Gott begegnen?
Haben sie sich mal gewünscht Gott zu begegnen – so ganz direkt, wie Mose damals am brennenden Dornbusch? Müsste das nicht großartig sein, von Gott nicht immer nur zu hören, sondern ihn auf unmittelbare Weise zu erfahren? Sicher wäre es überwältigend, faszinierend, erschütternd, berauschend. Man kann es sich nicht vorstellen! Und weil auch die Bibel nur selten von so etwas berichtet, hat mich Elias Geschichte immer besonders interessiert. Denn der wurde am Berg Horeb tatsächlich einer persönlichen Begegnung mit Gott gewürdigt. Wer war der Mann? Elia ist zu seiner Zeit einer der letzten treuen Propheten. Er ist ein Hitzkopf und radikaler Bekenner, ein kompromissloser Streiter für den Glauben Israels. Und furchtlos legt er sich mit dem König an, der längst vom Glauben abgefallen ist. König und Königin nehmen das übel – sie trachten Elia nach dem Leben. Und so muss sich der Prophet der Verfolgung entziehen, indem er in die Wüste flieht. Lange wandert er bis zum Berg Horeb und findet dort eine Höhle, in der er übernachten kann. Im Grunde hat er keine Ahnung, wie es mit ihm weitergehen soll. Er ist „fertig mit der Welt“. Gott aber erbarmt sich. Er redet den Propheten unvermittelt an und sagt: „Was machst du hier, Elia?“ Elia aber erzählt einfach, wie es war: „Ich habe geeifert für den Herrn, den Gott Zebaoth; denn Israel hat deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet und ich bin allein übrig geblieben, und sie trachten danach, dass sie mir mein Leben nehmen“ (1. Kön 19,10). Was tut nun Gott mit diesem treuen, aber doch ziemlich entmutigten Gottesmann? Er hält ihm keinen Vortrag, sondern lässt ihn etwas erleben. Er erlaubt dem Propheten, Gott in eigener Person so unmittelbar zu begegnen, wie es vorher nur dem Mose erlaubt war. „Der Herr sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den Herrn! Und siehe, der Herr wird vorübergehen. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem Herrn her; der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle“ (1. Kön 19,11-13). Ohne dass der Prophet darum gebeten hätte, erfüllt Gott den Wunsch, der Elias Leben schon immer bestimmte: Er will Gott nahe sein. Und Gott gewährt ihm diese Nähe. Doch zunächst gibt es ein dramatisches Vorspiel in drei Akten. Zuerst kommt ein Sturmwind, der Berge zerreißt und Felsen zerbricht – ohrenbetäubend und urgewaltig, so dass viele sagen würden: „Ja, wow! Das haut mich um, das ist Gott in seiner Macht, da habe ich ihn vor mir!“ Aber die Bibel sagt ganz trocken: „…der Herr aber war nicht im Winde.“ Im zweiten Schritt kommt es noch doller, denn es ereignet sich ein Erdbeben – das lässt die Wände wackeln und wirbelt alles herum, es wirft Elia von den Füßen und reißt tiefe Spalten in den Boden, so dass viele sagen würden: „Ja, gigantisch! Das ist jetzt der Allmächtige, das ist Gott selbst in all seiner Kraft!“ Aber der Text sagt: „…der Herr war nicht im Erdbeben.“ Im dritten Akt erscheint eine Feuersbrunst, und die ist auch wieder „großes Kino“. Das Feuer raubt Elia den Atem, es erleuchtet alles und frisst um sich mit unerträglicher Hitze, so dass viele sagen würden: „Krass! Das habe ich noch nie erlebt, das ist ultimativ mächtig und konkurrenzlos intensiv, das ist nun ganz bestimmt Gott!“ Aber: „…der Herr war nicht im Feuer.