Wäre ich woanders geboren...
Die Welt ist kleiner geworden. Denn noch keine Generation ist so viel gereist, wie die unsere. Und wenn jemand in Ägypten war, in Thailand oder Südafrika, ist das längst nichts Besonderes mehr. Ein Nebeneffekt ist aber, dass uns auch die Religionen der Welt sehr lebendig vor Augen stehen in ihrer Vielfalt und Fremdheit. Und mancher, der zurückkommt, sieht dann auch den eigenen Kirchturm anders. Denn: ist das nicht seltsam, dass anderswo viele Millionen Menschen so ganz anders glauben und in ihrer Heimat genauso selbstverständlich Buddhisten sind, wie bei uns die meisten Christen sind? Das kann einen schon verunsichern! Man fragt sich, ob’s am Ende nur so etwas wie eine „regionale Sitte“ ist, dies oder das zu glauben! Man fragt sich, warum Gott (wenn’s doch nur den einen gibt) nicht überall auf der Welt in der gleichen Weise erfahren und verehrt wird. Und manchmal gipfeln solche Überlegungen in der Annahme, die eigene Prägung sei im Grunde etwas „Zufälliges“.
„Wäre ich nicht in Europa, sondern in Indien geboren worden, würde ich doch wahrscheinlich auch glauben, was die Inder glauben! Als Chinese würde ich wie ein Chinese glauben. Und als Eskimo eben in der Art der Eskimos!“ Die Schlussfolgerung lautet dann: „Meine Religion ist Zufall. Und vielleicht beruht auch der Rest meines Weltbilds nicht auf stichhaltigen Gründen, sondern bloß auf meiner kulturellen Prägung. Wäre ich anders aufgewachsen und anders erzogen worden, wäre auch mein Glaube anders. Meine Christ-Sein ist mir genauso zugefallen wie die Muttersprache. Ich habe es bloß übernommen, weil es in meiner Familie und in meiner Umgebung üblich war – also könnte ich genauso gut eine andere Religion haben…“
Solche Überlegungen klingen erst einmal logisch. Sie hinterlassen aber auch einen schalen Geschmack. Denn sie machen uns das Vertraute seltsam fremd. Es wirkt plötzlich beliebig und gar nicht mehr einleuchtend. Und wenn man historische Unterschiede hinzunimmt, wird es noch seltsamer. Denn da kann man ja denselben Gedanken verfolgen. Wäre ich vor 300 Jahren in den amerikanischen Südstaaten geboren, fände ich Sklaverei wahrscheinlich völlig in Ordnung. Und als Maori geboren, hätte ich zu derselben Zeit vielleicht Kannibalismus praktiziert. Unter Karl dem Großen wäre ich sicher kein Demokrat, sondern Monarchist gewesen. Und im alten Sparta hätte ich es für richtig gehalten, schwache Säuglinge in der Wildnis auszusetzen. Wäre ich vor 300 Jahren in Bagdad geboren, hätte ich von Frauenrechten wohl keine hohe Meinung. Und wären meine Eltern überzeugte Nazis gewesen, wer weiß, ob aus mir kein Rassist geworden wäre?
Man kann dieses Spiel ziemlich weit treiben! Denn der Mensch ist in hohem Maße ein Produkt seiner Umwelt. Nur – was kommt letztlich dabei heraus? Setzt das Gedankenspiel meine heutigen Überzeugungen wirklich außer Kraft? Ganz sicher führt es uns vor Augen, dass man zu anderen Zeiten manches anders gesehen hat! Aber – was weiter? Ist dem etwa zu entnehmen, dass die Wahrheit selbst ebenso wandelbar wäre, wie die Meinungen der Menschen über die Wahrheit? Oder ist von vornherein gar nichts „wahr“, sondern alles „relativ“, weil’s scheinbar nur für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Kulturkreis gilt? Das würde dann freilich bedeuten, dass die Sklaverei gut war, solange die Mehrheit sie gut fand. Es spräche dann gegen die Demokratie, dass sie nicht schon immer geschätzt wurde. Und die Menschenrechte würden auch nur dort gelten, wo „Volkes Stimme“ sie anerkennt. Das kann man schwerlich so vertreten! Wenn‘s aber stimmt, dass wir – vor 1000 Jahren am Amazonas geboren – keine Christen gewesen wären: folgt daraus dann, ein Christ zu sein, wäre damals falsch gewesen, oder müsse es heute sein?
