Geist und Fleisch
Es gibt einen biblischen Satz, den wir alle kennen, weil er oft mit einem Augenzwinkern (oder auch mit einem Seufzen) zitiert wird. Er lautet: „Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach“ (Mt 26,41). Spontan versteht jeder, was gemeint ist. Denn es geht um den inneren Zwiespalt, der uns immer dann quält, wenn das Gute mühsam erscheint, das Böse aber verlockend und angenehm. Da wohnen dann zwei Herzen in unsrer Brust. Denn der Geist will tun, was geboten ist, gerecht und anständig – wir wären ja gerne „gut“. Unser Fleisch hat aber ganz eigene Bedürfnisse und ist darauf aus, sie zu befriedigen, ob es nun „böse“ wäre oder nicht. Und schon tun wir leiblich, was wir geistlich und nach besserer Einsicht gar nicht tun wollen – und ärgern uns darüber. Denn wenn das Fleisch nicht so diszipliniert ist, wie der Geist sich das wünschte, geraten wir mit uns selbst in Widerspruch. Und von der eigenen Moral enttäuscht stellen wir fest, dass wir aller guten Absicht zum Trotz immernoch einige triebgesteuerte und undisziplinierte Anteile in uns tragen. Wir reden zwar gern von hohe Idealen. Doch unser Handeln zeugt oft von niederen Beweggründen. Und dieser Widerspruch ist peinlich. Denn während wir meinen, das Gute klar zu erkennen, giert doch ein Teil von uns nach verbotenen Früchten. Und umgekehrt, wenn wir leiden müssen, mag der Geist zwar willig sein. Aber unser Leib hat trotzdem Angst und windet sich ganz erbärmlich wie ein Frettchen in der Falle. Nur Helden und Heilige scheinen „drüber“ zu stehen. Der Normalmensch aber fühlt sich umso schlechter. Er sucht nach einer Erklärung. Und er findet sie gewöhnlich in der Zweiteilung des Menschen in einen „höheren“ geistigen und einen „niederen“ fleischlichen Teil. Denn – wo sitzen die schwachen Anteile der Person, die dem willigen Geist so oft in die Quere kommen? Stolpern wir nicht vorwiegend über Bedürfnisse, die im Leib verankert sind, wie bei den Tieren auch? Sind es nicht Instinkte und Strebungen des Körpers, die unsre schöne Moral über den Haufen werfen, während der Kopf doch im Allgemeinen vernünftig ist und nach Idealem strebt? Die Erklärung ist gängig. Und so sieht man die obere Hälfte des Menschen im Streit mit der unteren. Man sieht den verständige Intellekt im Konflikt mit den törichten Emotionen des Herzens, mit dem maßlosen Hunger des Bauchs und den triebhaften Regungen des Unterleibs. Körper und Geist werden sich nicht einig. Und der Körper soll dran schuld sein. Denn man nimmt sich zwar vor, mit dem Rauchen aufzuhören – schafft es aber nicht. Man will im Streit mutig sein – und läuft doch feige davon. Man schwört Treue – und geht doch wieder fremd. Man will den Zorn beherrschen – und schlägt doch wieder zu. Man hat die guten Absichten eines Heiligen. Dennoch siegt der innere Schweinehund. Und die Erklärung soll darin liegen, dass wir an einen Körper gebunden sind, der sich von dem des Tieres wenig unterscheidet und von Instinkten gesteuert wird, die wir nicht kontrollieren. Was will man auch erwarten, heißt es dann, es steht doch schon in der Bibel: „Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach“.
Nur, etwas stimmt nicht an diesem Denkmodell. Und als Christen sollten wir‘s uns nicht gleich zu Eigen machen. Denn wenn Gott uns mit diesem Leib geschaffen hat – was ist dann verkehrt an seinen Bedürfnissen? Und warum sollte uns Gott die Schwächen des Fleisches vorwerfen, wenn er uns selbst dran gebunden hat? Hängt uns der Schöpfer etwa einen Klotz ans Bein und wundert sich dann, wenn wir humpeln? Wäre das nicht widersinnig, wenn der gute Gott mit der leiblichen Seite des Menschen etwas geschaffen hätte, das durch seine Schwäche allem Guten im Wege steht? Das machte doch wenig Sinn! Und so entdeckt man beim näheren Hinsehen, dass die geläufige Zweiteilung des Menschen in einen angeblich „höheren“ geistigen und einen „niederen“ leiblichen Teil der Bibel fremd ist. Denn diese Unterteilung stammt keineswegs aus dem christlich-jüdischen, sondern aus dem griechischen Denken. Und wir merken es nur darum nicht, weil die nicht-christlichen Denker dieselben Begriffe benutzten wie die Bibel, um damit aber etwas anderes zu sagen. Heidnische Philosophen meinten wirklich, des Menschen Verstand sei edel, sein Körper aber schlecht, der Geist sei gut, der Leib aber zu verachten, der Mensch sei der Seele nach göttlicher Geist, der immer nach oben strebt, er sei aber gefangen in der düsteren Materie seines Leibes, die ihn nach unten zieht – das Gute säße demnach im Kopf, und das Böse unter der Gürtellinie. Doch genau so ist es im Neuen Testament nicht gemeint. Und das Christentum ist in diesem Sinne auch nicht „leibfeindlich“. Denn dass Gott uns mit einem Leib ausgestattet hat, können wir weder für einen Irrtum halten noch für eine Gemeinheit. Der Leib ist kein Gefängnis der Seele, wie jene Philosophen dachten. Er ist ein Teil von Gottes guter Schöpfung. Und nach biblischer Lehre werden wir darum auch nicht „aus“ unsrem Leib oder gar „von“ ihm erlöst, sondern werden zusammen „mit“ unsrem Leib in die Herrlichkeit versetzt. Der menschliche Körper mit seinen vielen Bedürfnissen, Gelüsten, Ängsten und Schwächen ist keineswegs der Ursprung des Bösen, sondern ist ebenso gut geschaffen wie der menschliche Intellekt. Der Intellekt ist ihm aber nicht überlegen, sondern ist genauso leicht zu korrumpieren wie der Leib auch. Wenn das Neue Testament dann aber trotzdem „Geist“ und „Fleisch“ einander entgegensetzt, dann ist damit keine horizontale Trennung gemeint, sondern eine vertikale, weil unter dem „fleischlichen Leben“ ein Zustand zu verstehen ist, in dem sich der ganze Mensch (mit Geist und Fleisch) am Irdischen orientiert und auf Irdisches aus ist, während unter „geistlichem Leben“ ein Zustand zu verstehen ist, in dem sich der ganze Mensch (mit Geist und Fleisch) an Gott orientiert und auf Gott aus ist.
