Die Knechtschaft des menschlichen Willens
Warum ist Willensfreiheit eine Illusion?
1. Gefragt wird nicht nach „Handlungs-“ sondern nach „Willensfreiheit“
Es steht außer Frage, dass der Mensch im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten tun kann, was er tun will. Strittig ist allein, ob der menschliche Wille dergestalt über sich selbst verfügt, dass er wollen kann, was er (nach Gottes Gebot) wollen soll. Dazu müsste er nämlich „frei“ sein, nicht nur (seiner Prägung und Richtung gemäß) zwischen Handlungsalternativen zu wählen, sondern er müsste „frei“ sein, sich selbst eine neue Prägung und Richtung zu geben.
2. „Willensfreiheit“ ist philosophisch ein Ungedanke
Die Behauptung, der menschliche Wille verfüge über sich selbst, muss schon allein aus philosophischen Gründen angezweifelt werden. Denn es fragt sich ja, ob der Wille im Gebrauch seiner angeblichen „Freiheit“ von Motiven abhängig ist oder nicht. Folgt er den jeweils stärksten Motiven des Menschen (seinen Wünschen, Bedürfnissen, Ängsten und Gründen), so kann von „Freiheit“ des Willens keine Rede sein, weil dann das Kräfteverhältnis der Motive die Entscheidungen determiniert. Sollte der Wille aber in der Lage sein, unabhängig von solchen Motiven zu entscheiden, so bestünde seine „Freiheit“ lediglich in dem Vorrecht, unmotiviert und grundlos zu handeln. Im ersten Falle herrscht Zwang. Im zweiten Willkür. Was aber „Willensfreiheit“ sein soll, bleibt im Dunkeln.
3. „Willensfreiheit“ ist unvereinbar mit Gottes Vorsehung
Gott hat sich nach der Schöpfung nicht aus der Welt zurückgezogen, um sie menschlicher Willkür zu überlassen. Vielmehr ist er in Natur und Geschichte wirksam gegenwärtig, um seine Geschöpfe zu erhalten und zu regieren. In seiner Allwissenheit sieht er voraus, was sie tun werden. Und in seiner Allmacht kann er es nach Belieben verhindern oder zulassen. Es ist darum undenkbar, dass sich jemand der Vorsehung entzöge, um Gott mit unvorhergesehenen „freien“ Entscheidungen zu überraschen. Es tut zwar jeder Mensch, „was er will“. Aber die Geschichte Josephs (Gen 37 – 45) zeigt, dass der Mensch dadurch Gottes Pläne nicht etwa verwirrt und zu Fall bringt, sondern sie (wissend oder unwissend) in die Tat umsetzt.
4. „Willensfreiheit“ ist unvereinbar mit der Realität der Sünde
Wenn „Willensfreiheit“ meint, der Mensch könne sich aus eigener Kraft dem Guten oder dem Bösen zuwenden, dann kann diese Willensfreiheit Adam und Eva zugebilligt werden. Dem gefallenen Menschen muss sie aber abgesprochen werden, wenn man seine Sünde nicht relativieren und verharmlosen will: Ein Sünder, der noch genug Kraft hätte, um sich freiwillig dem Guten zuzuwenden, könnte ja nur sehr eingeschränkt als Sünder gelten. Der entscheidende Teil seiner Person – nämlich sein zum Guten freier Wille – unterläge nicht der Macht der Sünde. Und dieser unverdorbene, „bessere“ Teil des Menschen bedürfte dann auch keiner Erlösung. Christus würde nur zur Erlösung des „schlechteren“ Teils gebraucht! Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Sünde ist kein partieller, sondern ein totaler Schaden. Der Sünder ist ganz und gar der „Sünde Knecht“ – und für einen „freien Willen“ bleibt darum kein Raum.
5. Durch „Willensfreiheit“ würde der Glaube zum Werk
Wird dem Menschen hinsichtlich des Glaubens (und damit hinsichtlich des Heils) „Freiheit“ zugeschrieben, so ist der Glaube kein Geschenk Gottes mehr, sondern eine vom Menschen zu erbringende Leistung. Der Glaube wäre dann keine Folge der Erwählung, sondern eine vom Menschen zu erfüllende Bedingung der Erwählung. Der Christ würde sich durch kluge Betätigung seiner Freiheit das Heil „verdienen“. Und die Geretteten hätten sich durch die Entscheidung zum Glauben selbst zum Heil erwählt. Doch von alledem weiß die Bibel nichts: Die Vorstellung, Gott überließe es den Sündern, ob sie erwählt werden wollen oder nicht, ist ihr völlig fremd.
6. Kraft seiner „Willensfreiheit“ wäre der Sünder sein eigener Erlöser
Soll „Willensfreiheit“ bedeuten, dass das Werk Christi nur eine notwendige Bedingung des Heils ist, zu der noch der freie Willensentschluss des Mensch als zweite, ebenfalls notwendige Bedingung des Heils hinzutreten muss, so ist der Mensch letztlich sein eigener Erlöser. Er verdankt sein Heil dann zwar einerseits Christus. Er verdankt es andererseits aber auch der klugen Betätigung seiner Freiheit. Dergleichen zu behaupten, ist „Raub an der Ehre Christi“ (M. Luther), weil Christus dabei nicht mehr zugestanden wird, als nur, eine Vorlage zur Erlösung gegeben und sie ermöglicht zu haben. Dass aus der Möglichkeit Wirklichkeit wird, wäre dann nicht der Gnade Gottes zu verdanken, sondern der Entscheidung des sich selbst erlösenden Sünders.
7. „Willensfreiheit“ würde Heilsgewissheit unmöglich machen
Hätte der Sünder dank seiner „Freiheit“ das Heil seiner Seele in den eigenen zittrigen und fehlbaren Händen, so könnte er dieses Heils nie gewiss sein und wäre der verzweifelten Sorge um sich selbst nie enthoben. Die Lehre vom freien Willen zerstört darum den Trost und den Frieden, den das Evangelium den Christen schenken möchte. Luther sagt daher zu Recht:
„Wenn es irgend geschehen könnte, wollte ich nicht, dass mir der freie Wille gegeben wird, oder dass etwas in meiner Hand gelassen würde, wodurch ich mich um das Heil bemühen könnte, nicht allein deswegen, weil ich in soviel Anfechtungen und Gefahren, gegenüber soviel anstürmenden Dämonen nicht zu bestehen und jenes nicht festzuhalten vermöchte ... sondern weil ich, auch wenn keine Gefahren, keine Anfechtungen, keine Dämonen da wären, dennoch gezwungen sein würde, beständig aufs Ungewisse hin mich abzumühen und Lufthiebe zu machen; denn mein Gewissen wird, wenn ich auch ewig leben und Werke tun würde, niemals gewiss und sicher sein, wie viel es tun müsste, um Gott genug zu tun. ... Aber nun, da Gott mein Heil meinem Willen entzogen und in seinen Willen aufgenommen hat und nicht auf mein Werk oder Laufen hin, sondern aus seiner Gnade und Barmherzigkeit verheißen hat, mich zu erretten, bin ich sicher und gewiss, dass er treu ist und mir nicht lügen wird, außerdem mächtig und gewaltig ist, dass keine Dämonen und keine Widerwärtigkeiten imstande sein werden, ihn zu überwältigen oder mich ihm zu entreißen.“
8. Schlussfolgerung
Die Illusion der Freiheit taugt zu nichts, als nur dazu, das Evangelium zu verdunkeln. Ich mache mir darum die Position der Reformatoren zu eigen: Der Mensch, der unter der Herrschaft der Sünde steht, vermag nichts anderes zu wollen, als was der Sünde gemäß ist. Wie ein Wagenrad, das unaufhaltsam einen Hang hinunterrollt, ist er in der Dynamik seiner sündigen Willensbewegung gefangen und kann seinem Willen von sich aus keine andere Richtung geben. Wird der Mensch aber durch das Evangelium zum Glauben überwunden, so geschieht das „sola gratia“, ohne jeden verdienstlichen Beitrag des Menschen, allein durch das erwählende Handeln Gottes. Die Entscheidung Gottes, einen Menschen zum Heil zu erwählen, ist nicht eine notwendige Bedingung seiner Erlösung (zu der die „freie“ Entscheidung des Menschen noch hinzutreten müsste), sondern sie ist die völlig hinreichende, keiner Ergänzung bedürftige Bedingung der Erlösung (aus der Kraft des Heiligen Geistes die positive Willensbewegung und die Veränderung des Menschen resultiert). Unser Glaube ist keine Voraussetzung der Erwählung, sondern als gnädiges Geschenk Gottes ihre erste und schönste Folge!
Bild am Seitenanfang: Martin Luther, Bust in Three-Quarter View
Lucas Cranach the Elder, Public domain, via Wikimedia Commons