Bei Lichte besehen folgt aus diesen Spekulationen rein gar nichts. Und je länger man das gedankliche Spiel treibt, umso fragwürdiger werden die Voraussetzungen, von denen es ausgeht. Denn die Frage muss erlaubt sein, ob eine Person, wenn man sie in einen anderen historischen und kulturellen Rahmen versetzt, überhaupt noch dieselbe Person ist. Wäre denn einer ohne den Ort und die Zeit, in die er gehört, jemals der geworden, der er ist? Meines Erachtens liegt da ein Denkfehler. Denn man sagt: „Wäre ich nicht in Europa, sondern in Indien geboren, wäre ich jetzt Hindu!“ Aber wäre ich nicht in Europa, sondern in Indien geboren, wäre ich ja auch gar nicht „ich“, sondern „ein Anderer“. „Ein Anderer“ wäre dort geboren worden. „Ein Anderer“ würde glauben, was die Inder glauben. Und für „mich“ ist die Überlegung ohne Belang. Denn ein Mensch ist nicht „er selbst“ ohne seine persönliche Geschichte (die sich aus Herkunft, Elternhaus, Sprache, Bildung und tausend anderen Faktoren zusammensetzt), sondern ein jeder ist nur „er selbst“ durch eben diese Geschichte. Man wird nicht als fertige Persönlichkeit geboren, um dann im Laufe des Lebens auch noch Erfahrungen zu machen, sondern erst die Summe dieser Erfahrungen macht unsere Persönlichkeit aus. Und ohne unsere konkrete Geschichte zu erzählen, könnten wir nicht mal beschreiben, wer wir sind. Denn wir wären ja nicht wir selbst ohne das ganz spezielle Elternpaar, von dem wir abstammen, nicht ohne unsere Schule, unseren Heimatort, unseren konkreten Beruf und die prägenden Freundschaften. Wir haben keine Biographie, sondern recht eigentlich sind wir unsere Biographie! Wollte man die aber von unserer Person abziehen (weil es sie in Indien so nicht gegeben hätte), bliebe nicht etwa die „Person“ übrig, sondern etwas völlig Unbestimmtes. Zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort wäre nicht der Mensch geboren worden, der ich jetzt bin, sondern ein anderer. Wenn dann aber „ein Anderer“ in Indien „etwas Anderes“ glauben würde – was geht‘s mich an? Und warum sollte mich das in den Überzeugungen verunsichern, die ich doch hier und heute nicht grundlos vertrete?
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Menschen, die ihre religiöse Prägung auf äußere Einflüsse zurückführen, sich damit vor allem von dieser Prägung distanzieren möchten. So einer sagt, er sei nur deshalb Christ, weil er zufällig in Mitteleuropa geboren wurde. Und er meint damit, die christlichen Überzeugungen seien eigentlich gar nicht „seine“. Er sieht darin nur ein Erbe seiner Umwelt, das er übernahm. Man hat’s ihm lediglich „anerzogen“. Und das heißt: er sieht zwischen seiner Person und seiner konkreten Religion kein notwendiges, sondern nur ein zufälliges Verhältnis. Er distanziert sich also. Er betrachtet seine Religion nicht wirklich als Teil seiner Person, sondern ist der Meinung, er könne auch eine ganz andere Religion haben und doch derselbe Mensch bleiben. Wenn dem aber wirklich so ist – steht er dann überhaupt auf einem christlichen Standpunkt?
Sollte er aber darauf beharren, auf „zufällige“ Weise eben doch ein Christ zu sein – ist das dann für einen denkenden Menschen nicht ziemlich peinlich? Er sagt, man habe ihn in religiösen Dingen fremdbestimmt. Aber warum hat er dann nicht später von seiner Religionsfreiheit Gebrauch gemacht, um sich von diesem ungeliebten Erbe zu trennen? Offenbar hat er die Ansichten seiner Umgebung unkritisch übernommen. Statt sich seines Verstandes zu bedienen, hat er nachgeredet, was andere ihm nahelegten. Und das soll es nun sein, was ihn zum Christen macht? Er sagt: „Wäre ich woanders geboren, wäre ich ganz anders und glaubte auch anders!“ Aber heißt das nicht, dass er sich selbst zu den „toten Fischen“ zählt, die willenlos mit dem Strom schwimmen? Man möchte ihm das Wort Goethes zurufen: „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ Oder meinetwegen: Wenn du Gründe hast, dass du es nicht besitzen willst, dann trenne dich davon! Eigne dir dein Christentum an oder verwirf es! Aber übernimm endlich Verantwortung für deinen eigenen Glaubensstand! Denn, was ist das für einer, der zu seiner Religion ein derart lockeres Band hat, dass sie ihm austauschbar erscheint? Wer eine Überzeugung auf diese Weise „hat“, hat eigentlich gar keine. Er steht auf keinem Standpunkt, sondern betrachtet sein Christ-Sein nur wie ein Mäntelchen, das man ihm in der Kindheit umgehängt hat, zu dem er aber kein eigenes Verhältnis gewann, und das abzulegen er trotzdem nicht Manns genug ist! Noch als Erwachsener läuft er mit demselben Mäntelchen herum – und wenn man ihn darauf anspricht, sagt er peinlich berührt: „Das gehört mir gar nicht, das haben mir andere umgehängt!“
Man stelle sich nur vor, jemand redete in derselben Weise von seiner Frau und seinen Kindern und sagte: „Die sind nur zufällig meine Familie! Wäre ich woanders geboren, hätte ich ja nicht diese Frau getroffen und mit ihr diese Kinder gehabt, sondern ganz andere! Ich habe sie ja trotzdem lieb, aber eigentlich ist das nur zufällig meine Familie!“ Oder man stelle sich vor, es ginge um die politische Überzeugung, und einer sagte: „Es ist reiner Zufall, dass ich SPD wähle! Wäre ich woanders geboren, wäre ich wahrscheinlich Faschist geworden, Kommunist oder Republikaner! Nun finde ich die SPD ja wirklich gut, aber eigentlich ist es Zufall, dass ich sie wähle!“ Würde man so jemanden ernst nehmen, der sich doch offenbar selbst nicht ernst nimmt?