Das klingt erst mal verwirrend. Man versteht es aber, wenn man auf die konkreten Sünden schaut. Denn im Neuen Testament werden unter den „Werken des Fleisches“ viele Laster aufgeführt, die weniger dem Leib als dem Geist zuzuschreiben sind (Gal 5,19-21). Beim übermäßigen Essen und Trinken, bei Ehebruch und Unzucht vermuten wir die Ursache im Leib. Aber was ist mit Götzendienst, Zank und Zorn, Ruhmsucht, Stolz und Geiz, Verleumdung und Lüge? Sind die nicht eher „mentalen“ Ursprungs? Diese Laster müsste man eher als „Sünden des Geistes“ bezeichnen! Und trotzdem rechnet sie das Neue Testament mit zum „fleischlichen Leben“, weil der biblische Sprachgebrauch so ist, wie oben dargestellt. „Fleischlich“ wird nicht nur der Leib genannt, sondern auch der Verstand, wenn er sich zu sehr am Irdischen orientiert. Und selbst die Korinther, die darin wetteiferten, wer von ihnen wohl „geistlicher“ sei als die anderen, waren in diesem Streben, einander zu überbieten, „fleischlich“ gesinnt (1. Kor 3,3)! Der Mensch lebt also nicht darum „fleischlich“, weil er „im Fleisch“ ist und einen Leib hat. Das wirft ihm keiner vor – das hat ja Gott selbst so geregelt. Sondern der Mensch lebt „fleischlich“ und „gemäß dem Fleisch“, wenn das Irdische sein Denken beherrscht und weltliche Ziele sein Handeln steuern. Dann gibt er seine Glieder nicht hin zum Dienst der Gerechtigkeit, sondern zum Dienst der Ungerechtigkeit (Röm 6,19). Und so ist jenes „Fleisch“, das gegen den „Geist“ aufbegehrt, nicht etwa ein niederer Teil des Menschen, sondern es ist „das Menschsein selbst, sofern es sich gegen Gottes Möglichkeiten auf seine eigenen stellt“ (H. Seebaß). „Fleischlich“ ist nicht allein der primitive Mensch, der „triebgesteuert“ oder „viehisch“ lebt, sondern genauso der kultiviert lebende Bildungsbürger, wenn er aus der Welt und für die Welt zu leben versucht. „Fleischlich“ ist nicht bloß der sittlich verwahrloste, moralisch verkommene Mensch, sondern genauso der vornehme, sittenstrenge und religiöse, wenn er statt von Gottes Kraft und Güte von seiner eigener Kraft und Güte leben will, sich selbst rechtfertigt und sich selbst freispricht. Denn auch wenn der seinen Leib diszipliniert, ist das nicht Gehorsam gegen Gott, sondern bloß gegen den eigenen Willen. Auch bei großer Selbstkontrolle und Beherrschung bleibt das ein „fleischliches“ Leben! Umgekehrt heißt aber „geistlich“ und „dem Geist gemäß“ leben, nicht etwa bedürfnislos zu sein, sondern mitsamt seinen Bedürfnissen von Gott her und auf Gott hin zu leben. Denn „dem Geist gemäß“ wandelt, wer im Irdischen existiert, ohne sich ins Irdische zu verstricken. „Geistlich lebt“, wer den Leib pflegt, ohne von seinen Regungen gesteuert zu werden, wer alles Vergängliche nur als Mittel ansieht, das Ewige aber als Ziel. So ist unser Fleisch keineswegs „ein Erdenrest, zu tragen peinlich“ (Goethe). Und die Vernunft, auf die wir uns so viel einbilden, ist durchaus nicht edler oder sittsamer als der Bauch und die Füße. Denn wenn das Fleisch an sich schon „sündig“ wäre, wie wäre dann zu erklären, dass Gott es geschaffen hat? Und wie wäre zu erklären, dass er nicht davor zurückschreckte, selbst „Fleisch“ zu werden (Joh 1,14)? Die Menschwerdung Jesu beweist, dass ein Leben in irdischer Leiblichkeit nicht schon automatisch sündig ist. Denn Jesus besaß genauso Fleisch und Blut wie wir, ohne dass dies seine Gemeinschaft mit Gott beeinträchtigt hätte. Und so ist nicht das Fleisch an sich verkehrt, sondern (genau wie der menschliche Geist) ist es nur dann verkehrt, wenn wir‘s vom Schöpfer lösen, von ihm wegwenden und anderen Mächten unterwerfen. Was folgt also? Als Christen schämen wir