Gottesfurcht
Warum hat das nichts mit Angst zu tun?
Kennen sie George Fox? Nein? George Fox lebte im 17. Jahrhundert in England. Und er war ein religiöser Sonderling, der sich viel Ärger einhandelte, weil er immer und überall seinen großen schwarzen Hut aufbehielt. Man bedenke: England im 17. Jahrhundert! Das war eine Zeit, in der die gesellschaftlichen Schichten noch sehr streng unterschieden wurden. Da war es selbstverständlich, dass der einfache Mann den Hut zog, das Knie beugte und den Kopf neigte, wenn er einem Adeligen, einem Vertreter der Obrigkeit oder einem Geistlichen begegnete. Doch George Fox tat das nicht. Die Etikette verlangte auch, dass man die „Herrschaften“ mit ihren korrekten Titeln anredete. George Fox aber sagte zu allen einfach „Du“. Er verneigte sich vor niemandem und nahm auch vor niemandem seinen Hut ab.
Warum aber tat er das? War es einfach schlechte Erziehung, Unkenntnis oder Respektlosigkeit? Nein: Es war der Glaube, der George Fox trieb, gegen die gesellschaftlichen Konventionen zu verstoßen. Denn zum Gebet nahm George Fox seinen Hut ab! Es war für ihn selbstverständlich, vor Gott das Haupt zu neigen und das Knie zu beugen. Es war ein natürlicher Ausdruck seines Glaubens, Gott durch solche Gesten Ehre zu erweisen. Warum aber sollte er dasselbe auch vor Menschen tun, die doch Seinesgleichen waren? Fox bezweifelte nicht, dass man Ehre geben muss, wem Ehre gebührt. Wem aber gebührt Ehre, außer Gott allein? Wer außer Gott wäre „gut“ zu nennen? Wer außer Gott ist „Herr“? Keiner. Und darum zog George Fox auch vor keinem den Hut – außer vor Gott.
Vielleicht lächeln wir heute über diesen Mann. Denn die gesellschaftlichen Konventionen, über die er sich hinwegsetzte, gelten längst nicht mehr. Was Umgangsformen betrifft, gibt man sich heute betont „locker“. Doch damals spürten die Menschen, dass der starrsinnige und fromme Mann viel mehr in Frage stellte, als bloße „Äußerlichkeiten“. Die „Lords“, denen er die Ehrerbietung verweigerte, empörten sich so sehr, dass sie ihn mehrfach prügeln, peitschen und einsperren ließen. Man hielt George Fox zeitweise sogar für geisteskrank. Doch der rebellische Prophet hielt an dem fest, was er als Glaubenswahrheit erkannt hatte: Dass nämlich alle Menschen gleicher Würde sind, und dass sie – statt einander Ehre zu erweisen und voneinander Ehrerweisungen zu empfangen – lieber Gott die Ehre geben sollten. Wer schließlich dürfte sich rühmen und sich erhaben fühlen? Wer hätte etwas vorzuweisen, das er nicht von Gott empfangen hat? Welcher Mensch wäre ohne Schuld, so dass er auf andere herabschauen dürfte? Keiner. Alle Menschen sind Sünder. Alle sind gleichermaßen der Gnade bedürftig. Und darum sollten sie auch nicht voreinander die Knie beugen, sondern sie miteinander beugen vor ihrem Schöpfer.
Das Problem mit dem Hut ist inzwischen Vergangenheit. Es betrifft uns nicht mehr. Und doch hat das, was George Fox tat, bleibende Bedeutung. Denn im Starrsinn dieses Mannes manifestiert sich etwas, das wesentlich zum Glauben dazugehört – und das seine Aktualität auch niemals verliert: Der Glaube lässt nämlich Gott Gott sein. Und indem er das tut, beschränkt er den Menschen darauf, Mensch zu sein. Der Glaube relativiert damit alle zwischenmenschlichen Hierarchien. Er unterscheidet strikt zwischen Göttlichem und Irdischem. Und er duldet keinesfalls, dass Irdisches in göttlichen Rang erhoben wird. Der Glaube widerspricht, wenn Geschaffenes übermäßige Verehrung empfängt oder mit dem Nimbus des „Ewigen“ und „Letztgültigen“ umgeben wird. Und wo Menschen oder Dinge über die Maßen geschätzt oder gefürchtet werden, da übt der Glaube scharfe Kritik. Denn er akzeptiert nichts Geschöpfliches in göttlichem Rang: Keine Nation, keine Rasse, keine Ideologie und keine Person. Der Glaube entzaubert die Welt, und wo um irgendwen oder irgendwas ein „Kult“ entsteht, da erhebt er Protest. Denn wenn ein Mensch beansprucht, für andere „letzte Instanz“ oder „oberste Autorität“ zu sein, dann will er einen Platz einnehmen, der nur Gott zusteht. Solche Anmaßung kann nicht geduldet werden. Es ist in Wahrheit nur einer, dem der Mensch „unbedingten Gehorsam“ schuldet. Es ist nur einer, zu dem wir aufschauen müssen. Das ist Gott selbst. Und wo der Glaube es nicht mit Gott zu tun hat, da behält er (innerlich) den Hut auf. Denn alles, was nicht Gott ist, ist zu Gottes Dienst bestimmt, und sollte darum, statt für sich selbst Ehre einzufordern, lieber Gott die Ehre geben.