“ Der Leser ist an diesem Punkt schon fast enttäuscht. Und Elia reagiert auch gar nicht. Er tritt nicht aus seiner Höhle heraus und verhüllt nicht sein Haupt! Wieso aber nicht? Woran erkennt der Prophet das Vorprogramm als ein bloßes „Vorprogramm“? Elia zweifelt sicher nicht daran, dass der Sturm von Gott kommt, wie das Erdbeben und das Feuer auch. Denn alle Naturerscheinungen demonstrieren Gottes Macht und Herrlichkeit – jede einzelne ist ein imposanter Ausdruck des göttlichen Willens. Aber mehr als ein Ausdruck sind sie eben nicht. Sie sind nicht das Subjekt, das sich darin ausdrückt. Und so weiß Elia genau: Was er da draußen vor seiner Höhle sieht, sind grandiose Erscheinungen des Irdischen. Die machen ein Spektakel. Aber sie enthalten nicht den Himmlischen, auf dessen Erscheinen Elia wartet. Und Elia verwechselt keineswegs das greifbar Geschaffene mit dem unbegreiflichen Schöpfer, der dahinter steht. Elia verwechselt nicht das Werk mit dem Urheber, sondern wartet ab. Denn so grandios die Spuren Gottes auch sein mögen – sie sind nicht der, der die Spuren hinterlässt. Naturerscheinungen sind anschauliche Bilder von großer Macht. Aber das Irdische taugt nicht mal als Bild für Gott. Und so bleibt Elia gelassen. Denn solange man etwas mit den Augen sehen und mit dem Verstand begreifen kann, ist es garantiert nicht Gott. Wohl sind es Manifestationen des Schöpfers, denn Gottes Kraft ist darin wirksam – ohne die sähen wir nichts, und es gäbe auch nichts! Insofern ist Gott in den Erscheinungen „präsent“. „Etwas von ihm“ erscheint darin, weil ohne seine Kraft und Weisheit gar nichts erscheinen könnte! Aber auch im besten Werk eines Künstlers begegnet man nicht ihm in eigener Person, sondern lernt ihn nur auf mittelbare Weise kennen. Was Gott in der Welt bewirkt, erschließt sich unsrer Wahrnehmung. Aber die erschließt uns nicht zugleich den Verursacher. Und mag uns eine Erfahrung noch so sehr überwältigen, ist doch Gott selbst nicht in ihr eingeschlossen. Im Erdbeben spüren wir die Erschütterung der Welt und zugleich das Erschrecken im eigenen Gemüt. Wir sehen aber nicht die verborgene Hand, die beides bewirkt. Und hätte Elia damals ein Video gedreht, wären darauf zwar Hagel, Blitz und Donner zu sehen, zerbrechende Felsen, Erdspalten und Feuerwände. Aber Gott würden wir auf dem Video nicht sehen. Unsre fünf Sinne erfassen immer nur die vielen Hüllen, die den Kern verbergen. Und weil Elia das weiß, ist er von jenem Vorspiel auch nur mäßig beeindruckt. Natürlich sieht er die Welt in grandiosem Aufruhr! Aber es geht ihm ja um Gott. Und der ist kein Phänomen unter vielen, sondern ist kategorial „anders“. Darum geht Elia auch nicht aus seiner Höhle heraus und verdeckt nicht sein Angesicht. Denn die große Show der irdischen Elemente ist nicht das, was er sucht. Vielleicht hat ihn Gottes Gewand gestreift. Und manchem würde das genügen. Aber Elia wartet nicht auf Äußeres, sondern auf jenes Innere, das die äußeren Erscheinungen immer nur verhüllen. Der Prophet wartet also, bis das Spektakel vorüber ist. Und dann hört er nur noch ein „stilles, sanftes Sausen“. Da kommt etwas, das im Vergleich mit dem Vorigen eigentlich „gar nichts“ ist. Es scheint überhaupt nicht der Rede wert. Es bewegt sich an der Grenze des Wahrnehmbaren. Und eigentlich hört Elia nur, dass er fast nichts mehr hört. Es scheint nun eher etwas „abwesend“ als „anwesend“ zu sein. Doch genau das macht Elia hellwach – und das interessiert ihn weit mehr als das Getöse zuvor. Denn dies ist nun nicht mehr die massive Präsenz der Naturgewalten, sondern plötzlich fehlt alles, was Auge und Ohr Eindruck machen könnte! Die irdischen Kräfte, die eben noch so laut waren, sind ganz still geworden. Nicht das Geschaffene spielt sich mehr in den Vordergrund, sondern im Gegenteil – die Welt hält den Atem an. Alles, was sonst unablässig rumpelt und lärmt, schreit und tobt, macht auf einmal „Pssst…!“ Und die Natur, die dreimal ihren großen Auftritt hatte, schlägt vor Ehrfurcht die Augen nieder und legt die Hand auf den Mund. Denn das Vorprogramm ist zu Ende. Und keiner muckst sich mehr. Die Welt schweigt in tiefer Verbeugung vor ihrem Schöpfer. Elia hört, dass er nichts mehr hört, außer der Stille und jenem „sanften Sausen“. Und weit entfernt von harmloser „Entspannung“ denke ich, dass dem Elia gerade beim Eintreten der Stille die Haare zu Berge stehen. Die Gegenwart Gottes manifestiert sich darin, dass sich das Irdische komplett zurücknimmt – die Welt ist nur noch Kulisse! Und den eben noch so beschäftigten Sinnen wird gar nichts mehr geboten. Dafür erscheint aber der, der mit unsren Organen der Wahrnehmung nicht zu fassen ist. Und an diesem „erlebten Nichterleben“, an diesem Eindrücklichen, dass dem Elia die Eindrücke geschwunden sind, am paradoxen Hören eines stillen Moments, von dem man gar nichts berichten kann – daran erkennt Elia die Gegenwart Gottes, die hier alles Natürliche zur Seite geschoben hat. Gottes Präsenz hat in diesem Moment jede andere Präsenz überlagert. Und weil für den Lärm der Welt kein Platz mehr ist, macht sich auch nichts mehr breit, das hörbar wäre. Die Welt verstummt. Sie beugt sich in ihrer ganzen bunten Fülle und Grobheit vor dem, der scheinbar keine Substanz besitzt. Und weil die Welt das sonst vor niemandem tut, weiß Elia, dass der große Moment gekommen ist. Gott selbst hat die Bühne betreten, der nach unseren Maßstäben weder Ausdehnung noch Masse hat – und der trotzdem viel wirklicher und substanzieller ist als die zuvor so massiv aufgebotene „Wirklichkeit“. Der Ewige ist erschienen, der nicht ein weiteres „Seiendes“ ist wie wir, sondern der Grund allen Seins. Jener, der die Wahrheit nicht bloß kennt, sondern selbst die Wahrheit ist. Jener, der nicht mehr oder weniger „gut“, sondern selbst der Maßstab aller Güte ist. Und die Welt hält den Mund. Denn sie hat ihm gegenüber nichts zu melden. Sie schlägt die Augen nieder. Und Elia tut es auch. Er verhüllt sein Angesicht mit dem Mantel und tritt in den Eingang der Höhle. Hat der Prophet einen Plan? Nein. Es genügt ihm, einfach da zu stehen. Jede weitere Initiative muss von Gott ausgehen. Und so ist es dann auch. Denn Elia bekommt neue Aufträge. Und obwohl er sich eigentlich schon am Ende glaubte, setzt er seinen Dienst fort und trägt neue Botschaften Gottes in die Welt hinaus. Was nehmen wir aber mit von alledem? Nun, wir können schwerlich erwarten, selbst einer solchen Begegnung gewürdigt zu werden. Aber wir können von Elia immerhin lernen, imposante Dinge, in denen sich Gottes Macht manifestiert, nicht mit Gott zu verwechseln – und nicht alles Großartige gleich als „religiöse Erfahrung“ zu verbuchen. Elias Geschichte mahnt uns, nüchtern und kritisch zu sein gegen alles, was man uns als Erfahrung des „Göttlichen“, des „Transzendenten“, „Absoluten“ oder „Ewigen“ präsentiert. „Na, aber wieso denn?“ sagen viele. „Die Natur ist doch so wundervoll – und all die Schönheit der Welt, die Liebe, die Vernunft, das Glück, das Genie und der Rausch: kommt das etwa nicht von Gott? Und, wenn ja: ist es dann nicht alles „göttlich“? Und wenn’s mich innerlich berührt und überwältigt – ist dann nicht Gott sogar in mir und in jedem Menschen? Und ist die Erfahrung dessen nicht auch Glaube?“ Doch Elia würde dreimal „Nein!“ rufen. Bleibt auf dem Teppich! Nur weil Gott etwas großartig geschaffen hat, ist das Ding noch nicht „göttlich“. Und nur weil ihr es anstaunt, ist es auch noch lange keine „Offenbarung“. Sowenig Gott im Sturm und im Erdbeben war, so wenig ist er in der Kunst, im beseligenden Rausch, in der Meditation oder in der menschlichen Liebe. Bleibt auf dem Teppich, sagt Elia. Wohl sind diese Dinge durch Gottes Kraft, was sie sind. Und wenn sie mit Pomp an unsrer Höhle vorüberziehen, machen sie uns mächtig Eindruck. Doch Gott ist nicht in den Naturerscheinungen enthalten, nicht im Glück, nicht in der Ekstase, nicht in schwärmerischen Empfindungen. Und das ergriffene Anstarren dieser oder jener Erscheinung ist auch weder Offenbarung noch Glaube. Gottes Werke zeugen zwar von seiner Herrlichkeit und verweisen insofern auf den, der sie gemacht hat. Aber nur ein Narr vermengt das Geschaffene mit dem Schöpfer. Denn Gott ist zwar gegenwärtig in allen Manifestationen seiner Macht. Aber wenn sich uns seine Wirkungen erschließen, hat sich damit noch lange nicht der Verursacher erschlossen. Nur weil er „da“ ist, ist Gott noch lange nicht „zugänglich“. Und insofern ist das auch keine „religiöse Erfahrung“, wenn uns etwas überwältigt oder fasziniert. Sondern da erst fängt Glaube an, wo wir Gott von jeder Erfahrungen des Irdischen strikt unterscheiden und es Elia gleichtun, der von seiner Höhle aus zwar alles sieht, davon aber nur mäßig beeindruckt ist. Er schaut sich gern an, wie sich die Naturkräfte austoben. Sie sind imposant! Aber das haut ihn nicht um. Und auch wir sollen nicht meinen, Gott sei in unsren Gefühlen enthalten, in unsrem Engagement, in Musik oder Schönheit, Gemeinschaft, Erfolg oder Charisma. Denn all das gehört noch zum Vorprogramm. Und es ziemt sich nicht, vor diesem Erdenkram ehrfürchtig sein Angesicht zu verhüllen, sondern erst in der Abwesenheit von allem, was den Augen und den Ohren Eindruck machen könnte, erst wo sich nichts Geschaffenes mehr in den Vordergrund drängt, sondern alles verstummt und verblasst – da wird es interessant, und der Glaube ruft innerlich: Ja! Alles Kreatürliche möge nun schweigen, sei es in mir drin oder um mich herum! Es schweige der Sturm und das Feuer, es schweige die geschwätzige Vernunft und die menschliche Liebe! Die ganze Welt verstumme vor ihrem Schöpfer! Denn erst wenn Elia hört, dass er nichts mehr hört, hat Gottes Gegenwart jede andere Präsenz überlagert. Vergesst also den Sturm, sagt Elia, und vergesst das Feuer. Vergesst Glück und Erfolg, Geld und Genie, Gut, Ehre, Schwärmerei. Beugt eure Knie doch nicht vor all denen, die nur Puppen sind in Gottes Hand! Fragt aber konsequent, von wem sie kommen und wer ihnen ihren Glanz verleiht! Denn nur dieser eine ist wirklicher als die übrige Wirklichkeit. Nur dieser eine ist nicht bloß am Leben, sondern ist das Leben selbst. Nur er ist kein Seiendes, sondern der Grund allen Seins. Nur er kennt nicht bloß die Wahrheit, sondern ist selbst die Wahrheit. Er will aber mit seinen Werken nicht verwechselt werden. Und darum untersteht euch, Irdisches „anzuhimmeln“ und zu „vergöttern“, das doch genauso geschaffen wurde wie ihr selbst! Versagt nicht gleich in der ersten Prüfung! Denn wenn euch ein imposanter Sturmwind um die Nase pfeift, dann kommt der zwar von Gott, aber er ist nicht Gott, und Gott wird darin auch nicht greifbar. Wenn euch ein großes Feuer beeindruckt, ist das zwar Ausdruck göttlicher Kraft, es ist aber eben nicht mehr als das und hilft auch kein bisschen, Gott zu verstehen. Und wenn euch ein Erdbeben erschüttert, dann habt ihr zwar eine Menge von Gefühlen, aber diffuse religiöse Gefühle sind noch lange kein Glauben. Nein! Nur wo Gott sich binden will, können wir ihn auch greifen. Und er bindet sich nicht in der Natur, nicht in Emotionen oder Idealen, sondern im Wort und Sakrament seines Sohnes. Da ist das Vorprogramm zu Ende. Da will uns Gott begegnen in einer stillen, gar nicht pompösen Erfahrung – und die dumme Welt sagt bloß „hä?“ dazu. „Hä? Wort und Sakrament? Nicht im Ernst! Das ist doch nicht der Rede wert! Das ist ja gar nicht imposant!“ Wir als Christen aber – wir hören genau auf diese Stille, in der Gott für uns da sein will. Und wenn die Welt endlich den Mund hält, dann verhüllen wir unser Haupt und gehen aus der Höhle heraus auf Gott zu.
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Bild von Dimitris Vetsikas auf Pixabay
(Der Prophet Elia auf dem Weg zum Berg Horeb)