uns nicht des Leibes, den Gott uns gegeben hat. Durch Taufe und Abendmahl ist ja auch dieser Leib des Heils teilhaftig und in das Heil einbezogen. Und wir schämen uns auch nicht seiner Bedürfnisse und seiner Schwächen, die uns versuchlich machen. Denn Versuchung zu empfinden, ist noch keine Schande. Auch Jesus hat sie empfunden, hatte Hunger und Durst und wurde geängstigt! Allein das aber ist Schande, wenn wir einwilligen, der Versuchung nachzugeben. Dass wir „im Fleische“ leben, wirft uns niemand vor, denn das hat Gott selbst so gefügt. Und den Nöten des Fleisches abzuhelfen, indem wir den Leib ernähren und pflegen, hat Gott sogar geboten. Darum schlafen wir, lachen, atmen, trinken und heiraten, um jeglichen Hunger auf anständige Weise zu stillen. Dort aber, wo das nicht ohne Sünde geschehen kann, dort müssen wir Gott mehr gehorchen als dem eigenen Fleisch. Da leidet dann besser das Fleisch an unerfüllten Wünschen, als dass unsre Seele Schaden nimmt. Und nichts anderes meint Paulus, wenn er davon spricht, wir sollten unser Fleisch mit seinen Begierden „kreuzigen“ (Gal 5,24). Dass wir dem Irdischen verhaftet sind, soll uns nicht zum Verderben gereichen (Mt 5,29-30). Doch heißt das keineswegs, gegen den eigenen Körper Krieg zu führen (das haben Mönche und Nonnen leider oft missverstanden), sondern es heißt nur, die eigenen Leidenschaften Ängste und Begierden dem Gehorsam gegen Gottes Geist zu unterwerfen. Es heißt bloß, dass wir „im Fleische lebend“ dem Fleisch nicht schuldig sind, „fleischlich“ zu leben (Röm 8,12). Geboten ist uns das aber auf fürsorgliche Weise und im eigenen Interesse, damit wir dem Irdischen nicht verfallen, sondern Freiheit gewinnen für etwas Besseres. Denn als Menschen sind wir zu Höherem berufen als das liebe Vieh – und sollen das nicht verleugnen. Das Vieh ist viehisch, und niemand wird’s ihm verdenken. Der Löwe will fressen, der Hirsch will sich paaren, das Schwein suhlt sich im Dreck. Der Mensch aber ist geschaffen, um höhere Dinge zu lieben. Seine Berufung ist weit edler. Denn er ist zum Ebenbild Gottes geschaffen. Er soll der Dialogpartner des Höchsten sein! Und so ist es schändlich, wenn er über die Lebensform der tierischen Verwandtschaft nicht hinauskommt. Er hängt dann gierig an dem Irdischen, das seiner Liebe und seiner Hingabe nicht wert ist. Er stellt damit Gottes Absicht auf den Kopf. Und insofern er mit Geist und Leib auf das Falsche aus ist, muss er scheitern – und verdient es auch. Denn „fleischlich gesinnt sein“ ist Feindschaft gegen Gott. Und die führt folgerichtig zum Tod, weil Gott das zweckentfremdete Leben zu Recht beendet (Röm 8,6-7). Der Mensch zeigt ein selbstschädigendes Verhalten, weil „fleischlich“ zu sein dasselbe meint wie „sündigen“. Es ist der Wahn, das Leben dort zu suchen, wo es nicht ist. Nämlich im Vergänglichen. Und statt des Lebens, findet der Mensch im Vergänglichen den Tod. So wird er ganz zutreffend „fleischlich“ genannt, wenn er das Irdische liebt und ihn das Fleisch beherrscht. Und er wird „geistlich“ genannt, wenn er Gott liebt und Gottes Geist ihn beherrscht. Das, was der Mensch liebt, dem gibt er sich hin. Und weil er sich hingibt, folgt er dem Geliebten auch nach und teilt sein Schicksal, so dass der eine mit dem Vergänglichen vergeht, und der andere mit dem Ewigen verewigt wird. Wer auf das Fleisch aus ist, gewinnt nichts als Fleisch. Wer aber auf Gott setzt, gewinnt Gott. Davon hat er langfristig viel mehr. Und darum ist es einfach ein guter Rat, dass wir uns nicht mit weniger bescheiden sollten.
Bild am Seitenanfang: The Temptation of Saint Anthony
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