Da wir die Sache nun aber so weit verfolgt haben, müssen wir ganz grundsätzlich fragen, wo der gedankliche Fehler liegt. Und ich meine, dass wir ihn am besten als „Zirkelschluss“ beschreiben, weil bei dem populären Argument am Ende nur herauskommt, was man schon am Anfang vorausgesetzt hat. Man nimmt an, dass Zeit und Ort der eigenen Geburt dem Zufall unterlägen, und folgert, dass dann auch alles, was aus der Zeit und dem Ort der Geburt folgt, genauso „zufällig“ sei. Das macht einen logisch zwingenden Eindruck, denn wenn meine Geburt mit Zeit und Ort „Zufall“ wäre, gälte das auch von meiner Identität und von dem Glauben, der zu meiner Identität gehört. Nur – wer sagt denn, dass die Geburt eines Menschen tatsächlich dem Zufall unterliegt? Wer sagt denn, dass es „Zufall“ überhaupt gibt? Man kann auf diesen Zufall am Ende nur „schließen“, weil man ihn von Anfang an unterstellt hat! Und diese anfängliche Unterstellung ist nicht bloß willkürlich, sondern ist für Christen auch gar nicht nachzuvollziehen, weil das biblische Zeugnis von einem allwissenden, allmächtigen und allgegenwärtigen Gott für den Begriff des „Zufalls“ keinen Raum lässt. Gottes Vorsehung ist allumfassend. Er kennt das Vergangene ebenso restlos wie das Gegenwärtige und das Künftige. Und infolgedessen gibt es in seiner Vorsehung nichts „Unvorhergesehenes“. Nach Jesu Wort fällt nicht mal ein Spatz vom Himmel, ohne dass es der Vater weiß und will! Es gibt also ganz allgemein keinen „Zufall“. Und es gibt ihn am allerwenigsten bei unserer Geburt. Denn ein Mensch wird nach biblischem Zeugnis nicht „irgendwann“ und „irgendwo“ in die Welt hinein-gewürfelt, sondern er wird von Gott – seinem weisen Ratschluss entsprechend – darin verortet. Der Psalmist lobt ausdrücklich die Voraussicht, die Gott dabei walten lässt, und sagt:
„Du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.“ (Ps 139,13.15.16)
Mit anderen Worten: es ist eine unsinnige Vorstellung, dass ein Mensch „wo-anders“ oder „zu einer anderen Zeit“ hätte geboren werden können. Denn der Schöpfer, der uns das Leben schenkt, platziert uns dabei planvoll in einer ganz bestimmten historischen und familiären Situation. Natürlich ist damit auch vorgegeben, in welcher Kultur wir aufwachsen. Und die Beobachtung, von der wir ausgingen, ist insofern richtig – Religion und Herkunft sind eng miteinander verknüpft! Nur meine ich, dass wir – an diesem Punkt angelangt – ganz andere Folgerungen daraus ziehen sollten. Denn ist es etwa gut, wenn so vielen Menschen ihre Herkunft zum Nachteil gereicht? Die geborenen Afghanen und Chinesen haben eine viel geringere Chance, das Evangelium kennen zu lernen, als wir sie hatten. Aber das bedeutet keineswegs, dass sie Gott weniger am Herzen lägen, sondern nur, dass es da noch etwas zu tun gibt! Wenn uns nämlich klar wird, dass wir durch die Geburt in einem christlichen Land privilegiert sind, darf uns das keine Ruhe lassen. Wir sollten uns bemühen, Chancengleichheit herzustellen! Denn schließlich hat uns Christus schon vor 2000 Jahren beauftragt, weltweit Mission zu betreiben. Und es liegt nur an unserer Nachlässigkeit, wenn dieser Auftrag noch immer nicht ausgeführt ist. Wer eine Benachteiligung der nichtchristlichen Völker sieht, empört sich völlig zu Recht. Aber wir haben’s auch in der Hand, etwas dagegen zu tun. Jammern wir also nicht, dass Menschen durch ihren Geburtsort ausgeschlossen bleiben, sondern ändern wir das und arbeiten wir an einer Welt, in der jeder die Chance hat, Christ zu werden. Reisen wir ruhig in der Welt herum! Staunen wir über die vielen fremden Religionen! Erkennen wir das große Privileg, dass uns der Zugang zu Christus so leicht gemacht wurde! Beklagen wir dann aber nicht einen Mangel an Chancengleichheit, sondern schaffen wir diese Chancengleichheit durch Mission, damit endlich vollendet werde, was Jesus schon vor so langer Zeit seinen Jüngern auftrug…
Bild am Seitenanfang: 'Hawaiian Mother and Child'
Charles W. Bartlett, Public domain, via Wikimedia Commons