondern immer alles zu nehmen haben als Gabe aus Gottes Hand.
Denn die ganze Welt ist Gottes Maske, alle Macht ist seine Macht, jede Stunde ist seine Stunde, jedes Gesicht ist seine Verkleidung, und was immer uns trifft, ist stets die Kraft seines Armes. Jedes Geschoß kommt von seinem Bogen – und wenn’s uns verfehlt, dann, weil’s uns verfehlen sollte. Denn tatsächlich können wir um keine Straßenecke gehen, ohne dort Gott zu treffen, der mit neuen Erfahrungen auf uns wartet. Weshalb auch nicht dies eine sinnvolle Frage ist, ob wir neben all den zwischenmenschlichen Beziehungen auch noch eine Gottesbeziehung haben wollen, sondern das ist die Frage, ob es neben unserer Gottesbeziehung überhaupt noch Beziehungen gibt, die nicht in diese mit eingeschlossen sind. Da ist nämlich kein Ort, wo Gott nicht wäre, und keine Zeit, in der er fehlte. Gott ist in allem – alles ist in Gott, und der Unterschied zwischen der Alltagswelt draußen und der Kirchenwelt drinnen besteht nicht darin, dass Gott drinnen gegenwärtiger wäre als draußen, sondern der Unterschied ist nur, dass die Menschen drinnen um seine Gegenwart wissen und sie draußen in der Regel vergessen.
Es ist nicht nötig, die Kirchenwelt und die Alltagswelt kunstvoll in Beziehung zu setzen, denn es gibt hier wie dort nur eine Welt – und die ist am Montag genauso Gottes Welt, wie sie es am Sonntag war. Es gilt also nicht, etwas zu verknüpfen, sondern nur die Verknüpfung zu sehen. Es gilt nicht, Gotteserfahrungen zu machen, sondern die vorhandenen Erfahrungen als Gotteserfahrungen zu begreifen. Es gilt nicht, Gott Relevanz zuzugestehen, sondern es gilt einfach hinzunehmen, dass außer ihm rein gar nichts von irgendeiner Relevanz sein kann.
Denn Gott ist das ganze Problem unseres Daseins – und er ist auch die ganze Lösung. Er ist der Grund, auf dem wir stehen, und auch der Abgrund, in den wir fallen. Er ist unsere Herkunft und unsere Zukunft, unser Rechtsanwalt und unser Richter, unser Henker und unser Retter, er ist die Schwere, die uns lähmt, und auch der Kick, der uns beflügelt. Werben wir also, damit Menschen freundlich erwägen, eventuell mit Gott in Beziehung zu treten?
Nein: Diese Vorstellung wäre schon im Ansatz falsch! Denn jeder Mensch ist mit Gott in Beziehung, ob er will oder nicht. Wir alle sind von der Gegenwart Gottes restlos umstellt und umhüllt, wir sind immer in Beziehung mit ihm, und die Frage ist bloß, wie sich diese Beziehung gestaltet. Ob sie nämlich eine unbewusste und ungeklärte, eine unwillige und darum unheilvolle Beziehung bleibt, oder ob der Glaube daraus eine bewusste und geklärte, eine willig bejahte und darum heilvolle Gottesbeziehung werden lässt.
Nicht ob, sondern wie wir mit Gott verbunden sind, das steht in Frage. Diese Frage aber zu klären, im Interesse eines jeden, das ist die große Chance, um die es hier geht. Denn es gibt zwar kein Geschöpf, das dem Schöpfer fremd wäre. Gott ist unser aller Schicksal. Ob er’s aber so oder so ist, ob er’s zum Guten oder zum Bösen ist, zum Heil oder zum Unheil, darauf kommt es an. Denn das Evangelium ist ein großes und freundliches Angebot, das angenommen oder verweigert werden kann. Neutral bleibt keiner. Eine Einladung ignorieren heißt sie ablehnen. Wer sie aber annimmt, dem wird sie zu einem Geschenk von unschätzbarem Wert! Gott reicht uns die Hand zur Freundschaft und wenn wir in diese Hand einschlagen erfahren wir die Gegenwart Gottes nicht mehr als bedrängend sondern als tröstlich und beglückend. Wer vorher wissen will, worauf er sich einlässt, tut gut daran, den christlichen Glauben zu durchdenken. Und eben dabei will diese Website helfen.
Bild am Seitenanfang: Der Goldfisch
Paul Klee, Public domain, via Wikimedia Commons