Christliche Freiheit
Das zentrale Stichwort in Joh 8,31-36 ist die „Freiheit“. Denn Jesus sagt: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Die Umstehenden, die Jesu Wort hören, wundern sich, weil sie eigentlich meinen, sie seien längst frei. Sie sind ja nie jemandes Knecht gewesen. Jesus aber beharrt darauf, dass sie „frei“ erst noch werden müssen, denn er sagt: „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.“ Und erst „wenn euch … der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.“ Jesus erklärt seinen Hörern also, dass sie nicht so frei sind, wie sie sich vorkommen. Er behauptet, dass echte Freiheit aus der Wahrheit kommt, die Wahrheit aber aus seinem (aus Jesu) eigenem Wort. Er beansprucht die Freiheit zu bringen, auf die es ankommt. Ob das aber die Hörer gleich verstanden haben?
Ich fürchte, es erschließt sich nicht ohne weiteres, was Jesus meint. Denn damals wie heute sind es Menschen nicht gewöhnt, den christlichen Glauben gerade mit Freiheit in Zusammenhang zu bringen. Im Gegenteil! Vielen scheint es, als bringe der Glaube vor allem Zwänge mit sich. Und wenn man fragt, wie das kommt, dann werden manchmal schlechte Erinnerungen aus der Konfirmandenzeit angeführt. In der Kirche, da musste man stillsitzen, man durfte nicht laut sein oder fluchen, man musste zuhören und die Zehn Gebote auswendig lernen, musste sich benehmen, durfte nicht lachen und nicht toben. In der Kirche lernte man, was man glauben soll, und was ein anständiger Mensch keinesfalls tun darf. Das fühlte sich nicht wie Freiheit an, sondern eher wie Enge und Strenge – bis hin zur Kleidung. Denn bei der Konfirmation musste man zum ersten Mal einen Anzug tragen. Der war eng um die Schultern, und der Hals wurde mit einer Krawatte zugeschnürt. So konnte man nicht rennen und nicht raufen, sondern war gefangen in der Zwangsjacke des guten Benehmens, das die Erwachsenen nun erwarteten. Kein Wunder also, dass viele die Kirche nicht als einen Ort der Freiheit erlebten. Vielmehr – die Freiheit, die suchte man anderswo, wenn man den engen Konfirmationsanzug endlich abgestreift hatte.
Ich erinnere mich noch ganz gut daran. Denn mein Symbol der Freiheit war damals mein Mofa. Unabhängig von den Eltern durch Feld und Wald überall hinfahren zu können, zu jeder Zeit und bei jedem Wetter – das war für mich damals große Freiheit. Und die hatte mit dem Glauben doch nichts zu tun – oder? So gesehen ist es verständlich, wenn jemand die Botschaft von Joh 8,31-36 erst einmal nicht versteht: „Wenn euch der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei“. Das leuchtet nicht gleich ein. Und es passt auch nicht zu dem, was wir uns gewöhnlich unter Freiheit vorstellen. Denn Freiheit, denkt man, das heißt doch, dass ich tun kann, was ich will! Und in welcher Weise mir Christus dabei helfen sollte, ist überhaupt nicht klar, weil für diese Art von Freiheit ganz andere Instanzen hilfreich sind. Wenn wir nicht tun können, was wir wollen, dann kann es z.B. daran liegen, dass uns Geld fehlt, um Träume zu verwirklichen. Befreiend wirkt dann ein Kredit von der Bank, oder noch besser eine Erbschaft – aber doch nicht Christus! Wenn wir nicht tun können, was wir wollen, liegt es oft daran, dass wir Verantwortung übernommen haben, z.B. für eine Familie. Und aus solcher Verantwortung befreit uns vielleicht, der Scheidungsanwalt – aber doch nicht Christus! Wenn wir in einer Diktatur lebten, wenn wir Meinungsfreiheit oder Reisefreiheit entbehrten, dann würde uns ein politischer Umsturz befreien – aber doch nicht Christus! Was soll das also bedeuten: „Wenn euch Christus frei macht, so seid ihr wirklich frei“? Geht es da um eine ganz andere Art von Freiheit, von der bisher noch gar nicht die Rede war? Tatsächlich merkt der Mensch mit zunehmendem Alter, dass Freiheit nicht einfach eine Frage der Motorisierung ist. Und irgendwann durchschauen wir auch das Klischee von Freiheit, das uns die Zigarettenwerbung präsentiert. Denn der einsame Cowboy, der sich seine Zigarette anzündet und in die Weite der Prärie hinausreitet, steht ja nur für eine Illusion von Freiheit. In Wahrheit unterliegt auch er zahlreichen Zwängen. Und eine echte Lösung hat er nicht zu bieten. Denn wer vor seiner Verantwortung immer davonreiten will, ist ja in Wirklichkeit nicht frei zu nennen, sondern eher feige. Sein Lebenskonzept mag auf den ersten Blick etwas Verlockendes haben. Denn wer sich nicht bindet, keine Verpflichtungen eingeht und so durchs Leben vagabundiert, scheint dabei jung zu bleiben. Aber am Ende überzeugt das dann doch nicht. Denn eine Freiheit, die nur im Fehlen von Bindungen besteht – wie unterscheidet die sich, von Haltlosigkeit? Eine Freiheit, die im beständigen Richtungswechsel besteht – wie unterscheidet die sich von Ziellosigkeit? Und die große Weite, die sich vor dem einsamen Cowboy ausbreitet – ist die nicht auch eine große Leere?