Man könnte nun meinen, das alles sei in demokratischen Gesellschaften selbstverständlich. Doch ich fürchte, die Geisteshaltung, mit der George Fox zu kämpfen hatte, ist keineswegs ausgestorben. Auch heute fühlen sich Menschen über andere erhaben. Auch heute gibt es die Hochmütigen und Mächtigen, die von anderen einen (inneren) Kniefall erwarten. Auch heute gieren Menschen nach Ehre und Bewunderung. Und oft genug verlangen sie von anderen Signale der Unterwürfigkeit. Man denke nur einmal an das Verhältnis, das mancher Erfolgstrainer zu jungen Nachwuchssportlern hat. Oder man betrachte die Beziehung zwischen Professoren und studentischen Hilfskräften. Wie gehen Firmenchefs mit kleinen Angestellten um? Wie reden Bankdirektoren mit Kreditnehmern? Was spielt sich tagtäglich zwischen Ärzten und Patienten ab? Werden da nicht Abhängigkeitsverhältnisse missbraucht, um Menschen zu demütigen? Ja, seit dem 17. Jahrhundert hat sich da gar nicht so viel verändert. Und darum verdienen die Überheblichen auch heute noch die Antwort, die George Fox ihnen gegeben hat: Die Schönen wollen bewundert werden, und die Brutalen wollen gefürchtet werden. Doch der Glaube behält den Hut auf. Die Mächtigen fordern Gehorsam und die Erfolgreichen fordern Anerkennung. Doch der Glaube behält den Hut auf. Zu den „Stars“ soll man aufschauen und den „Experten“ soll man blind vertrauen. Doch der Glaube behält den Hut auf. Die Reichen wollen mit ihrem Reichtum glänzen, die Künstler mit ihrer Kunst, und die Weisen mit ihrer Weisheit. Aber der Glaube behält den Hut auf.
Wohlgemerkt: Es liegt dem Glauben fern, die Unterschiede zwischen den Menschen zu leugnen. Er respektiert durchaus Begabungen und Ämter, Leistungen und Ordnungen. Der Glaube freut sich an dem, was der andere ist und hat und kann. Doch sieht er in den Vorzügen des anderen (wie in seinen eigenen!) Leihgaben Gottes. Und der Glanz, auf den mancher so stolz ist, ist für den Glauben immer nur ein Abglanz göttlicher Herrlichkeit. Warum also sollte er sich vor denen, die Gott beschenkt hat, allzutief verneigen? Das Lob gebührt doch nicht dem Bild, sondern dem Maler! Nicht der Topf ist zu ehren, sondern der Töpfer! Darum bewundert ein Christ auch weniger das Geschöpf als den Schöpfer. Das hindert ihn natürlich nicht, jedem Menschen freundlich und zuvorkommend zu begegnen. Christlicher Glaube hat nichts gemein mit der Frechheit derer, die alles herabwürdigen, was ihr eigenes Maß überschreitet! Aber mit Unterwürfigkeit, Kriecherei oder Hörigkeit verträgt er sich auch nicht. Außer beim Beten behält er den Hut auf – und beherzigt dadurch einen Ratschlag, der altbacken klingen mag, der aber der Sache nach keineswegs veraltet ist: „Fürchte Gott – und scheue niemand!“
Bild am Seitenanfang: George Fox portrait
Thomas Fairland, Public domain, via Wikimedia Commons