Eine bloß negativ bestimmte Freiheit, eine Freiheit von allen Bindungen, erweist sich als ungenügend, weil der, der sich von allem Möglichen befreit, am Ende nicht mehr weiß, wofür er eigentlich frei sein wollte. Oder ist das etwa Freiheit, wenn man zwischen 90 Fernsehkanälen wählen kann? Ist das Freiheit, wenn man jede Nacht in einem anderen Bett schläft? Ist das Freiheit, wenn keiner nach mir fragt, weil keiner mich braucht? Nein. Das ist in Wahrheit nicht Freiheit, sondern freier Fall. Denn ein Mensch, der alle Bindungen scheut, befindet sich ewig auf der Flucht – und merkt gar nicht, dass er sein Hauptproblem immer mitnimmt, das er selber ist. Er kann so weit laufen wie er will, er wird sich doch selbst nicht los – und bleibt darum in sich gefangen. Die Familie, die ihn einengt, kann er verlassen. Den Arbeitsplatz kann er kündigen. Und aus dem Land, das ihm keine Freiheit gewährt, kann er auswandern. Aber wieviel äußere Freiheit er sich damit auch verschaffen mag, so wird er doch nicht frei von der inneren Fessel, dass er der ist, der er ist. Der Cowboy aus der Zigarettenwerbung mag alles hinter sich lassen, wenn er in die Prärie reitet, sein Pferd mag noch so schnell laufen – wenn der Mann seine Fesseln im Kopf und sein Gefängnis im Herzen trägt, so nützt ihm das alles nichts. Denn er hat dann zwar Handlungsfreiheit im Sinne der äußeren Freiheit, zu tun was er will. Und er hat insofern Wahlfreiheit, als er sich, inneren Impulsen folgend, zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden kann. Aber eine Willensfreiheit in dem Sinne, dass er seinen inneren Impulsen, Ängsten und Begierden eine neue Richtung geben könnte, die hat er deswegen noch lange nicht. Er kann vor sich selbst nicht weglaufen, sondern bleibt überall ein Gefangener seiner selbst, weil er sein eigenes Wesens nicht ändern kann. Diesbezüglich kann keiner aus seiner Haut. Denn wenn das wirklich anders wäre – würden dann nicht die jähzornigen Menschen schnell beschließen, sich in friedfertige zu verwandeln? Würden die Ängstlichen nicht sehr bald durch freien Entschluss zu Mutigen werden, die Lasterhaften zu Tugendsamen und die Zweifler zu Gläubigen? Wenn’s möglich wäre, würden sie’s nur zu gern! Doch eben das ist unsere eigentliche Unfreiheit, dass wir, unter dem Macht der Sünde stehend, in uns selbst gefangen sind und uns nicht selbst zum Guten verändern können. Wir können zwar äußerlich tun, was wir wollen, aber wir bringen es nicht fertig, zu wollen, was wir wollen sollen. Wir sind wie Steine, die einen Abhang hinunterrollen und aus sich selbst heraus nie die Richtung wechseln, sondern immer nur weiter der Schwerkraft folgen. Als Sünder streben wir immer nur weiter dem Abgrund zu. Die uns innewohnende Dynamik, die unseren Willen beherrscht, führt uns immer weiter weg von Gott – direkt hinein ins Scheitern, in Schuld und Tod. Wir können nicht aus unserer Haut, sondern sind gefangen in uns selbst. Wovon redet dann aber Jesus, wenn er sagt, seine Wahrheit würde uns frei machen?
Man muss es kaum noch sagen. Denn natürlich redet Jesus genau von den inneren Fesseln, die wir gerade beschrieben haben, und redet von der inneren Freiheit, die der Mensch durch den Glauben gewinnt, sobald Gottes Geist die negative Dynamik seines Willens durchbricht und seinem Wesen eine neue, heilvolle Richtung gibt. Mit politischer oder finanzieller Freiheit hat das nichts zu tun. Mit äußerer Freiheit hat Jesus sich nicht befasst. Aber er ermöglicht uns eine viel nachhaltigere innere Freiheit, die darin besteht, ein neuer Mensch zu werden, dessen innerer Krampf sich gelöst hat, der sich Gott überlässt und darum gelassen ist, der den Willen Gottes bejahend sich selbst annehmen kann und die Angst verliert, weil er nicht mehr auf sich selbst, sondern auf Gott vertraut. Mit anderen Worten: Die Freiheit, die Christus schenkt, besteht darin, dass er uns auf eine tiefe und endgültige Weise von der Sorge um uns selbst und um das Gelingen unseres Lebens befreit.
Dadurch dass Christus für uns starb und auferstand, hat er sichergestellt, dass uns unsere Schwäche nicht zum Verhängnis wird. Er steht für uns ein und bindet uns durch den Glauben fest an seine Person. Eben diese Bindung aber, macht unsere Freiheit aus. Denn durch Christus sind wir aus der unheilvollen Dynamik der abwärts rollenden Steine gelöst. Der große Richtungswechsel, der aus uns nicht kommen konnte, ist von Christus gekommen. Und damit sind wir aus dem Schneider, die Kuh ist vom Eis und der Zwang durchbrochen. Denn nun haben wir die Gewissheit, um Christi willen begnadigt und vollendet zu werden. Da fällt eine tonnenschwere Last von uns – und erst das, macht uns wirklich so „frei“, wie wir es anders nicht hätten werden können. Denn solange wir selbst für das Gelingen unseres Lebens zu sorgen versuchten, war uns nicht zu helfen. Es gelingt dem Menschen nicht, sein eigener Erlöser zu sein. Er ist damit völlig überfordert. Und wenn er nicht weiß, an wen er diese Aufgabe abgeben könnte, ist er in einer schrecklichen Lage. Er kennt sein Ungenügen und kann doch nicht davor weglaufen. Er wird sich selbst nicht los und ist sich doch selbst das größte Problem. Er kann dieses Problem nicht selbst lösen – und doch muss ihn der Gedanke, es könnte ungelöst bleiben, in Panik versetzen. Eben das macht seine große Unfreiheit aus, dass er nicht leisten kann, was er leisten müsste. Er will um keinen Preis scheitern und versucht verzweifelt, aus dem Gefängnis auszubrechen, das er selber ist. Er will unbedingt etwas aus sich machen und will für sich selbst gerade stehen, macht es in Wahrheit aber nur schlimmer damit.
Der Christ hingegen hat das zentrale Lebensproblem des Scheiterns und des Gelingens in Christi Hände abgegeben, hat damit auch die Angst und die Sorge mit abgegeben – und erfreut sich der inneren Freiheit, sich nun selbst in seinen Beschränkungen und Bindungen annehmen und bejahen zu können. Viele alltägliche Probleme, bleiben dem Christen erhalten. Doch das Grundproblem seines Lebens hat Christus für ihn gelöst. Und wenn es für den Christen auch noch genug zu tun gibt, so kann und muss er doch für das Heil seiner Seele nichts mehr tun. Da ist er gänzlich frei – und aller Beklemmung enthoben. Denn er muss niemandem mehr etwas beweisen, und muss auch vor den eigenen Dummheiten nicht mehr bange sein, weil ihm das, was Christus ihm schenkt, niemand mehr nehmen kann. Die Wechselfälle des Lebens können ihn nicht trennen von der Liebe Gottes! Und in dieser Weise, nicht von allen, aber von den letzten und tiefsten Sorgen frei zu sein – das gibt dem Christen ein fröhlich–freches Selbstbewusstsein und macht ihn wirklich „frei“ gegenüber aller Welt. Ist Christus sein Herr, so haben andere „Herren“ nur noch sehr begrenzte Macht über ihn. Alles was er braucht, kann Christus ihm gegeben. Und alles, was die Welt ihm nimmt, kann Christus zurück erstatten. So ist der Christ von der Sorge um sich selbst befreit, weil Christus für ihn gesorgt hat. Er ist von dem Fluch befreit, ungenügend zu sein, weil Christus in ihm ist, der allem genügt. Und das ist die schönste Freiheit, die man sich denken kann. Denn erst „wenn uns der Sohn frei macht, so sind wir wirklich frei“…
Bild am Seitenanfang:
Jan Hus, illustration from Bohemia's claim for freedom
Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons